Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 28 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Die Überschrift nennt wiederum nur den Verfasser: (Ein Psalm) Davids. Einige Ausleger setzen diesen Psalm, wie die beiden vorhergehenden, mit denen er in manchen Stücken verwandt ist, in die Zeit, als der König von Absalom bedrängt war. Auch dieses Lied ist einer jener "Lobgesänge in der Nacht" (Hiob 35,10), deren dem David so viele vom Herrn gegeben wurden. Der Dorn an der Brust der Nachtigall, sagten die Alten, mache sie singen. Seine Kümmernisse waren es, was David so beredt machte in heiligen Psalmgesängen. Die Hauptbitte dieses Psalms ist, dass Gott den Flehenden nicht mit den Übeltätern, vor denen dieser den größten Abscheu ausdruckt, zusammenwerfen und ihnen gleich behandeln möge. Der Psalm ist von großem Wert für solche Gotteskinder, die gleich David von den Menschen nicht verstanden und falsch beurteilt werden und denen es darum ein desto ernsteres Anliegen ist, vor Gottes Urteil zu bestehen. Wir mögen auch in diesem Psalm über David hinaus auf Jesus blicken und in mancher Bitte die Stimme unseres Stellvertreters hören, der die Not seines Volkes auf sein Herz genommen hat.

Einteilung. In den ersten beiden Versen bittet David in einer Zeit höchster Not dringend um Gehör bei Gott. V. 3-5 beschreibt er das Los der Gottlosen und bittet, dass Gott ihm nicht solch ein Teil geben möge. In V. 6-8 bringt er dem Herrn für die gnädige Erhörung des Gebets den Dank dar und der Schluss des Psalms ist eine allgemeine Fürbitte für die ganze streitende Gemeinde Gottes auf Erden.


Auslegung

1. Wenn ich rufe zu dir, Herr,
mein Hort, so schweige mir nicht,
auf dass nicht, wo du schweigest,
ich gleich werde denen, die in die Grube fahren.
2. Höre die Stimme meines Flehens, wenn ich zu dir schreie,
wenn ich meine Hände aushebe zu deinem heiligen Tor.


1. Zu dir, Herr, rufe ich. (Wörtl.) Unser Rufen muss sich an den Herrn wenden; denn in tiefer Not Menschen um Hilfe anzurufen, hieße die Kraft der Stimme vergeuden. Da könnten wir ebenso gut in den leeren Luftraum hineinrufen. Wenn wir bedenken, wie bereitwillig der Herr ist, zu hören, und wie allvermögend, zu helfen, so werden wir erkennen, wie vernünftig es ist, uns mit allen unseren Anliegen rasch und unmittelbar an den Gott unsers Heils zu wenden und das mit so fester Entschlossenheit der Zuversicht, wie wir sie hier bei David wahrnehmen. Zu dir, Herr, rufe ich und will ich rufen; denn du allein bist meine Zuflucht. Mein Hort. Jahwe, der ewig Unveränderliche, ist unser Hort, die unbewegliche Grundlage all unserer Hoffnungen und unsere Zuflucht in der Zeit der Not. Es wird vergeblich sein, am Tage des Gerichts die Felsen anzurufen (Lk. 23,30; Off. 6,16); aber unser Fels hört auf unser Rufen. Schweige mir nicht, buchstäblich: schweige nicht von mir weg, d. h.: wende dich nicht schweigend von mir weg. Menschen, die nur gewohnheitsmäßig das tun, was sie beten nennen, mögen zufrieden sein, ohne dass auf ihr Gebet eine Antwort kommt. Wirklichen Betern ist das nicht möglich. Ihnen genügt auch nicht, dass durch das Gebet ihr Gemüt sich beruhigt und ihr Wille sich Gott unterworfen hat; sie begehren mehr, sie wollen eine Antwort vom Himmel erlangen und ehe ihnen diese nicht zuteil geworden ist, finden sie keine Ruhe. Und sie sehnen diese Antwort herbei, sie möchten sie, wenn möglich, sofort erhalten; selbst ein kurzes Schweigen Gottes ist ihnen schrecklich. Gottes Stimme ist oft so furchtbar, dass sie die Wüste erzittern lässt (Ps. 29,8); doch sein Schweigen ist dem ernstlich Flehenden gleich entsetzlich. Wenn Gott sein Ohr zu verschließen scheint, so sollen wir deshalb doch unseren Mund nicht schließen, vielmehr desto ernstlicher rufen. Denn wenn unsere Stimme vor eifrigem Verlangen und bitterem Schmerz laut und durchdringend wird, dann kann Gott uns nicht lange die Erhörung versagen. In welch schrecklicher Lage würden wir sein, wenn der Herr sich für immer schweigend von uns abwendete! Dieser Gedanke ergriff auch David; aber er wandte ihn alsbald in seinem Flehen an, um Gott zu desto schnellerem Einschreiten zu bewegen, und er gibt uns damit wiederum ein Beispiel, wie wir im Gebet mit Gott ringen sollen und dürfen. Auf dass nicht, wo du schweigest (wörtlicher: wo du dich stumm von mir abkehrst), ich gleich werde denen, die in die Grube fahren. Hätten wir keinen Gott mehr, der Gebet erhört, so wäre unsere Lage bemitleidenswerter als die der Toten in der Gruft und wir würden bald in jene Tiefe der Hoffnungslosigkeit hinabsinken, worin sich die Verdammten in der Hölle befinden. Wir müssen Antwort haben auf unser Gebet: Unsre Not ist dringend, sie leidet keinen Aufschub. Der Herr wird gewiss unserem aufs Höchste erregten Gemüt Frieden zusprechen; sein Herz kann es ja nimmer zulassen, dass einer seiner Auserwählten verderbe.

