Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 134 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Wallfahrtslied. Wir sind nun bei dem Schluss dieser an Umfang geringen, aber an Inhalt reichen Sammlung angelangt. Die Festpilger ziehen heimwärts und singen das letzte Lied in ihrem kleinen Festpsalter. Sie brechen früh am Morgen auf, noch ehe der Tag ganz angebrochen ist, denn viele von ihnen haben eine lange Reise vor sich. Noch zögert die Nacht zu weichen, da sind sie schon in Bewegung. Sobald sie außerhalb der Tore sind, sehen sie die Wächter auf den Tempelmauern, und aus den das Heiligtum umgebenden Kammern blinkt ihnen der Schein der Lampen entgegen; dieser Anblick bewegt sie, den Dienern des HERRN, die allezeit in dem Heiligtum ihres heiligen Dienstes warten, einen Abschiedsgruß zuzurufen, der sie ermahnt, in ihrem seligen Dienst treu auszuharren. Der aus treuer Liebe zum HERRN hervorgehende mahnende Scheidegruß der Pilger bewegt die Priester dazu, diesen noch einen Segen aus dem Heiligtum mit auf den Weg zu geben. Dieser Segensspruch ist in dem dritten Vers enthalten. Die Priester sagen gleichsam: Ihr habt uns aufgefordert, den HERRN lobpreisend zu segnen, und nun bitten wir den HERRN, euch zu segnen.
Der Psalm lehrt uns, für diejenigen zu beten, welche beständig dem HERRN Dienst tun, und er ladet alle Diener des HERRN ein, über die liebend und betend ihrer gedenkende Gemeinde den Segen des HERRN zu verkünden.


Auslegung

1. Siehe, lobet den HERRN, alle Knechte des HERRN,
die ihr stehet des Nachts im Hause des HERRN!
2. Hebet eure Hände auf im Heiligtum
und lobet den HERRN.
3. Der HERR segne dich aus Zion,
der Himmel und Erde gemacht hat!


1. Siehe. Mit diesem Rufe suchen die Pilger die Aufmerksamkeit der im Heiligtum Dienenden wachzurufen. Da sie selber nun heimkehren müssen, feuern sie die heilige Brüderschaft an, die dazu berufen ist, im Hause des HERRN Wache zu halten und sich dem Dienst des HERRN hinzugeben. Mögen sie um sich blicken an der heiligen Stätte und überall Beweggründe finden, den HERRN zu loben. Mögen sie in den stillen Nächten über sich blicken und den preisen, der Himmel und Erde gemacht und jenen mit dem Glanz der Sterne, diese mit den Strahlen seiner Liebe erhellt hat. Mögen sie darauf Acht haben, dass ihre Hallelujahs nie ein Ende nehmen. Ihre scheidenden Brüder fachen ihren Eifer an mit dem hell durch die Nacht dringenden Rufe: Siehe! Sehet wohl zu, haltet treue Wacht, richtet euer Amt wohl aus und preiset ohne Aufhören anbetend Jehovahs Namen.
