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Predigten zu Psalm 69,23

"Laß dunkel werden ihre Augen, dass sie nicht sehen; und laß beständig wanken ihre Lenden!"

Autor: Adolf Schlatter (* 16.08.1852; † 19.05.1938) schweizer evangelischer Theologe und Professor fürs Neues Testament
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Soll ich auch so beten? Das ist eine kindische Frage. Ich leide kein Unrecht und habe keine Feinde. Wo sich in meinen Verhältnissen Schwierigkeiten zeigen, entstehen sie nicht nur durch die anderen, sondern auch durch mich. Wie wäre es aber dann, wenn ich einmal ernsthaft Unrecht litte, oder wenn ich sehe, dass andere um Gottes willen gequält und verfolgt werden, soll ich dann so beten, wie der Psalmist es hier tut? Bittet für die, die euch verfolgen, sagt mir Jesus, und wenn ich das kann, so entsteht aus dem Gebet des Psalmisten daraus keine Einrede. Dann gilt auch hier: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde; ich aber sage euch. Warum soll ich nun aber das in der Bibel lesen? Wie kann mich ein solches Wort stärken? Wäre mir der Psalter wirklich eine größere Hilfe, wenn er nur Gebete wie Psalm 23 oder 91 enthielte? Wenn ich mir vorstellen müsste, bei all dem Schweren, das die Alten litten, durch die Bedrückung des Volkes von außen und durch die Zerrüttung der Gemeinde im Inneren, sei keine Klage zu Gott emporgestiegen und nie seine rächende Gerechtigkeit angerufen worden, sie hätten in jeder Lage nur gebetet: Der Herr ist mein Hirte; es mangelt mir nichts? Dann wäre der Psalter nicht mehr wahr, nicht mehr ein menschliches Gebet. Beten soll der Mensch, freilich so, dass er im Gebet die Einigung mit Gottes Willen sucht, doch so, dass er, der Mensch, sie sucht. Und wenn sein Gebet wahrhaftig ist und nicht nur eine eingeübte Formel und angelegte Tracht, dann kommt unvermeidlich in seinem Gebet die heiße Klage ans Licht, sowie die Bosheit der anderen in sein Leben verwüstend eingreift. Kann ich nicht neutestamentlich beten, so bleibt es doch unbedingt nötig, dass ich bete. Besser ist es, ich bete einen Rachepsalm, als ich trage einen gottlosen Hass in mir. Wenn ich meine Empörung über das Unecht, das geschieht, zur Bitte mache und in den Ruf nach Gottes Gerechtigkeit verwandle, so bin ich keine Gefahr für den Frieden. Im öffentlichen Leben der Völker wie im privaten Verkehr der Einzelnen sind nicht die die Zerstörer des Friedens, die beten, sondern die Gottlosen und Atheisten, die für ihr Handeln keine Regeln kennen als ihren Eigennutz.

Auch unser Gebet, Vater, bedarf Deiner Vergebung; denn es offenbart sich in ihm unsere menschliche Art. Deine Gerechtigkeit und was wir Gerechtigkeit heißen, ist weit voneinander getrennt. Du hast uns aber in Deiner väterlichen Güte gewährt, dass wir vor Dir reden dürfen ohne Angst und Zwang, und legst in unser Beten Deinen Segen. Amen.