Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 100 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Dankpsalm. Der einzige Psalm, der diese Inschrift trägt. Er glüht ganz von dankerfüllter Anbetung und ist aus diesem Grunde bei dem Volke Gottes stets ganz besonders beliebt gewesen. Wir besingen in diesem Liede voller Freude die Schöpfermacht und die Gnade des HERRN, wie wir in den vorhergehenden Psalmen mit Zittern seine Heiligkeit angebetet haben.


Auslegung

1. Jauchzet dem HERRN, alle Welt!
2. Dienet dem HERRN mit Freuden,
kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!
3. Erkennet, dass der HERR Gott ist!
Er hat uns gemacht, und nicht wir selbst,
zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.
4. Gehet zu seinen Toren ein mit Danken,
zu seinen Vorhöfen mit Loben;
danket ihm, lobet seinen Namen!
5. Denn der HERR ist freundlich,
und seine Gnade währet ewig,
und seine Wahrheit für und für.


1. Jauchzet dem HERRN, alle Welt. Diese Worte sind eine Wiederholung aus dem vierten Vers des 98. Psalms. Das im Grundtext gebrauchte Zeitwort bedeutet Freudentöne ausstoßen, jubeln, jauchzen, wie es von getreuen Untertanen geschieht, wenn ihr König unter ihnen erscheint. Unser seliger Gott will von einem frohen Volke angebetet werden; ein freudiger Geist entspricht dem Wesen und den Taten Gottes sowie der Dankbarkeit, welche wir für seine Gnadenerweisungen im Herzen hegen sollten. In allen Landen wird Jehovahs Güte kund, darum soll er auch in allen Landen gepriesen werden. Die Welt wird nie in der richtigen Verfassung sein, bis sie mit einmütigem Jubel den alleinigen Gott verehrt. Ach, ihr Nationen, wie lange wollt ihr ihn in Verblendung verwerfen? Euer goldenes Zeitalter kommt nicht, bis jedes Herz nur ihm zur Ehre schlägt.

2. Dienet dem HERRN mit Freuden. Eine liebliche Ergänzung zu dem andern Psalmwort: Dienet dem HERRN mit Furcht. (2,11) Er ist unser Herr, darum ist es unsre Pflicht, ihm zu dienen; er ist uns ein gnadenreicher Herr, darum gebührt es sich, dass wir es mit Freuden tun. Der Aufruf, welcher hier an alle die Erde bevölkernden Menschen ergeht, dem HERRN zu dienen, bedarf keiner Leichenbittermiene; er ist eine fröhliche, liebliche Einladung, als würden wir zu einem Hochzeitsfest geladen. Kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken. Wir sollten uns beim Gottesdienst der wahrhaftigen Gegenwart Gottes recht bewusst werden und durch Erhebung des Geistes ihm nahen. Vor Gott erscheinen, das ist für jedes richtig unterwiesene Herz ein gar ernster, feierlicher Schritt; doch darf dieses Herzunahen nicht in der Knechtsgesinnung der Furcht geschehen. Darum kommen wir vor sein Angesicht nicht mit Weinen und Heulen, sondern mit Psalmen und lieblichen Liedern. Da der Gesang zugleich eine fröhliche und eine fromme Übung ist, sollte er stets erklingen, wenn wir zu Gott nahen. Wenn eine Gemeinde von Gläubigen in feierlichen, harmonischen und von Herzen kommenden Tönen den Lobpreis des HERRN verkündigt, so ist das nicht nur geziemend, sondern köstlich, ein wahrhafter Vorschmack des Himmels, wo der Lobpreis das Gebet ganz in sich aufgenommen hat und die ausschließliche Weise der Anbetung geworden ist. Wie eine gewisse Gesellschaft von Brüdern1 es übers Herz bringen kann, das Singen im öffentlichen Gottesdienst zu verbieten, ist uns ein Rätsel, das wir nicht zu lösen vermögen. Von solchen, die unseren Gott nie kennen gelernt haben, könnten wir es verstehen, wenn nie ein frohes Lied über ihre Lippen käme, aber die Günstlinge des himmlischen Königs sollten ihres Herren Lob überall verkündigen.