2. Dieser Vers setzt das Flehen des ersten fort: Höre die Stimme meines Flehens! Das ist’s, was der Psalmist in diesen beiden Versen immer wieder bittet. Treibt uns der Geist des Gebets, so können wir uns nicht abweisen lassen; wir beten inbrünstiger, zudringlicher und ringen im Gebet, bis uns Gehör gegeben wird. Das hier im Grundtext für Flehen gebrauchte Wort bedeutet seinem Ursprung nach das Flehen um Erbarmen. Solches Flehen darf ungestüm werden, darf laut gen Himmel dringen, wie es hier heißt: Höre die Stimme meines Flehens, d. h. meines Flehens Ruf, und weiter: da ich zu dir schreie.
  Doch gilt es vor allem, dass unser Flehen eine dem äußeren Ohr nicht vernehmbare innerliche Stimme habe, die von Herzen kommt und zu Gottes Herzen dringt; und geistlichen Menschen ist es darum viel mehr zu tun, als um die sinnlich wahrnehmbaren Äußerungen ihres Flehens. Ein stilles Gebet kann eine lautere Stimme haben, als die gellenden Rufe der Baalspriester, die mit ihrem Lärmen und Schreien ihren Gott aufzuwecken suchten. Wenn (oder da) ich meine Hände aufhebe zu deinem heiligen Chor. Unter dem Chor (wörtlich: Hinterraum) ist das Allerheiligste zu verstehen, wo Gott thronte. Nur mit dem Blut des großen Sühnopfers, das ein Vorbild des einen ewig gültigen Opfers unseres Mittlers war, durfte das Allerheiligste vom Hohenpriester einmal im Jahr betreten werden. Dorthin, zu dem blutbesprengten Gnadenstuhl, richteten die Israeliten ihre Gebete; und wollen wir bei Gott Annahme finden, so müssen auch wir uns an den Gnadenstuhl wenden. Das Aufheben der Hände ist eine uralte Gebärde des Flehens (siehe z. B. Ps. 63,5; 141,2; 1. Tim. 2,8) und bezeichnet das Verlangen der Seele nach Gott und die Begierde und Bereitschaft, die erbetenen Gaben von Gott in Empfang zu nehmen. Wir strecken unsere leeren Hände aus, denn wir sind Bettler; wir heben sie empor, denn unsre Hilfe kommt von oben; wir heben sie auf zum Gnadenstuhl im Allerheiligsten, denn die vollbrachte Sühne allein gibt uns Hoffnung auf gnädige Erhörung. O dass unsere frommen Gebärden stets der wahre Ausdruck unserer Herzensgesinnung wären!


3. Raffe mich nicht hin mit den Gottlosen und unter den Übeltätern,
die freundlich reden mit ihrem Nächsten
und haben Böses im Herzen.
4. Gib ihnen nach ihrer Tat und nach ihrem bösen Wesen;
gib ihnen nach den Werken ihrer Hände;
vergelt ihnen, was sie verdienet haben.
5. Denn sie wollen nicht achten auf das Tun des Herrn,
noch auf die Werke seiner Hände;
darum wird er sie zerbrechen und nicht aufbauen.


3. Raffe mich nicht hin mit den Gottlosen. Das Los dieser ist, ins Verderben, ja zur Hölle hingerafft zu werden, wie die Verbrecher in alter Zeit auf einem Karren zur Richtstätte geschleppt wurden, oder wie das Wild vom Jäger in dem Netz, darin es sich gefangen hat, zur Schlachtbank gezogen wird (10,9) oder wie man Holz zum Feuer schleppt. David fürchtet, er könnte auch zum dürren Holz gerechnet, mit ins Reisigbündel gebunden und dem brennenden Ofen überliefert werden; und solche Furcht mag uns recht heilsam sein, denn sie wird uns hindern, uns in irgendeinem Stück mit den Bösen einzulassen. Die besten unter den Gottlosen sind gefährliche Gesellschaft in der Zeit und würden schreckliche Gefährten sein für die Ewigkeit. Wir müssen uns von ihren Vergnügungen fernhalten, wenn wir nicht einst an ihrem Elend teilhaben wollen. Und unter den Übeltätern. Das sind die offenbaren Sünder, die ohne Scheu das Böse tun und deren Verdammnis gewiss ist. Herr, gib uns nicht den für sie gefüllten Kelch zu trinken! Als Übeltäter werden sie bezeichnet: Die Emsigkeit und Tatkraft, die wir bei den Gottlosen finden, wäre einer bessern Sache wert. Ach, dass wir so geschäftig wären in des Herrn Dienst, wie sie, um Böses auszuführen! Die freundlich reden mit ihrem Nächsten und haben Böses im Herzen. Sie haben sich die Sitten des Ortes angeeignet, nach dem sie gehen. Das Schicksal der Lügner ist ihr Teil auf ewig und Lügen ist ihre Unterhaltung auf dem Wege. Glatte Worte, gesalbt mit dem Öl heuchlerischer Liebe, sind die trügerischen Maschen des höllischen Netzes, womit der Satan seine kostbare Beute fängt; und nicht wenige seiner Kinder sind in diesem seinem abscheulichen Gewerbe wohlgeübt und fischen mit dem Netz ihres Vaters so geschickt, dass er es selber kaum besser machen könnte. Es ist ein untrügliches Kennzeichen von Gemeinheit, wenn Zunge und Herz nicht zusammenklingen. Hinterlistige Menschen sind mehr zu fürchten, als die wilden Tiere. Es wäre besser, mit Schlangen in einem Loch verschlossen zu sein, als genötigt zu sein, mit Lügnern zusammenzuleben. Wer zu laut Friede, Friede1 ruft, ist schnell bereit, ihn zu verkaufen, wenn er seinen Preis dafür bekommen kann. Wer guten Wein zu verkaufen hat, braucht ihn nicht ausschreien zu lassen. Wäre jener Mann wirklich so friedlich gesinnt, so hätte er nicht nötig, davon so viel Wesens zu machen. Er hat Unheil im Sinn, verlass dich darauf!

4. Gib ihnen nach ihrem Tun und nach der Bosheit ihrer Taten: Nach dem Werk ihrer Hände gib ihnen, vergilt ihnen, was sie verdient haben. (Wörtl.) Wenn wir die Gottlosen nur als solche und nicht als unsre Mitmenschen betrachten, so treibt uns unsere Entrüstung gegen die Sünde dazu, den Erweisungen der göttlichen Gerechtigkeit, welche das Böse heimsucht, völlig beizupflichten und zu wünschen, dass die Gerechtigkeit ihre volle Macht offenbare, damit durch ihre Schrecken alle Ungerechten und alle Verfolger der Frommen im Zaum gehalten würden. Dennoch sind die Wünsche, welche unser Vers ausspricht, mit dem Geist des neuen Bundes, der die Besserung und nicht das Verderben des Sünders will, nicht wohl verträglich, es sei denn, dass wir die Worte, wenn auch nicht der Form, so doch dem Inhalt nach, prophetisch fassen. Denn prophetisch sind sie und werden schrecklich in Erfüllung gehen. Und was wird dann dein Los sein, unbekehrter Leser, wenn der Herr dir vergelten wird, was du verdient hast, und dir seinen Zorn zuteilen wird nicht nur nach dem, was du tatsächlich getan hast, sondern nach dem, was du getan haben würdest, wenn du es gekonnt hättest! Denn der Herzenskündiger richtet nach dem Bösen, das du im Sinn gehabt hast (V. 3 c). Nicht immer in diesem Leben, aber sicherlich in dem zukünftigen (vergl. Mt. 13,30), wird der Herr seinen Feinden ins Angesicht vergelten und ihnen den Lohn ihrer Sünden auszahlen. Nicht nach ihren schmeichlerischen Worten, sondern nach dem Maß ihrer heillosen Taten wird der Herr denen, die nichts von ihm wissen wollen, die Rache ausmessen.