  Lobet (wörtl.: benedeiet, segnet) den HERRN. Denket wohl von Jehovah und redet wohl von ihm. Betet ihn an mit Ehrfurcht, naht zu ihm mit Liebe, freut euch in ihm mit Frohlocken. Seid nicht damit zufrieden, ihn so zu loben, wie es alle seine Werke tun, sondern lobt ihn als seine Heiligen (Ps. 145,10). Das Wort segnen ist (nach dem Grundtext) das Stichwort des vorliegenden Psalms. Die beiden ersten Vers rufen uns auf, Jehovah zu segnen, und in dem letzten Vers wird Jehovahs Segen über sein Volk herabgerufen. O dass unser Leben in diesem zwiefachen Sinn des Segens voll sei, dass gesegnet sein und segnen (benedeien) die beiden Worte seien, die unser Leben kennzeichnen! Mögen andere ihren Mitmenschen schmeicheln oder ihren Glücksstern preisen oder sich selber rühmen, wir wollen Jehovah lobpreisen, von dem aller Segen niederströmt. Alle Knechte des HERRN. Es ist ja euer vornehmstes Amt, den HERRN zu preisen; seht zu, dass ihr darin allen andern vorangeht. Knechte sollen von ihrem Herrn Gutes reden. Nicht ein Einziger von euch sollte ihm wie aus Zwang dienen, sondern ihr solltet alle ihn segnen, während ihr ihm dient; ja, preist ihn dafür, dass er euch erlaubt, ihm zu dienen, dass er euch tüchtig macht, ihm zu dienen, und dass er eure Dienste annimmt. Ein Diener des Höchsten zu sein ist eine unermessliche Ehre, ein Segen, der über alle Berechnung erhaben ist. Und ein Diener in seinem Tempel sein zu dürfen, zu seinem Hausgesinde zu gehören, das ist eine noch größere Wonne und Würde. Wenn diejenigen, die stets um den HERRN sein dürfen und in seinem Tempel wohnen, den HERRN nicht preisen, wer wird es dann tun? Die ihr stehet des Nachts im Hause des HERRN. Wir können es wohl verstehen, dass die Festbesucher in ihrer Liebe zum HERRN jene Auserwählten halb beneideten, die immerdar, Tag und Nacht, im Tempel weilen, das Heiligtum hüten und den erforderlichen Dienstleistungen auch selbst in den Nachtstunden nachgehen konnten. Zu der feierlichen Stille der Nacht kam die Ehrfurcht gebietende Herrlichkeit des Ortes, wo Jehovah befohlen hatte, dass seine Verehrung stattfinden sollte. Ja, das waren gesegnete Leute, die Priester und Leviten, die zu einem so erhabenen Dienst geweiht waren. Dass diese Bevorzugten den HERRN während ihres nächtlichen Wachdienstes immerdar loben sollten, war höchst geziemend; das Volk will, dass sie des eingedenk seien und nie ihre Pflicht versäumen. Sie sollten nicht wie Maschinen ihr Geschäft verrichten, sondern in jede ihrer Amtsverrichtungen ihr ganzes Herz hineinlegen und in all ihrem Werke Gott im Geiste anbeten. Es war ja gut, dass sie wachten, aber besser noch ist’s, zu wachen im Gebet und mit Danksagung und Lobpreis (Kol. 4,2).
  Wenn sich über eine Gemeinde des HERRN die Nacht lagert, hat der HERR auch seine Wächter, seine Heiligen, die seine Wahrheit noch hüten; und diese dürfen sich nicht entmutigen lassen, sondern sollen den HERRN loben, auch wenn die dunkelsten Stunden herannahen. Mögen wir es uns angelegen sein lassen, sie darin zu ermuntern, und ihnen die heilige Pflicht in Erinnerung rufen, den HERRN allezeit zu preisen und sein Lob immerdar in ihrem Munde sein zu lassen (Ps. 34,1).

2. Hebet eure Hände auf im Heiligtum. An der heiligen Stätte geziemt es sich für sie, emsig, ganz wach, voller Kraft und Energie, von heiligem Eifer bewegt alles zu tun, was ihres Amtes ist. Hände, Herz und ihr ganzes Wesen sollen erhoben und der Anbetung Gottes geweiht sein. Wie die Engel im Himmel Gott preisen - wir können nicht sagen: Tag und Nacht, denn dort oben gibt’s keine Nacht -, wie sie Gott allezeit ohne Unterbrechung preisen, so sollen auch die Engel der Gemeinen anhalten in der Zeit und außer der Zeit (2. Tim. 4,2). Man übersetzt jetzt allgemein: zum Heiligtum. Nach dem Allerheiligsten hin, wo der HERR seinen Thron hat, sollen die zum Dienst vor dem HERRN Bereitstehenden mit Gebet und Flehen ihre Hände erheben. Und lobet (benedeiet, segnet) den Herrn. Das ist ihr Hauptgeschäft. Sie sind dazu berufen, ihren Brüdern zu dienen, indem sie sie die Zeugnisse des HERRN lehren, aber das andere geht dem doch vor, dass sie dem HERRN dienen, indem sie ihn anbeten. Man sieht die öffentlichen Gottesdienste viel zu oft nur von der Seite ihrer Nützlichkeit für die Menschen an; der andere Zweck derselben ist jedoch von noch höherer Wichtigkeit: es ist unsere Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass der HERR angebetet, gepriesen und ihm Ehrfurcht erwiesen werde. Zum zweiten Mal gebraucht der Psalmist hier das Wort segnen, und zwar in Bezug auf Jehovah. Lobe du, meine Seele, den HERRN, und möge jede lebendige Seele ihn preisen. Alle Schläfrigkeit wird sogar aus der mitternächtlichen Andacht weichen müssen, wenn unsere Herzen sich fest darauf richten, Gott in Christo Jesu zu preisen.