3. Erkennet, dass der HERR Gott ist. Unser Gottesdienst soll ein vernünftiger sein. Wir sollen wissen, wen wir anbeten und warum wir es tun. "Mensch, erkenne dich selbst" ist ein weiser Lehrsatz, aber unseren Gott erkennen, das ist noch höhere Weisheit; auch ist es sehr zweifelhaft, ob jemand sich wirklich selber erkennen kann, solange er seinen Gott noch nicht erkannt hat. Jehovah ist Gott im vollsten, unumschränktesten und ausschließlichsten Sinn, er allein ist Gott; ihn nach diesem seinem Wesen zu kennen und solche Erkenntnis und Bekanntschaft in Gehorsam, Vertrauen, Ergebung, Eifer und Liebe zu erweisen, das ist eine Gabe, welche nur die Gnade verleihen kann. Nur wer die Göttlichkeit des HERRN tatsächlich im Leben anerkennt, hat überhaupt Aussicht, wohlgefällige Opfer des Lobes darzubringen. Er hat uns gemacht und nicht wir selbst.2 Soll das Geschöpf nicht seinen Schöpfer ehren? Mancher Mensch lebt dahin, als hätte er sich selbst gemacht, stolz nennt er sich einen "selbstgemachten Mann" und betet seinen eingebildeten Schöpfer an; aber Christenmenschen erkennen es, woher ihr Dasein wie ihr Wohlsein stammt, und legen sich selber keinen Ruhm bei, weder in Bezug auf ihr Sein überhaupt, noch in Bezug auf das, was sie sind. Sowohl für unsere natürliche Erschaffung als unsere geistliche Neuschaffung dürfen wir auch nicht den geringsten Teil der Ehre für uns in Anspruch nehmen, denn diese ist ausschließliches Vorrecht des Allmächtigen. Die Ehre von uns selbst abzuweisen ist ein notwendiges Stück der wahren Verehrung Gottes, und es ist ebenso wichtig, sie dem HERRN zuzuschreiben. "Nicht uns, HERR" (Ps. 115,1), das wird stets das Bekenntnis des lauteren Gläubigen bleiben. In unseren Zeiten hat die Weltweisheit sich viel Mühe gegeben nachzuweisen, dass alles sich aus Urstoffteilchen entwickelt oder, mit andern Worten, sich selber gemacht habe. Wenn diese Lehre Glauben findet, so fällt wahrlich aller Anlass dahin, abergläubische Menschen der Leichtgläubigkeit zu bezichtigen; denn die Anforderungen, welche dieses Dogma der Zweifelsucht an die Glaubwilligkeit stellt, sind tausendmal größer als sie selbst der abgeschmackte Glaube an blinzelnde Madonnen und lächelnde Bambinos3 den Menschen zumutet. Wir für unser Teil finden es weit leichter, zu glauben, dass der HERR uns gemacht habe, als dass wir uns vermittelst einer unendlich langen Reihe von Akten unbewusster Wahl aus umherschwirrenden Atomen, die sich selber gebildet hätten, entwickelt haben sollen. Zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide. Das ist unsre Ehre, dass wir aus der ganzen Menschenwelt auserwählt worden sind, Gottes Volk des Eigentums zu sein, und unser Vorrecht ist es nun, uns durch Gottes Weisheit leiten, durch seine Sorgfalt hüten und durch seine Güte nähren zu lassen. Die Schafe sammeln sich um ihren Hirten und blicken zu ihm auf; lasst uns in der gleichen Weise uns um den treuen Menschenhüter scharen. Das Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zum HERRN ist in sich selbst ein Lobpreis Gottes; wenn wir seine Güte verkündigen, zollen wir ihm die beste Anbetung. Unsre Lieder bedürfen nicht der Ausschmückung mit Zutaten der dichterischen Fantasie; die nackten Tatsachen genügen vollständig, und die einfache Erzählung der Gnadentaten des HERRN ist wunderbarer als alle Erzeugnisse der Einbildungskraft. Dass wir die Schafe seiner Weide sind, ist eine gar schlichte Wahrheit und zugleich höchste Poesie.