5. Denn sie wollen nicht achten auf das Tun des Herrn, noch auf die Werke seiner Hände. Gott wirkt im Reich der Schöpfung, - die Natur strotzt von Erweisen seiner Güte, Weisheit und Macht; dennoch behaupten die Gottesleugner in ihrer Kurzsichtigkeit, in der Natur nichts von Gott zu sehen. (Ps. 92,6 f.) Sein Tun offenbart sich in der Vorsehung, indem er alles, teils wirkend, teils zulassend, leitet und seine Hand zeigt sich deutlich in der Geschichte der Menschheit; dennoch wollen die Ungläubigen nichts von ihm merken. Er wirkt im Reich der Gnade, - wunderbare Bekehrungen bezeugen sich noch auf allen Seiten; dennoch weigern sich die Gottlosen, das Tun des Herrn zu sehen. Wo Engel anbetend staunen, haben die fleischlich gesinnten Menschen nur Verachtung. Gott lässt sich herab, die Menschen zu unterweisen, und diese weigern sich, etwas von ihm zu lernen. Darum wird er sie zerbrechen. Er wird die Verächter dazu bringen, dass sie sehen müssen, sich verwundern und zunichte werden (Apg. 13,41). Wollen sie die strafende Hand an anderen nicht sehen, so werden sie sie an sich selber fühlen müssen. Leib und Seele werden vom äußersten Verderben überwältigt werden auf immer und ewig. Und nicht aufbauen. Gottes Fluch ist positiv und negativ. Sein Schwert ist zweischneidig, es schneidet rechts und links. Ihr Erbteil wird lauter Unheil sein und sie werden auf diese Erbschaft nicht verzichten können. Der Scheffel, der ihnen zugemessen wird, wird zu voll sein vom Zorn Gottes, als dass er noch ein Körnchen Hoffnung fassen könnte. Sie sind einem alten, verrotteten und zerfallenen hölzernen Hause gleich geworden, das für seinen Eigentümer keinerlei Nutzen hat und voll Gewürm und Unrat ist; darum wird der große Baumeister sie gänzlich niederreißen und zerstören. Verstockte Sünder haben zu erwarten, dass das Verderben sie schnell überfällt. Wer sich nicht bessern will, wird als gänzlich unnütz weggeworfen werden. Lasst uns als aufmerksame Schüler der Wahrheit auf Gottes Werk und Wort achten, damit wir nicht gegen den göttlichen Liebeswillen ungehorsam erfunden werden und darum in bitterer Folgerichtigkeit den göttlichen Zorn erleiden müssen.


6. Gelobt sei der Herr;
denn er hat erhört die Stimme meines Flehens.
7. Der Herr ist meine Stärke und mein Schild;
auf ihn hoffet mein Herz und mir ist geholfen;
und mein Herz ist fröhlich und ich will ihm danken mit
meinem Lied.
8. Der Herr ist ihre Stärke;
Er ist die Stärke, die seinem Gesalbten hilft.


6. Gelobt (wörtl.: gesegnet, wie Ps. 16,7; 26,12 u. oft) sei der Herr. Gottes Kinder sind voll Lobens und Dankens. Sie sind ein gebenedeites Volk; darum benedeien sie den Herrn, von dem ihnen aller Segen zugeflossen ist. Bis hierher hörten wir in unserm Psalm nur die Stimme des Flehens: Jetzt wendet er sich zum Lobpreis. Wer recht bitten kann, wird bald recht danken können. Bitten und Danken gehören zusammen wie die beiden Lippen unseres Mundes. Es sind zwei Glocken, im tiefen und im hohen Ton, die in Gottes Ohren lieblich zusammenklingen; zwei Engel, die auf Jakobs Leiter aufwärtssteigen; zwei Altäre, die von Weihrauch duften; zwei von Salomos Lilien, die balsamischen Wohlgeruch ausströmen; zwei junge Rehzwillinge, die auf dem Myrrhenberge und dem Weihrauchhügel weiden. (Hohelied 7,14; 4,5 f.) Denn er hat erhört die Stimme meines Flehens. Echter Lobpreis gründet sich auf stichhaltige und zwingende Gründe; er ist nicht eine bloße Aufwallung von Gefühlen, über die die Vernunft keine Rechenschaft geben kann, sondern steigt als klare Quelle aus den Tiefen der Erfahrung auf. Hat Gott unser Gebet erhört, so soll der Dank in Wort und Tat nicht fehlen. Versäumen wir diese Pflicht nicht oft? Würde es nicht andern sehr zur Ermutigung und zugleich uns selber zur Stärkung dienen, wenn wir die erfahrene Güte Gottes treulich bezeugten und sie rühmten, wie sie es verdient? Dass Gott uns Gnade erweist, ist wahrlich keine solch unbedeutende Kleinigkeit, dass wir es ruhig wagen dürften, sie ohne Dank hinzunehmen. Undankbarkeit sollte unter Christen unerhört sein. Wie selig wären wir, wenn wir Tag für Tag in der reinen Himmelsluft dankbarer Liebe lebten!

7. In diesem Vers haben wir ein Glaubensbekenntnis Davids vor uns samt einem Zeugnis aus seiner Erfahrung. Der Herr ist meine Stärke. Der Herr braucht seine Macht zu unserm Besten, und nicht nur das, er flößt auch unserer Schwachheit seine Stärke ein. Im Glauben eignet sich der Psalmsänger die Allmacht seines Bundesgottes an: Der Herr ist meine Stärke. Kindliche Abhängigkeit von dem unsichtbaren Gott verleiht uns eine staunenswerte Unabhängigkeit von den Staubgeborenen und eine übermenschliche Zuversicht und Kühnheit. Und mein Schild. So fand David also Schwert und Schild in seinem Gott. Der Herr schirmt sein Volk vor unzähligen Übeln, und der Streiter Christi, der sich im Schutze seines Gottes birgt, ist unvergleichlich sicherer, als der weltliche Kriegsheld, den sein Schild von Erz oder dreifachem Stahl deckt. Auf ihn traute mein Herz, und mir wurde geholfen. (Grundtext) Was man von Herzen tut, gelingt; Vertrauen, das aus dem Herzen kommt, wird nie zuschanden. Der Glaube muss der Hilfe vorhergehen, aber diese wird nicht lange auf sich warten lassen. Tag für Tag hat der Gläubige Ursache zu sprechen: Mir wurde geholfen, denn der göttliche Beistand ist uns für jeden Augenblick gewährleistet: Wäre dem nicht so, so würden wir schnell ins Verderben zurücksinken. Und wo ein besonders starkes Eingreifen des göttlichen Helfers nötig erscheint, haben wir nur den Glauben in Tätigkeit zu setzen, so wird es uns gewährt werden. Darum so 2 frohlockt mein Herz und aus meinem Lied lasse ich seinen Ruhm ertönen. (Grundtext) Zweimal tut David in diesem Vers des Herzens Erwähnung, um die Echtheit seines Glaubens und seines Lobpreisens zu zeigen. Frohlocken soll unser Herz: Wir brauchen nicht zu fürchten, wir könnten des Guten zu viel tun, wenn wir der empfangenen Gnade gedenken. Unser Gott gibt überschwänglich: Lasst uns mit unserm Dank nicht kargen. Ein Lied ist die passendste Weise, der Freude des Herzens Ausdruck zu geben. Ach, dass wir doch mehr der singenden Lerche und weniger dem krächzenden Raben glichen! Glüht das Herz, so sollen die Lippen nicht schweigen. Handelt Gott so väterlich an uns, so sollen wir ihm den Kindesdank nicht vorenthalten.