3. Dieser Vers ist die Antwort, die vom Tempel her den Festpilgern zugerufen wird, die in der Morgenfrühe zur Heimreise aufbrechen. Es ist der alte hohepriesterliche Segen, kurz zusammengefasst und jedem einzelnen Pilger zugewandt. Der HERR segne dich aus Zion, der Himmel und Erde gemacht hat. Ihr geht nun auseinander, ein jeglicher in sein Haus; möge der Segen auf jeden Einzelnen von euch kommen. Ihr seid auf Jehovahs Einladung und Geheiß zu seiner Stadt und seinem Tempel gekommen; möge jeder von euch nun heimkehren mit einem solchen Segen, wie nur er ihn zu geben vermag - mit göttlichem, unendlichem, wirksamem, ewigem Segen. Ihr geht nicht aus dem Bereich der Werke des HERRN und seiner Herrlichkeit, denn er hat den Himmel gemacht, der sich über euch wölbt, und die Erde, darauf ihr wohnt. Er ist euer Schöpfer, und er kann euch segnen mit Gnadenerweisen ohne Zahl; er kann Freude und Friede in euren Herzen schaffen und sogar einen neuen Himmel und eine neue Erde für euch bereiten. Möge er, der Schöpfer aller Dinge, euch mit Segen aller Art überschütten.
  Die Segnung kommt aus der Stadt des großen Königs, von seinen von ihm erwählten Dienern, in der Kraft seines Bundes; darum heißt es, sie komme aus Zion. Noch bis zum heutigen Tage segnet der HERR jedes der Seinen durch seine Gemeinde, sein Evangelium und die Verordnungen, die in seinem Hause verwaltet werden. In der Gemeinschaft mit den Heiligen empfangen wir unzählbare Segnungen. Möge ein jeglicher von uns noch mehr von diesem Segen erlangen, der allein vom HERRN kommt. Zion kann uns nicht segnen; auch die frömmsten Diener des HERRN vermögen uns nur Segen zu wünschen; Jehovah aber kann und will jeden Einzelnen der Seinen, die auf ihn harren, segnen. Möge es uns also geschehen zu dieser Stunde. Verlangen wir danach? Dann lasst uns selber den HERRN segnen und es immer wieder tun; dann mögen wir zuversichtlich darauf hoffen, dass wir, wenn wir zum dritten Mal ans Segnen denken, uns als Empfänger des Segens von dem Hochgelobten fühlen werden. Amen!