4. Gehet zu seinen Toren ein mit Danken. Von dem Vorkommen des Wortes Dank in diesem Vers rührt die Überschrift des Psalmes wahrscheinlich her. Bei allen unseren öffentlichen Gottesdiensten muss das Danksagen und Lobpreisen reichlich geübt werden; es ist wie der Weihrauch im Tempel, der das ganze Haus mit seinem Duft erfüllte. Die Sühnopfer haben ein Ende, aber die Opfer des Dankes werden nie ihre Berechtigung verlieren. Solange wir Gnaden empfangen, müssen wir auch Dank erstatten. Die Gnade erlaubt uns, zu Jehovahs Toren einzugehen; lasst uns denn diese Gnade preisen. Womit könnten sich unsere Gedanken im Hause Gottes besser beschäftigen, als mit dem Herrn des Hauses selbst? Zu seinen Vorhöfen mit Loben. Zu welchem der Vorhöfe des HERRN du auch eingehen magst, lass deine Zulassung dir ein Anlass zum Lobpreis sein. Gott sei Dank, der innerste Hof ist jetzt uns, den Gläubigen, geöffnet, ja wir gehen hinein in das Inwendige des Vorhangs. Da liegt es uns denn wahrlich ob, dies hohe Vorrecht als solches durch frohe Loblieder anzuerkennen. Danket ihm. Der Lobpreis sei sowohl in euren Herzen als auf eurer Zunge, und aller Dank sei Ihm geweiht, dem er allein und ganz gehört. Lobet seinen Namen. Er hat euch gesegnet, so benedeiet ihn. Lobet seine Offenbarung, seine Vollkommenheiten, sein Wesen. Was er auch tue, lobet ihn dafür; preist ihn, wenn er euch etwas nimmt so gut wie wenn er gibt. Lobsinget ihm, solange ihr lebt und unter allen Umständen. Rühmt ihn nach allen seinen Eigenschaften, von welchem Gesichtspunkt aus ihr ihn auch betrachten möget.

5. Denn der HERR ist freundlich, wörtl.: gut. Das ist die Summa seines Wesens und schließt in sich eine Menge von Gründen zu seinem Preise. Er ist gut, gütig, gnädig, freundlich, barmherzig, liebreich, ja, die Liebe. Wer den Guten nicht preist, ist selber nicht gut. Die Art des Lobes, zu welcher der Psalm uns ermuntert, nämlich frohlockendes, dankerfülltes Rühmen, wird uns aufs passendste zu Herzen gebracht durch den Hinweis auf die Güte Gottes. Und seine Gnade währet ewig. Gottes Wesen ist nicht bloß Gerechtigkeit, die strenge, kalte Gerechtigkeit; er hat ein Herz voll Erbarmens und will nicht den Tod des Sünders. Gegen die Seinen offenbart sich noch herrlicher seine Gnade; sie ist ihnen zugewandt von Ewigkeit und wird ihr Eigentum sein für immerdar. Diese ewige Gnade ist wahrlich ein herrlicher Anlass für heilige Lobgesänge. Und seine Wahrheit (oder Treue) für und für. Er ist kein unbeständiges, wetterwendisches Wesen, das ebenso schnell vergisst wie verspricht. Er ist mit seinem Volke in einen Bund eingetreten, und er wird ihn nie widerrufen, noch ändern, was aus seinem Munde gegangen ist. Wie unsre Väter ihn treu erfunden haben, so werden unsre Söhne und deren Nachkommen bis in die fernsten Geschlechter stets die gleiche Erfahrung machen. Ein veränderlicher Gott wäre ein Schrecken für die Gerechten; sie hätten dann keinen sichern Ankergrund, sondern würden inmitten einer ewig sich ändernden Welt hilflos hin- und hergetrieben werden in beständiger Furcht vor dem Schiffbruch. Wie gut wäre es, wenn die göttliche Treue von so manchen Theologen in vollerem Maße im Gedächtnis behalten würde; diese Wahrheit würde ihre Meinung von der Möglichkeit des Abfalls wahrer Gläubigen über den Haufen werfen und ihnen den Untergrund für ein trostreicheres Lehrgebäude geben. Unsere Herzen hüpfen vor Freude, da wir uns vor einem Gott neigen, der nie sein Wort gebrochen oder seinen Ratschluss verändert hat. Indem wir so auf seiner gewissen Zusage ausruhen, empfinden wir eben die Freude, zu welcher wir in unserem Psalm aufgefordert werden, und in Kraft dieser Freude kommen wir auch jetzt vor sein Angesicht und preisen auch andern seinen Namen an.