8. Der Herr ist ihre Stärke.3 Die Erfahrungen, die der eine Gläubige von Gottes tatkräftiger Liebe macht, sind ein Muster der Lebenserfahrungen aller Gotteskinder. Allen Gliedern der streitenden Gemeinde, ohne Ausnahme, bezeugt sich Jahwe als derselbe, der er seinen Knecht David gegenüber war. "Welcher schwach sein wird unter ihnen, wird sein wie David." (Sach. 12,8) Sie haben dieselbe Hilfe nötig, und sie soll ihnen zuteil werden: Denn dieselbe Liebe umfängt sie, ihre Namen stehen geschrieben im selben Buch des Lebens und sie sind eins mit demselben Haupt, dem Gesalbten des Herrn. Er ist die Stärke, die seinem Gesalbten hilft, wörtl.: und die heilvolle Feste (Schutzwehr) für seinen Gesalbten ist Er. Siehe hier David als Vorbild des Herrn Jesus, unseres Bundeshauptes und gesalbten Königs, durch den uns aller Segen zuströmt. Inmitten des Wütens seiner Feinde erfuhr er den mächtigen Beistand und Schutz des Höchsten und wir genießen die Frucht der ihm gewordenen Hilfe. Wie wir an der Salbung teilhaben, die so reichlich über ihn ausgegossen wurde, so auch an seinem Heil. Ehre und Preis sei dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der die Macht seiner Gnade verherrlicht hat in seinem eingeborenen Sohn, den er gesalbt hat zum Fürsten und Heiland seines Volkes.


9. Hilf deinem Volk,
und segne dein Erbe,
und weide sie, und erhöhe sie ewiglich!


9. Ein herrliches Gebet für die streitende Gemeinde auf Erden, kurz an Worten, aber reich an Inhalt. Wir sollen für das gesamte Volk Gottes, nicht nur für uns selber beten. Hilf deinem Volk. Befreie deine Auserwählten von ihren Feinden, bewahre sie vor Sünden, steh ihnen bei in ihren Nöten, erlöse sie aus ihren Versuchungen und schirme sie vor allem Übel. Achten wir darauf, wie David Gott zum Helfen bewegt: Sie sind ja dein Volk, dein Erbe; darum ist es undenkbar, dass du sie solltest dem Verderben überlassen können. Segne dein Erbe: mit Frieden, Glück und Wohlgedeihen, nach innen und außen. Belebe, erquicke, mehre und heilige deine Gemeinde. Und weide sie. Sei deiner Herde guter Hirt, versorge sie reichlich in all ihren leiblichen und geistlichen Bedürfnissen. Durch dein heiliges Wort und deine heiligen Bundesstiftungen leite, nähre und sättige du die Schafe deiner Hand. Und trage sie ewiglich. (Grundtext) Trage sie in deinen starken Armen, solange sie auf Erden sind, und trage sie hindurch durch alle Not und Versuchungen, bis sie in der himmlischen Herrlichkeit auf ewig an deinem Herzen ausruhen können!