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Dieser Psalm besteht aus einem Zuruf, V. 1-2, und der Erwiderung darauf. Der Zuruf ergeht an diejenigen Priester und Leviten, welche die Nachtwache im Tempel haben, oder nach der noch ansprechenderen Ansicht Prof. Felix Bovets, die ich jetzt wahrscheinlicher finde, an die Priester und Leviten, welche die Nacht über im Tempel verbleiben. "Alle ihr Knechte Jahves" lautet zu allgemein für die Tempelwache; man würde dann "ihr Wächter" erwarten. Doch müssen wir nicht an eigentlichen nächtlichen Gottesdienst im Tempel denken, denn davon weiß Gesetz und Herkommen Israels nichts. Bovet nennt den Psalm Psaume des adieux, bestehend aus dem Abschiedsgruß der heimkehrenden Festgäste und dem Gegenruf der Begrüßten. Jedenfalls ist diese Antiphone (Wechselgesang) absichtlich an das Ende der Stufenliedersammlung gestellt, um da die Stelle einer abschließenden Beracha (Doxologie, Lobpreisung) zu vertreten. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 1. Siehe. Beachten wir die Absicht des Psalmisten bei diesem energischen Aufruf an die Diener des HERRN, Jehovah zu preisen. Bei der Neigung, die in allen Menschen vorhanden ist, von den Zeremonien einen falschen Gebrauch zu machen, meinten gewiss viele der Leviten, es sei nichts anderes nötig, als müßig im Tempel zu stehen, und übersahen so den wichtigsten Teil ihrer Pflicht. Der Psalmist wollte ihnen zeigen, dass es von keinem Wert sei, nur die Nachtwache über den Tempel zu halten, die Lampen anzuzünden und die Opfer zuzurüsten, wenn sie nicht dabei Gott im Geiste dienten und alle äußeren Zeremonien auf das bezogen, was als das hauptsächlichste Opfer betrachtet werden muss, nämlich das Lob Gottes. Es ist, als sagte er: Ihr mögt es für einen sehr mühsamen Dienst halten, im Tempel auf Wache zu stehen, während andere daheim schlafen; aber der heilige Dienst, welchen Gott verlangt, ist etwas Besseres als das und erfordert von euch, dass ihr sein Lob singet vor allem Volk. Jean Calvin † 1564.
Die den Nachtdienst ausübenden Priester waren der Gefahr ausgesetzt, einzuschlafen oder sich müßiger Träumerei, eitlen, törichten Gedanken oder unnützem Geschwätz hinzugeben. O wieviel Zeit wird mit solchen Träumereien verschwendet, indem man die Gedanken planlos umherschweifen und immer weiter wandern lässt! Darum ruft der Psalm die Priester auf, ihres hohen Berufes eingedenk zu sein. Ist es eure Pflicht, die Nacht wachend zuzubringen, o dann verbringt die Nacht doch in Anbetung! Lasst die Zeit des Wachens nicht eine müßige, verlorene Zeit sein, sondern wenn andere schlafen und ihr von Amtswegen wachen müsst, so pfleget den Lobpreis des Hauses Gottes. Sehet zu, dass in Zion Gott gepriesen werde, bei Nacht so gut wie am Tage! Erhebet eure Hände zum Heiligtum und lobet den HERRN! Samuel Martin † 1878.
Die Anrede "die ihr steht im Hause Jahves" zeigt, dass mit den Dienern Jahves nicht die Israeliten insgesamt gemeint sind, sondern die Priester und Leviten, für deren amtliches Fungieren der Abdruck "stehen vor dem HERRN" der terminus technicus (der gebräuchliche Ausdruck) ist, vergl. 5. Mose 10,8; Hebr. 10,11. Prof. Friedrich Baethgen 1904.
Die Rabbinen sagen, nur der Hohepriester habe im Heiligtum sitzen dürfen, wie wir es von Eli lesen (1. Samuel 1,9). Die andern Priester standen, als allezeit zu hurtigem Dienst bereit. John Trapp † 1669.
Sehet zu, dass die Gewohnheit, da ihr so oft in Gottes Gegenwart stehet, euch nicht zur Geringschätzung verleite, sondern erkennet allezeit Jehovahs Majestät und preiset ihn in Ehrfurcht. John Mayer 1653.