Erläuterungen und Kernworte

Zur Überschrift. Dieser Psalm ist der einzige, der die Überschrift ein Dankpsalm trägt. Man vermutet, dass er diese Überschrift bekommen habe, weil er vorzüglich geeignet, wenn nicht von vornherein dazu bestimmt war, bei der Darbringung eines Dankopfers gesungen zu werden. Das Wort, welches hier und Vers 4 mit Dank übersetzt ist, bezeichnet nämlich auch das Dankopfer. Über diese Opferart siehe 3. Mose 7,11-15. Nach Samuel Burder 1839.

Zum ganzen Psalm. Dieser Psalm schließt die mit Psalm 91 begonnene Reihe deuterojesaianischer Psalmen. Ihnen allen ist jene sanfte Erhabenheit, sonnige Heiterkeit, ungetrübte Geistlichkeit, neutestamentliche Entschränktheit gemein, welche wir an dem zweiten Teile des Buches Jesaia bewundern. Auch die Anordnung ist, wenigstens von Psalm 93 an, jesaianisch: sie vergleicht sich dem Verhältnisse von Jesaia Kap. 24-27 zu Kap. 13-23. Wie jener Weissagungszyklus den über die Völker nach Art eines musikalischen Finale abschließt, so haben die Gottherrschaftspsalmen von Psalm 93 an, welche die entfaltete Glorie des Königtums Jehovahs vergegenwärtigen, Jubilate- und Kantate-Psalmen im Gefolge. Wie sinnig die Anordnung ist, zeigt sich auch daran, dass dieses letzte Jubilate ganz und gar das Echo des ersten, nämlich der ersten Hälfte von Psalm 95 ist. Dort finden sich schon alle hier wiederklingenden Gedanken. Siehe dort Vers 7.2. Nach dem Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Wenn wir, ohne Zweifel mit Recht, Psalm 93-99 als eine fortlaufende Reihe ansehen, als ein großes prophetisches Oratorium, dessen Überschrift lautet: Jehovah ist König, und durch welches sich eben dieser erhabene Gedanke hindurchzieht, so können wir diesen Psalm 100 als die Doxologie betrachten, welche das ganze Stück beschließt. Es klingen in ihm die gleichen majestätischen Akkorde an. Er ist durchhaucht von demselben freudigen Geist, und es belebt ihn die gleiche Hoffnung, dass noch alle Völker sich vor Jehovah anbetend neigen werden und bekennen, dass er Gott ist. J. J. St. Perowne 1864.