Erläuterungen und Kernworte

V. 1. Zu dir, Herr, rufe ich. (Grundtext) Es ist von der größten Wichtigkeit, dass wir einen lebendigen, persönlichen Gott haben, den wir anrufen können. Die wenigsten Menschen sind überhaupt fähig, mit abstrakten Begriffen etwas anzufangen, zumal in der Not. Welch ein Jammer, wenn man dann keinen Helfer hat und der Himmel uns eine leere Öde ist. Da muss das Herz bald in Verzweiflung sinken. Aber Gott hat sich dem Menschen in seinem Wort geoffenbart, so dass der Betrübte seinen Blick gläubig auf ihn richten und sein Gebet vor ihm ausschütten kann. "Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten." (Ps. 50,15.) Besonders groß ist das Vorrecht des Christen in dieser Beziehung. Wie nahe ist uns Gott in Christus geworden! Lieber Leser, sende in der Not deine Seufzer nicht ins Leere; lass deine Gedanken nicht umherschweifen, als müssten sie erst ein Ziel suchen, als wüsstest du keinen, dem du die Not deines Herzens sagen könntest. Richte dein Herz fest auf Gott, wie David es hier tut: Zu dir, Herr, rufe ich. Wie glücklich ist der Mensch, der fühlt und weiß, dass er, wenn Not hereinbricht, nicht in Verwirrung und Verzweiflung geraten wird, mag der Schlag auch noch so heftig sein. Wohl mag der Kummer ihn schwer niederdrücken; aber er hat eine Zuflucht, er kennt sie aus Erfahrung und eilt zu ihr. Er hat nicht eine unbestimmte Vorstellung von einem höchsten Wesen, das gegen die Menschheit freundlich gesinnt sei, sondern er kennt Gott als seinen persönlichen Freund. Darum ruft er zu ihm mit der Gewissheit des Glaubens. Philip Bennett Power 1862.
  Mein Hort oder Fels. William Evans, ein frommer Prediger, lag im Sterben. Eine christliche Freundin besuchte ihn und fragte ihn, wie es ihm gehe. "Ich bin die Schwachheit selber", antwortete er, "aber ich bin auf dem Felsen. Ich erfahre nicht jene überwältigenden Freudenentzückungen, welche etliche im Angesicht des Todes bezeugt haben; aber mein Vertrauen steht auf Gottes Gnade in Christus. Da hat mein Christenlauf begonnen, da endet er auch." C. H. Spurgeon 1870.
  Mein Fels. Dies Wort weist auf Gottes Unveränderlichkeit, Zuverlässigkeit und unverbrüchliche Treue hin, vergl. Ps. 18,3.32; 19,15. Diese Anrede begründet das "Schweige nicht". Der treue Gott, der die Seinen wohl züchtigt, aber sie nicht dem Tode hingibt, kann da nicht schweigen, wo, wie gleich darauf gesagt wird, Schweigen den Untergang bringen würde. Das "Schweige nicht von mir" (wörtl.) bedarf keiner Ergänzung. Der Begriff des sich Entfernens liegt in dem Schweigen schon eingeschlossen, so wie umgekehrt jedes Antworten ein Kommen und Nahen Gottes mit in sich schließt. Prof. E. W. Hengstenberg 1843.
  Schweige mir nicht. Lasst uns nun beachten, was die Seele von Gott begehrt. Es ist dies, dass er nicht schweige, dass er rede. Und was soll er uns sagen? Wir wünschen, er möge uns wissen lassen, dass er uns hört; wir möchten ihn so bestimmt zu uns sprechen hören, wie wir zu ihm gesprochen haben, und über eben die Sache, in der wir uns an ihn gewandt haben. Sind wir so des gewiss worden, dass Gott uns gehört hat, so können wir die ganze Angelegenheit mit der größten Zuversicht in seinen Händen lassen. Vielleicht verzieht dann die weitere Antwort lange; vielleicht scheinen in der Zwischenzeit die Dinge sich ganz verkehrt zu entwickeln; es mag sein, dass sich kein Eingreifen Gottes zeigt: dennoch hält der Glaube das Banner hoch, er bleibt stark, und das Herz ist mit Trost erfüllt, weil es die Gewissheit hat, dass Gott unser Rufen gehört hat. Wir sprechen bei uns selbst: "Gott weiß darum, er selber hat mir das gesagt; darum bin ich stille zu Gott, der mir hilft." Und daran sei es uns genug. Lasst uns nicht Gott bewegen wollen, uns viel zu sagen, wenn es sein Wille ist, wenig zu reden. Zu gewissen Zeiten ist die beste Antwort, die wir haben können, die einfache Zusage, dass er unser Flehen gehört hat. Durch diese Antwort ermutigt und übt er zugleich unseren Glauben. Samuel Rutherford († 1661) sagt einmal, mit Bezug auf das Verhalten des Herrn gegenüber dem kananäischen Weib (Mt. 15,21 ff.): "Es heißt wohl: Er antwortete ihr kein Wort; aber es steht nicht da: Er hörte kein Wort." Das ist ein großer Unterschied. Christus hört oft, auch wenn er keine Antwort gibt. Sein Nichtantworten ist auch eine Antwort, die heißt: Bitte weiter, fahre fort mit Rufen und Flehen; denn der Herr hält seine Tür verschlossen und verriegelt, nicht um dich draußen stehen zu lassen, sondern damit du wieder und wieder klopfest; so wird dir aufgetan werden. (Lk. 11,5 ff.) Philip Bennett Power 1862.
  Auf dass ich nicht gleich werde denen, die in die Grube fahren. Großer Gott, du siehst meine traurige Lage. Nichts erscheint mir groß und begehrenswert auf dieser Erde wie das Glück, dir dienen zu dürfen und doch bringen mich meine Verhältnisse und Pflichten in Verbindung mit Menschen, welche die Gottseligkeit verurteilen und verspotten. Mit innerem Abscheu höre ich sie Tag für Tag die unaussprechlich herrlichen Gaben deiner Gnade schmähen und lästern und den Glauben und die Inbrunst der Frommen als Geistesschwachheit verspotten. Da ich solcher Gottlosigkeit ausgesetzt bin, ist mein einziger Trost, Gott, der, dass ich mein Herzeleid vor dir ausschütte und zu dir um Hilfe rufe. Obwohl diese gotteslästerlichen Reden jetzt in meiner Seele nur Entrüstung und Mitleid hervorrufen, so fürchte ich doch, sie könnten auf die Länge meine sittliche Kraft schwächen und mich auf die krummen Pfade der Menschengefälligkeit und Nachgiebigkeit bringen. Und doch wäre das deiner Herrlichkeit so unwert und der Dankbarkeit, die ich dir schulde. Ich fürchte, ich möchte, ohne es recht zu wissen, einer von den Feiglingen werden, die erröten, wenn es deinen Namen zu bekennen gilt. Mir graut bei dem Gedanken, dass ich so gottlos werden könnte, den Zügen deiner Gnade hartnäckig zu widerstreben, so treulos, dass ich mit meinem Zeugnis wider die Sünde zurückhalte, so im Selbstbetrug gefangen, dass ich meine strafwürdige Furchtsamkeit mit dem Namen der Klugheit beschönige. Schon fühle ich, wie sich dieses Gift unbemerkt in mein Herz einschleicht; denn obwohl ich von ferne nicht möchte, dass mein Wandel dem der Ruchlosen auch nur im Geringsten ähnlich würde, so befällt mein Herz doch Furcht bei dem Gedanken, sie zu beleidigen. Ich würde mich nicht unterstehen, ihrem Beispiel zu folgen; aber ich bin fast eben so bange, sie zu reizen. Ich weiß, dass es unmöglich ist, beide, eine ungöttliche Welt und einen heiligen Gott, zu befriedigen, und doch verliere ich diese Wahrheit so aus den Augen, dass sie, statt mich in meinem Entschluss zu festigen, nur dazu dient, mein Schwanken desto unentschuldbarer zu machen. Was kann ich anders tun, als dich um Hilfe anzuflehen! Stärke du mich, Herr, gegen diesen Verfall meiner sittlichen Kraft; bewahre mich vor dem Abwärtsgleiten, wodurch deine Ehre verlästert würde. Lass mich deine ermutigende, belebende Stimme vernehmen. Wenn dein Lebensodem mich nicht durchweht und meinen schwachen Glauben anfacht, so ist, das fühle ich, nur ein Schritt zwischen mir und der Verzweiflung. Ich stehe am Rande des Abgrunds, ich bin nahe daran, in eine fluchwürdige Verwicklung mit solchen Leuten zu geraten, denen nichts lieber wäre, als wenn sie mich mit sich in den Höllenschlund hinabreißen könnten. Jean Baptiste Massillon † 1742.


V. 2. Es ist einer der ältesten Gebräuche, so man in dem Volk Gottes findet, dass sie, ein Zeichen der Erhebung ihrer Seelen zu Gott von sich zu geben, ihre Hände im Gebet gen Himmel erhoben. So hielt Mose seine Hände empor, 2. Mose 17,11 f., wie auch vorher 2. Mose 9,33. Diesen gottseligen Gebrauch hatte David als König auch an sich genommen. Was beschuldigen sich dann heutzutage unsere Staats-, Hof- und Kriegsleute, dass sie sich dieses Gebrauchs beschämen? Hätten sie Herzen, die auf Gott gerichtet, Seelen, die von der Welt gen Himmel erhaben wären, so würden sich die Hände bald auch konfirmieren. Johann David Frisch 1719.
  Ein rechtschaffenes Gebet fordert das ganze Herz und alle Kräfte und eine starke, nie zweifelnde Zuversicht zu Gott. So das Herz und Gemüt zu Gott erheben, das ist das rechte Händeaufheben, welches durch die äußerliche Gebärde ausdrückt wird. Aurelius Augustinus † 430.