Des Nachts im Hause des HERRN. Die Priester und Leviten hatten nicht nur bei Tage im Tempel Dienst, sondern auch bei Nacht. Versetzen wir uns in die Ruhe und Feierlichkeit einer Nacht im Hause des HERRN (im zweiten Tempel zur Zeit des Herrn Jesu). Die letzten Klänge der Tempelmusik von dem Gottesdienst des Abendopfers sind verklungen, und die Beter entfernen sich langsam, etliche noch zögernd in stillem Gebet. Schon schwindet der kurze morgenländische Tag im Westen dahin. Fern über den Bergen von Mizpe und Gibeon sinkt die Sonne ins Meer. Die neue Abteilung von Priestern und Leviten, welche die Gottesdienste des morgenden Tages leiten sollen, kommt vom Ophel herauf unter der Führung der Häupter ihrer Vaterhäuser, ihrer Ältesten. Jene hingegen, welche an dem abgelaufenen Tage amtiert haben, schicken sich an, durch eine andere Pforte den Tempelplatz zu verlassen. Sie haben ihre Priestergewänder in der dafür bestimmten Kammer niedergelegt und ihre bürgerliche Kleidung angezogen. An den Sabbaten wenigstens grüßten die Gehenden und Kommenden einander mit dem schönen Gruße: "Er, der gemacht hat, dass sein Name in diesem Hause wohnt, gebe, dass Liebe, Brüderlichkeit, Friede und Freundschaft unter euch wohnen." Dann wurden die gewaltigen Tempeltore geschlossen, wozu es bei einzelnen der vereinten Kraft von zwanzig Mann bedurfte. Die Schlüssel wurden unter einer Marmorplatte in der sogenannten Feuerkammer, die auch die Hauptwachstube der Priester war, aufgehängt. Nun, da die Sterne hell am morgenländischen Himmel strahlen, sammeln sich die Priester zur Unterhaltung und zu der Abendmahlzeit, wozu Stücke der Opfer und Erstlingsfrüchte dienen. Daneben ist, wiewohl das Werk des Tages im Ganzen vorüber ist, doch noch mancherlei von Priestern und Leviten zu besorgen, z. B. sind die Rechnungen über die eingegangenen Zehnten u. dergl. abzuschließen.
Bereits sind die Nachtwachen im Tempel aufgestellt. Bei Tag und Nacht war es die Pflicht der Leviten, unter der Führung von Priestern, an den Toren Wache zu halten und soweit immer möglich zu verhindern, dass irgendein gesetzlich Unreiner den Tempelplatz betrete. (Weiteres über die Nachtwache siehe in den Erläuterungen zu Ps. 130,6, S. 159.) Ihnen war auch die Ausübung der Tempelpolizei anvertraut unter dem Befehl des Hauptmanns des Tempels. Während der Nacht machte dieser seine Runden. Bei seinem Nahen hatten die Wachen sich zu stellen und ihn in eigentümlicher Weise zu grüßen. Wehe dem Wächter, der schlafend erfunden ward! Er wurde gezüchtigt, oder es wurden ihm gar die Kleider in Brand gesteckt (vergl. Off. 16,15). Doch konnte die Neigung zum Einschlafen nicht groß sein, auch wenn die bei den Umständen natürliche tiefe Bewegung des Gemütes es zugelassen hätte. Der Vorsteher der Klasse und die Häupter der Familien ruhten allerdings auf Polstern in demjenigen Teil der Feuerkammer, der über dem äußeren Vorhof erbaut war, also außerhalb des Priestervorhofes lag und in welchem daher das Sitzen gestattet war (denn innerhalb des Priestervorhofs war es niemand außer dem König erlaubt, sich niederzusetzen), und die bejahrteren Priester durften sich dort auch etwa auf den Boden, ihre Priesterkleider neben sich zusammenraffend, niederlegen, während die jüngeren Priester Wache hielten. Aber die Vorbereitungen für den Morgengottesdienst erheischten es, dass ein jeder früh bei der Hand sei. Der betreffende Priester, dem die Leitung der Vorbereitungen oblag, konnte jeden Augenblick an die Tür klopfen und Einlass begehren. Er kam plötzlich, unerwartet, niemand wusste, wann. "Manchmal kam er", sagen die Rabbinen (vergl. Mk. 13,35), "beim Hahnenschrei, manchmal früher, manchmal etwas später. Er kam und klopfte, und sie taten ihm auf. Dann sprach er zu ihnen: Alle, die ihr gewaschen seid, kommt und werfet das Los." Das vorgeschriebene Bad musste also genommen sein, ehe der vorstehende Priester die Runde machte, da es Grundsatz war, dass niemand den Priestervorhof betreten durfte, um zu dienen, auch wenn er rein war, wenn er nicht gebadet hatte. Ein unterirdischer beleuchteter Gang führte zu den gut eingerichteten Baderäumen, wo die Priester sich untertauchten. Danach brauchten sie (außer in einem Falle) den ganzen Tag nicht mehr zu baden, sondern nur die Hände und Füße zu waschen (vergl. Joh. 13,10); dies allerdings jedes Mal, mochte es auch noch so oft sein, wenn sie zum Dienst den inneren Tempelplatz betraten.