V. 3. Lass mich nicht einmal mithingenommen werden, wie den unschuldigen Jonathan, mit den Boshaften und mit den Freveltätern: Wenn ich etwa wider meinen Willen vermischt sein muss mit Leuten, die friedlich reden mit ihren. Nächsten und doch das Böse im Herzen haben. F. C. Oetinger 1775.
  David hat nicht deswegen so gebetet, weil er wirklich meinte, dass Gott ohne Wahl willkürlich gegen die Menschen wüte, sondern er zieht von der Natur Gottes den Schluss, dass er guter Hoffnung sein dürfe, da es ja sein eigentliches Amt sei, die Frommen und die Verworfenen voneinander zu scheiden und einem jeglichen den Lohn zu geben, den er verdient. Jean Calvin † 1564.
  Die freundlich reden mit ihrem Nächsten und haben Böses im Herzen. Wer vor Gott wandelt, dem ist alle Verstellung, auch gegen die Menschen, ein Gräuel. Herz und Zunge gehen bei ihm Hand in Hand; er kann nicht mit dem Munde schmeicheln und mit dem Herzen hassen, ins Angesicht loben und hinter dem Rücken tadeln. Die Liebe sei nicht falsch, sagt der Apostel (Röm. 12,9), sei ungefärbt (1. Petr. 1,22). Heuchlerische Liebe ist schlimmer als offener Hass; verstellte Freundschaft ist nicht besser als eine gemeine Lüge, denn man gibt damit etwas vor, was nicht ist. Viele machen es Joab nach, der zu Amasa sprach: "Friede mit dir, mein Bruder!" und ihn mit der rechten Hand bei seinem Bart fasste, da er ihn küsste, und ihm im selben Augenblick das Schwert in den Leib stieß, da er starb. (2. Samuel 20,9 f.) Man sagt, es gebe in Spanien einen Fluss, in dem alle Fische eine goldene Farbe hätten; nehme man sie aber aus dem Wasser, so seien sie ganz wie andere. Nicht alles ist Gold, was glänzt. Falsche Mäuler bergen Hass (Spr. 10,18). Und wie kann, wer seinem Freund schmeichelt und lügt, gegen Gott aufrichtig sein? Thomas Watson 1660.
  Hiermit hat der heilige Geist fein abgemalet aller falschen Heiligen Herz, Mut und Sinn, die alle die Kainische Art (1. Mose 4,8) an ihnen haben. Denn aller Heuchler Art und Natur ist diese, dass sie einen guten Schein führen, reden freundlich, stellen sich demütig, geduldig, geben Almosen und ist doch daneben ihr Herz voll mörderischer, tückischer Anschläge. Martin Luther † 1546.


V. 4. Gib ihnen nach ihrem Tun usw. Hier drängt sich wiederum die Frage auf, ob es denn recht sei, auf jemand Rache herabzuflehen; doch will ich nur kurz davon handeln. Erstens ist es außer allem Zweifel, dass, wo das Fleisch uns reizt, Rache zu suchen, dies Begehren in den Augen Gottes frevelhaft ist. Gott verbietet uns nicht nur, unseren Feinden als Rache für Unbill, die sie uns persönlich zugefügt haben, Böses anzuwünschen, sondern es kann auch gar nicht anders sein, als dass alle die Gelüste, welche aus dem Hass entspringen, sündig sind. Auf Davids Verhalten dürfen sich daher diejenigen nicht berufen, welche ihre ungezügelte Leidenschaft dazu treibt, Rache zu begehren. Nicht seine persönlichen Kümmernisse sind es, durch die der heilige Gottesmann hier entflammt wird, seinen Feinden Verderben anzuwünschen; sondern, ganz abgesehen von den Gelüsten seines Fleisches, fällt er hier ein gerechtes Urteil über die Sache selbst, über die Gottlosigkeit seiner Feinde. Bevor daher jemand Rache über die Bösen verkündigen darf, muss er erst Herz und Sinn von allem Ungehörigen reinigen. Zweitens gilt es Weisheit, dass uns die Verabscheuungswürdigkeit des Bösen, das uns erzürnt, nicht zu leidenschaftlichem Eifer entzünde, wie das sogar Christi Jüngern begegnete, als sie begehrten, dass Feuer vom Himmel fallen möchte, um die zu verzehren, welche ihren geliebten Meister nicht beherbergen wollten (Lk. 9,54). Sie meinten, sich dabei sogar auf das Vorbild des Elia berufen zu können; Jesus aber bedrohte sie und sagte ihnen: Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Vor allem gilt es, diese Regel zu beobachten, dass wir von Herzen das Wohlergehen des ganzen Menschengeschlechts wünschen und dafür wirken. Dann werden wir nicht nur den Wirkungen der göttlichen Gnade nicht widerstreiten, sondern die Bekehrung derer herzlich begehren, welche hartnäckig ihrem eignen Verderben entgegenzueilen scheinen. Kurz, David ist hier frei von böser Leidenschaft und wird sowohl vom Geist der Besonnenheit als der Gerechtigkeit geleitet. Nicht seine, sondern Gottes Sache ist’s, die er vertritt. Und durch dies Gebet erinnert er sowohl sich als die übrigen Gläubigen, dass die Gottlosen, wenn sie sich auch für eine Zeit ungestraft die Zügel mögen schießen lassen zur Ausübung aller Laster, doch zuletzt vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen müssen. Jean Calvin † 1564.
  Es ist in solchen Stellen bei richtiger Erklärung sicherlich nichts zu finden, was die göttliche Autorität dieser alttestamentlichen Schriftstücke auch nur im Geringsten anfechten könnte. Wie deutlich lehrt uns der Herr Jesus selber (Lk. 9,54 f.), dass sein Geist und der Geist eines Elia nicht derselbe sind. Und doch nimmt ohne Zweifel kein Prophet des alten Bundes eine höhere Stelle ein - als eben der Prophet Elia. Unser Heiland verurteilt den Propheten keineswegs; er verbietet aber seinen Jüngern, einen gleichen Eifer an den Tag zu legen. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Ja, großer Gott, gerade weil du voll Anfang an stets bemüht gewesen bist, die Menschen zu retten, wirst du gewiss mit ewigem Fluch diese Kinder der Ungerechtigkeit treffen, die nur dazu geboren scheinen, sich selbst und andere zu verderben. Gerade deine Freundlichkeit gegen das Menschengeschlecht erfordert es, dass das Unwetter deines Zornes über diese Verführer hereinbreche. Je mehr du für unser Geschlecht getan hast, desto sicherer wird sich die Strenge deiner Gerechtigkeit in der Vertilgung dieser Elenden enthüllen, deren Sinnen einzig daran geht, deiner Güte gegen die Menschen entgegenzuarbeiten. Sie bemühen sich unaufhörlich, die Menschen weit von dir abzubringen und du wirst es ihnen vergelten, indem du sie auf ewig von dir entfernst. Sie achten es für einen großen Gewinn, wenn sie ihre Mitmenschen zu deinen Feinden machen können; so sollen sie denn den verzweifelten Trost haben, dass sie selber deine Feinde sein werden in alle Ewigkeit. Gibt es wohl eine passendere Strafe für diese Elenden, die alle in ihre Empörung wider deine anbetungswürdige Majestät verwickeln möchten, als dass sie, durch die Gemeinheit ihres Wesens, auf ewig unter dem schrecklichen Zwang sein sollen, dich ohne Unterlass zu hassen? Jean Baptiste Massillon †1742.
  Die Ägypter töteten die israelitischen Knäblein, deshalb schlug Gott die Erstgeburt Ägyptens. Sisera, der mit seinen eisernen Wagen Israel zu verderben gedachte, wurde getötet durch den eisernen Nagel, den Jael ihm durch die Schläfe trieb (Richter 4,13.21). Adoni-Besek musste bekennen: Wie ich getan habe, so hat mir Gott wieder vergolten (Richter 1,5-7). Gideon richtete in Sukkoth und Pnuel ein Blutbad an und seine siebzig Söhne wurden von Abimelech erschlagen auf einem Stein (Richter 8,16 f.; 9,5). Abimelech wiederum büßte diese Freveltat, indem ein Weib von dem Turm zu Thebez einen Mühlstein auf seinen Kopf warf und ihm den Schädel zerbrach (Richter 9,53). Simson büßte seine Augenlust durch Blindheit. Über Agag fällte Samuel das Urteil: "Wie dein Schwert Weiber ihrer Kinder beraubt hat, also soll auch deine Mutter der Kinder beraubt sein unter den Weibern", und zerhieb ihn zu Stücken vor dem Herrn in Gilgal (1. Samuel 15,33). Saul hatte die Gibeoniter getötet; um dieser Bluttat willen wurden sieben seiner Söhne gehängt (2. Samuel 21,1-9). Bekannt ist, wie Gott dem Ahab das Blut Naboths auf seinen Kopf vergalt, dass an eben der Stätte, da die Hunde das Blut Naboths geleckt hatten, die Hunde auch sein Blut leckten (1. Könige 21,19; 2. Könige 9,25 f.). Dem Jerobeam verdorrte eben die Hand, die er wider den Knecht Gottes ausgereckt hatte (1. Könige 13,4). Joab, der Abner und Amasa getötet hatte, fand seine Vergeltung nach langer Zeit (1. Könige 2,28-35). Daniels Ankläger kamen in der Löwengrube um, worin sie Daniel für immer begraben geglaubt hatten (Dan. 6). Haman sehen wir an dem Galgen hangen, den er für Mardochai bestimmt hatte (Esther 7,9 f.). Auch die Geschichte der späteren Zeiten weist viele ähnliche Beispiele auf. Der Sultan Bajazet wurde von dem asiatischen Eroberer Tamerlan i. J. 1402 in einem eisernen Käfig umhergeführt, wie er es mit Tamerlan beabsichtigt hatte. Der Kaiser Maxentius baute i. J. 312 eine Brücke, um Konstantin in einer Schlinge zu fangen, und wurde an eben dem Ort besiegt. Papst Alexander VI. starb i. J. 1503 an Giftwein, den er für andere bestimmt hatte. Karl IX. von Frankreich überschwemmte in der Bartholomäusnacht 1572 die Straßen von Paris mit dem Blut der Hugenotten, und bald nachher drang ihm das Blut aus allen Teilen seines Leibes in blutigem Schweiß. Kardinal Beaton überlieferte den frommen George Wishart dem Feuertode und starb bald darauf (1546) eines gewaltsamen Todes; er wurde im Bett ermordet und seinen Leichnam stellte man an demselben Fenster zur Schau, aus dem er der Hinrichtung Wisharts zugesehen hatte. G. S. Bowes 1860.
  Es ist ein wunderlich Ding um die Gerichte und die Gerechtigkeit Gottes, dass Gott alle Dinge richtet und straft nach dem Herzen des Menschen und dass einem Menschen eben das widerfahren muss, was er im Herzen hat. Darum sagt St. Paulus: Lerne doch prüfen, was da sei der gute und wohlgefällige Wille Gottes (Röm. 12,2), und lerne ihn von dem Willen des Satans unterscheiden, auf dass, wenn du das Gute erwählst, du erfüllt werdest mit aller Gottesfülle; wo du das nicht tust, sondern Böses im Herzen hast, so folgt daraus, dass du wirst erfüllt werden mit aller Fülle des Satans, das ist, mit aller seiner Bosheit. Aurelius Augustinus † 430.


V. 5. Denn sie achten nicht auf das Tun des Herrn usw. Dieser Vers deckt die Wurzel der bösen Werke, die Gottlosigkeit, auf: Die Bösen sind deshalb so dreist, andern zu schaden, weil sie nicht bedenken, dass sie mit Gott selbst zu schaffen haben, wenn sie die Menschen feindlich angreifen und vor keiner Schandtat zurückschrecken. Klagt ihr Gewissen sie an, so beruhigen sie sich mit eitler Selbstbespiegelung und werden in ihrer frechen Selbstherrlichkeit endlich ganz verstockt. Zuerst, wenn sie berauscht sind von ihrem Glück, bilden sie sich ein, dass Gott ihr Freund sei und dass er sich um die Guten, weil diese viele Drangsale zu leiden haben, nicht kümmere. Zuletzt kommen sie jedoch dahin, dass sie meinen, dass alles durch Zufall geschehe, und so sind sie durch eigene Schuld bei hellem Lichte blind. Jean Calvin † 1564.
  Bei 5a denkt David vorzugsweise daran, dass sie schmählich verkennen, wie so gar herrlich und gnädig sich Gott immer aufs Neue zu ihm als seinem Erwählten bekannt hat. Er hat 2. Samuel 7 die Verheißung empfangen, dass Gott ihm ein Haus bauen, d. i. seinem Königtum ewigen Bestand verleihen wolle. Die Absalomiten sind in Empörung gegen diese göttliche Veranstaltung begriffen. Darum werden sie das Widerspiel der dem David gegebenen Gottesverheißung erleben: Jahwe wird sie niederreißen und nicht bauen; er wird diese widergöttlich aufgerichtete Dynastie in ihrem Entstehen vernichten. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Das Tun Jahwes meint die Zeichen der Zeit, vorläufige Strafgerichte, durch die er seinen Unwillen über jenes gottlose Treiben zu erkennen gibt, vergl. Ps. 64,10, über die sich aber die verstockten Sünder leichtsinnig hinwegsetzen. - Das letzte Versglied: "Mög er sie niederreißen und nicht auferbauen!" ist eine sprichwörtliche Redensart, vergl. Jer. 24,6; 42,10; 45,4. Prof. Friedrich Baethgen 1904.


V. 6. Er hat erhört ... Das Gebet ist das beste Mittel in der Not. Es ist das rechte Universalheilmittel, kein solches, wie es die Quacksalber anpreisen, sondern auf Grund vieltausendjähriger Erfahrung hat es das Zeugnis: Probatum est, es ist erprobt und bewährt erfunden. Und der beste, weiseste und geschickteste Arzt hat es uns verordnet; es kann nicht fehlschlagen. William Gouge † 1653.