Diejenigen, welche bereit waren, folgten nun dem die Oberaussicht führenden Priester durch ein Gitter in den Priestervorhof. Hier teilten sie sich in zwei Abteilungen, deren jede eine Fackel trug, außer am Sabbat, wo der Tempel selbst beleuchtet war. Der eine Zug ging östlich, der andere westlich; nach vollzogenem prüfendem Rundgang trafen sie an der Bäckerkammer wieder zusammen und berichteten: Alles in Ordnung! Darauf machten sich diejenigen, welche das tägliche Speisopfer des Hohenpriesters zu bereiten hatten, in der genannten Bäckerkammer an die Arbeit, die Priester aber gingen in die (aus geglätteten Steinen erbaute) Quaderkammer, um die Dienstleistungen des Tages auszulosen. Viermal wurde das Los, zu verschiedenen Zeiten, geworfen. Die Priester standen dabei im Kreise um den Vorsteher, der für einen Augenblick die Mütze eines aus der Zahl aushob, um anzuzeigen, dass er bei ihm mit dem Zählen beginnen werde. Dann hielten alle, da Personen zu zählen in Israel nicht für erlaubt gehalten wurde, einen, zwei oder mehr Finger in die Höhe, während der Priester eine beliebige Zahl, sagen wir 70, nannte, und nun die Finger zählte, bis jene Zahl erreicht war, was kundtat, dass das Los auf den betreffenden Priester gefallen war. Das erste Los betraf das Reinigen und Zurüsten des Altars, das zweite bezeichnete denjenigen, der (mit 12 der ihm zunächst stehenden Priester) das Opferlamm zu opfern und den Leuchter sowie den Räucheraltar im Heiligen zu reinigen hatte. Das dritte Los war das wichtigste; es bestimmte, wer das Räucheropfer darzubringen hatte. Womöglich sollte dieser höchste Priesterdienst keinem zufallen, der schon einmal in dieser Eigenschaft amtiert hatte. Er wählte sich aus seinen Freunden zwei Gehilfen; bei dem Anzünden des Weihrauchs war er jedoch allein im Heiligen. Das vierte Los bestimmte diejenigen, welche die Stücke des Brandopfers auf dem Altar zu verbrennen und die Schlusshandlungen des Gottesdienstes zu vollbringen hatten. Die für den Morgengottesdienst gefallenen Lose waren auch für den Abendgottesdienst gültig mit Ausnahme des dritten; das Los für das Anzünden des Weihrauchs wurde frisch geworfen.
Wenn die Priester zu der Auslosung des ersten Loses in der Quaderhalle versammelt waren, beleuchtete erst der erste rötliche Schimmer der Morgendämmerung den östlichen Himmel. Noch viel war zu vollbringen, bis das Lamm geschlachtet werden konnte. Dieses musste geschehen, wenn das Morgenlicht den ganzen Himmel bis gen Hebron hin erleuchtet hatte, aber noch ehe die Sonne tatsächlich am Horizonte aufgegangen war. Dann kamen die Beter durch die wieder geöffneten Tore, und der Tag im Tempel begann mit seinen Opfern und gottesdienstlichen Feiern. - Nach Alfred Edersheim 1874.
Das irdische Heiligtum sollte eine gewisse Ähnlichkeit haben mit dem oberen, wo, wie Johannes uns sagt, die Erlösten, die ihre Kleider gewaschen haben im Blut des Lammes, vor dem Stuhl Gottes sind und Gott dienen Tag und Nacht in seinem Tempel (Off. 7,15). Man vergleiche, was 1. Chr. 9,33 (Grundtext) von den Familienhäuptern der levitischen Sänger zu lesen ist, dass sie, die von allem andern Dienst befreit waren, doch in den Kammern am Tempel wohnten, und zwar, weil sie Tag und Nacht in ihrem Geschäft, ihren Amtsverrichtungen, zu tun hatten. (Da von einem eigentlichen nächtlichen Gottesdienst nichts bekannt ist, fasst man dies "Tag und Nacht" in der Cbronikastelle allerdings meist im Sinne von "von früh bis spät".) Nach Bischof G. Horne † 1792.


V. 2. Das Aufheben der Hände zum Himmel (2. Mose 9,29; 1. Könige 8,22) oder gegen das Heiligtum (hier) ist Gebärde des Betens; es deutet die Bereitschaft und das Verlangen und Erwarten an, Segnungen vom HERRN zu empfangen. S. E. Pierce † 1829.
Im Heiligtum. Luther sagt: "Ich wollte es gerne verdolmetschen: Hebet eure Hände rein und heilig auf, aber es ist wider die Grammatik." Auch bei etlichen neueren Auslegern, z. B. Bovet, finden wir diese Deutung "in Heiligkeit", vergl. 1. Tim. 2,8, nach Delitzsch auch schon im Targum, das es auf die gewaschenen Hände bezieht. Aber der Akkusativ ist ohne Zweifel Akkusativ der Richtung: nach dem Heiligtum hin. Vergl. Ps. 28,2; 5,8; 138,2. - J. M.


V. 3. Er sagt nicht: Der HERR, der Himmel und Erde gemacht hat, segne dich aus dem Himmel, sondern: aus Zion, als wollte er uns damit lehren, dass alle Segnungen, die ja allerdings ihren Ursprung im Himmel haben, doch mittelbar von Zion kommen, wo der Tempel stand. Dort war die Stätte, wo der HERR sich in Israel sonderlich offenbarte. Auch heute noch ist die Gemeinde des HERRN die Stätte, wo sich uns viele Segnungen von oben vermitteln. - Nach Abraham Wright † 1690.
Der priesterliche Segen in diesem Vers stellt uns Gott in zwiefacher Eigenschaft vor Augen, als den Schöpfer des Weltalls und als den Gott des Heils, der in Zion wohnt. Betrachte ich ihn als den Schöpfer Himmels und der Erde, so treten mir überschwänglich reiche Beweise vor Augen, dass er mich segnen kann; betrachte ich ihn als den Gott der Gnade, der in seiner Gemeinde wohnt, so werde ich überzeugt davon, dass er mich segnen will. Beides ist für unseren Glauben wesentlich. N. Mac Michael 1860.
Segne dich. Die Einzahl steht, weil die Worte aus der von dem Hohenpriester gebrauchten Segensformel 4. Mose 6,24 entlehnt sind. J. J. St. Perowne 1868.
Der Segen ergeht an die Gemeinde wie eine Person und an jeden Einzelnen in dieser einheitlichen Gemeinde. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


Homiletische Winke

V. 1-3. I. Wir sollen Gott segnen (benedeien), V. 1.2. 1) Wie? Durch Dankbarkeit, Liebe, Gehorsam, Gebet und Lobpreis. 2) Wo? Im Hause des HERRN. 3) Wann? Nicht nur bei Tage, auch bei Nacht. Vergl. Hanna Lk. 2,37. Hat unser Herr und Heiland ganze Nächte verbracht im Gebet für die Seinen, so sollten wir es auch nicht für zu viel halten, bei besonderen Anlässen ganze Nächte mit seinem Preis zuzubringen. Die Abendgottesdienste sollten am Tag des HERRN und auch an Wochenabenden nicht vernachlässigt werden. II. Gott will uns segnen, V. 3. 1) Wen? Dich, d. i. einen jeden, der ihn preist. 2) Unter welcher Bedingung? In der Erfüllung unserer religiösen Pflichten, nicht bei Vernachlässigung derselben (Zion). 3) Wie? Er selber will es tun. Wen er segnet, der ist gesegnet. George Rogers 1885.