V. 7. Der Herr ist meine Stärke. Welch süßer Trost! Wenn jemand eine Last auf sich hat, ihm aber zu der Bürde Kraft gegeben und, wenn die Bürde verdoppelt, seine Kraft verdreifacht wird, so wird ihm die Last nicht schwerer, sondern leichter sein, als zuvor, da er nur seine natürliche Kraft hatte. So mögen unsre Trübsale wohl schwerer werden, dass wir ausrufen müssen: "Ich kann’s nicht tragen"; aber wenn wir unsere Bürden in unserer Kraft auch nicht tragen können, warum sollte uns das in der Kraft des Herrn nicht möglich sein? Meinen wir wirklich, unser Heiland könnte sie nicht tragen? Und wenn dieser Gedanke sich rasch selber richtet, warum sollten wir dann nicht dazu gelangen, sie tragen zu können? Aber können wir denn, möchte jemand fragen, Christi Kraft haben? Ja gewiss, seine Kraft wird uns zu Eigen durch den Glauben; das bezeugt die Schrift oft. Der Herr ist unsere Stärke; Gott ist unsere Stärke; der Herr Zebaoth ist unsere Stärke; Christus ist unsere Stärke. Siehe Ps. 28,7; 43,2; 118,14; Jes. 12,2; Hab. 3,19; Kol. 1,11. So ist denn Christi Kraft unsere Kraft, sie ergießt sich in uns, so dass wir fähig werden, zu tragen, was immer uns auferlegt wird. Isaac Ambrose † 1674.
  Der Herr ist innen meine Stärke und nach außen mein Schild. Der Glaube findet beides, Kraft und Schutz, in Jahwe und das eine nicht ohne das andere; denn was nützte dem Krieger ein Schild, wenn er keine Kraft zum Streiten hätte, und was die Kraft ohne den Schild? W. Wilson 1860.
  Auf ihn hofft mein Herz und mir ist geholfen. Dem Glauben wird das zur Wirklichkeit, was er doch noch nicht sehen kann. Er hat eine eigne Art des Konjugierens, hat jemand gesagt: Er wandelt die zukünftige Zeit in die Gegenwart. John Trapp † 1669.
  Und aus meinem Liede lasse ich sein Lob ertönen. (Grundtext) Aus dem Leide quillt das Lied und aus dem Liede quillt das Lob des, der das Leid gewendet, wie V. 6.8 es anstimmen. Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 8. Der Herr ist ihre Stärke: nicht meine Stärke allein, sondern die Stärke eines jeden Gläubigen. Merke: Gottes Kinder freuen sich ebenso sehr über die Tröstung und Hilfe, die ihren Nächsten widerfährt, wie über die, welche sie selbst erfahren. Denn wie wir die Wohltat des Sonnenlichtes nicht weniger genießen, weil andere auch daran teilhaben, so wäre es auch töricht, wenn wir andere deshalb beneideten, weil ihnen das Licht des göttlichen Angesichts leuchtet: Es ist des Lichtes genug für alle, genug für jeden Einzelnen. Matthew Henry †1714.


V. 9. Erhöhe sie, richtiger: trage sie - wie der Hirt die Schwachen, die Kleinen und die Kranken seiner Herde emporhebt und in den Armen trägt. Albert Barnes † 1870.


Homiletische Winke

V. 1. Zu dir, Herr, rufe ich, mein Hort. Des Gläubigen Zuflucht in der Stunde des Zagens.
  Des Frommen Furcht, den Gottlosen gleich zu werden.
  Gottes Schweigen - wie schrecklich es sein kann.
  Gleich denen, die in die Grube fahren. Wie tief eine Seele sinken kann, wenn Gott sich schweigend von ihr abkehrt.
V. 1-2. Das Gebet. 1) Seine Natur: ein Schreien zu Gott. Der Schrei a) Äußerung des Lebens (neugeborenes Kind); b) Ausdruck des Schmerzes; c) Ruf um Hilfe. 2) An wen es sich richtet: Jahwe, mein Hort. Gott ist unseres Lebens Grund, unsere Zuflucht und unser unwandelbarer Freund. 3) Was es erstrebt: Höre mich, schweige mir nicht. Wir erwarten eine Antwort und zwar eine klare und bestimmte, eine baldige, unseren Nöten angemessene und wirksame Antwort. 4) Worauf es sich gründet: auf Gottes Gnade in Christus Jesus. (Zu deinem heiligen Chor: Gottes Thronen im Allerheiligsten über dem blutbesprengten Gnadenstuhl, vergl. Röm. 3,25; Hebr. 4,16; Eph. 1,7; Röm. 5,2.)
V. 3. 1) Das Wesen der Gottlosen, das wir meiden sollen. (Sie sind gottlos, nach dem Wort des Grundtextes sittlich haltlos, charakterlos; verüben Unheil; heucheln mit der Zunge; haben Böses im Herzen.) 2) Ihr Schicksal, das wir fürchten sollen. (Sie werden hingerafft ins Verderben.) 3) Die Gnade, die uns vor beidem, ihrem Wesen und ihrem Schicksal, bewahren kann.
V. 4. Maß für Maß, oder: Wie der Frevel, so die Strafe.
V. 5. Eine sträfliche Vernachlässigung, in der viele beharren und durch die sie sich reichen Segens verlustig und schrecklicher Verdammnis teilhaftig machen.
V. 6. Gebetserhörungen sind es wert, dass wir sie im Herzen bewahren, anderen bezeugen und den Herrn dafür preisen.
V. 7. Des Gläubigen Reichtum in Gott (Lk. 12,21). 1) Im Blick auf die Gegenwart ist der Herr a) seine Stärke im Wirken und Dulden; b) sein Schild wider jede Gefahr Leibes und der Seele. 2) Im Blick auf die Vergangenheit (Auf ihn traute mein Herz und mir wurde geholfen) ist er reich an Erfahrungen des Trostes, der Hilfe, der Erquickung von Gottes Angesicht. 3) Im Blick auf die Zukunft ist seine Seele fröhlich und still in Gott und sein Herz erklingt von Gottes Lob. (Kol. 3,16 f.)
  Die Anbetung Gottes auf Grund seiner Gnade. 1) Was der Herr dem Gläubigen ist. 2) Wie unsere Herzen gegen ihn gestimmt sein sollen.
V. 8. Die Allmacht Gottes steht den Gläubigen zur Verfügung auf Grund ihrer Einheit mit dem Gesalbten des Herrn.
V. 9. Ein Gebet für die streitende Gemeinde Gottes auf Erden.

Fußnoten

1. Grunde. wörtl. welche Frieden reden mit ihrem Nächsten.

2. Grundtext imperf. consec.

3. Statt Omlf lesen viele nach LXX, Peschitta und Handschriften wie Ps. 29,11 OmI(al: seines Volkes Stärke, was sich besonders um des entsprechenden Oxy$im: willen empfiehlt. Unbedingt nötig ist freilich diese Änderung nicht.