1) Der HERR selbst ist die Quelle des Segens. 2) Himmel und Erde sind der augenscheinliche Beweis, dass der HERR zu segnen imstande ist. 3) Zion, die Gemeinde des HERRN, ist das Mittel des Segens, der Kanal, durch welchen der Segen den einzelnen Gliedern des Gottesvolkes zuströmt. 4) Die Gläubigen sind wiederum das Mittel, durch welches der Segen sich weiterverbreitet, durch den Geist des Segens, der auf ihnen ruht. 5) Die Fülle, die in der göttlichen Segnung enthalten ist. Samuel Martin † 1878.1) Ein eigenartiger Gottesdienst: der Wächter im Heiligtum. 2) Die erhabene Umgebung: die Schauer des Heiligtums. 3) Heiliges Aufheben der Hände, Herzen und Augen. 4) Der Lobpreis in der Finsternis, gehört hoch droben im Licht. 5) Die Antwort von der Höhe überm Sternenzelt: Der HERR, der Himmel und Erde gemacht, segne dich. William Bickle Haynes 1885.
V. 1. 1) Nacht lagert sich über das Heiligtum - dunkle Zeiten der Kirchengeschichte. 2) Aber Gott hat seine Wächter: Wycliffe und andere, die auf die Reformation harrten; die "Waldenser" oder altevangelischen Gemeinden usw. Auch in den dunkelsten Nächten hat Gott immer solche gehabt, die ihn priesen und ihm dienten. 3) Sei es Nacht oder Tag, mögen diejenigen, welche "vor dem HERRN stehen", ihres Dienstes warten. William Bickle Haynes 1885.
Unser Text fordert die Diener des HERRN auf: 1) In ihrem Dienst andächtig und fröhlich zu sein. Singt bei eurer Arbeit, auch wenn es dunkel ist um euch her! 2) Mit Eifer jede besondere Zeit des Dienstes anzuwenden. Des Nachts, wie bei Tage, lobet den HERRN! 3) Sorgfältig alles zu vermeiden, was sie in der rechten Hingebung und Munterkeit bei ihrem Dienste hindern könnte. William Bickle Haynes 1885.Richtlinien für die Gottesdienste. 1) Gottes Dienst sollte mit Pflichttreue geschehen: Siehe. 2) Mit dankbarer Freude: Lobet den HERRN. 3) Einmütig: Alle. 4) Mit heiliger Ehrfurcht, als von Knechten des HERRN. 5) Mit nimmer ermüdender Beharrlichkeit: Die ihr stehet des Nachts usw. Die Wächter des Hauses des HERRN in den Nächten. Wie wichtig sie sind; das Dunkel, in dem sie verborgen sind ("obskure Leute"); die Gefahr, dass sie einschlummern; ihr Trost; ihre Würde; ihr Lohn.
V. 3. Der Segen des HERRN. 1) Des Schöpfers: freigebig, allezeit neu, mannigfaltig, ohne Grenzen, ewig - in allen diesen Beziehungen abgebildet an der Schöpfung Himmels und der Erde. 2) Des Erlösers: Segnungen, die wir aufs höchste benötigen, reiche, wirksame, bleibende Segnungen - alle darin abgebildet und dadurch verbürgt, dass er, der HERR, unter den Menschenkindern Wohnung genommen, sich eine Gemeinde erworben, einen Tempel bereitet, seine Herrlichkeit geoffenbart hat und auf dem Thron der Gnade herrscht.