V. 2. Dienet dem HERRN mit Freuden. Es ist ein Zeichen davon, dass das Öl der Gnade in das Herz gegossen ist, wenn das Öl der Freude auf dem Antlitz scheint. Fröhlichkeit beglaubigt die Frömmigkeit. Thomas Watson 1660.
  Dienet dem HERRN. Es ist unser Vorrecht, dem HERRN in allen Dingen zu dienen. Und wenn es nur wäre, dass wir ihm einen Schuhriemen auflösen dürften, so sollten wir uns der Huld freuen, die er uns damit erweist. Der Knecht Gottes dient nicht noch einem andern Meister; er ist nicht für gelegentliche Dienste geworben, sondern steht in dem Dienst seines Gottes und kann nichts anderem als seines Herrn Geschäften nachgehen. Er isst, trinkt, schläft, wandert, führt Unterredungen, sammelt neue Kräfte - alles im Dienste seines Meisters. Dienet dem HERRN mit Freuden. Möchtest du dich wohl von einem Knecht oder einer Magd bedienen lassen, die an jede Aufgabe betrübt und mürrisch herangehen? Du hättest sicher lieber gar keinen Diener, als einen, der deinen Dienst augenscheinlich freudlos und verdrießlich findet. George Bowen 1873.
  Wie greift man sich in der Welt an, wie wird einem Tag und Nacht nichts zu sauer, wenn man die Gnade eines Regenten dadurch zu erlangen hofft. Wie nun diese einem zu allem Fleiß und Munterkeit macht, wie viel mehr kann im Reiche Gottes die Gnade und Freundlichkeit des HERRN ein Herz beleben, und zu allem Dienst Freude machen! Bei allem Diensteifer in der Welt kommen doch manche Dienste und Verdienste nicht vor das Angesicht dessen, dem man dienen will. Andere verdrängen einen; die Umstände leiden es nicht, dass jeder vorkommen kann. Aber im Reich Gottes kann und darf jeder vor das Angesicht seines gnädigen Gottes kommen. Karl H. Rieger † 1791.
  Statt "Dienet Jehovah mit Freuden" heißt es Ps. 2,11: "Dienet Jehovah mit Furcht." Furcht und Freude schließen sich nicht aus: die Furcht gilt dem erhabenen Herrn und dem heiligen Ernst seiner Forderungen, die Freude dem gnadenreichen Herrn und dem glückseligen Dienste. - Die Aufforderung, diese Freude in gottesdienstlicher, festlicher Weise zu betätigen, quillt aus alles hoffender, weltumfassender Liebe, und diese ist die Selbstfolge lebendigen Glaubens an die Verheißung vom Segen aller Sippen der Erde im Samen Abrahams und an die Weissagungen, in denen sich diese Verheißung entfaltet. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.


V. 3. Erkennet, dass der HERR Gott ist! Er hat uns gemacht usw. Aus dieser Ermahnung können wir ersehen, dass die natürliche Blindheit unseres Herzens so gottvergessener und gottesleugnerischer Art ist, dass wir es nötig haben, immer von neuem darüber unterwiesen zu werden, dass der HERR Gott ist, von dem, durch den und zu dem alle Dinge sind. David Dickson † 1662
  Er hat uns gemacht, und sein sind wir. (Grundtext, siehe die 1. Anmerkung Seite 190.) Sehr häufig wird in der Schrift Gottes Eigentumsrecht auf seine Schöpferwürde zurückgeführt. So Psalm 89,12.13; 95,5; 74,16.17. Er hat alles aus nichts, ohne Hilfe und für ihn selber gemacht; so ist alles unzweifelhaft sein alleiniges Eigentum. Und auch darum, weil alles Geschaffene noch jeden Augenblick nur von ihm Dasein und Wohlsein hat. David Clarkson † 1686.
  Schon der Midrasch findet in diesem Bekenntnis das Widerspiel des übermütigen "Ich selbst habe mich gemacht" im Munde Pharaos, Hes. 29,3. - Schon manche Seele hat aus dem ipse fecit nos et non ipsi nos (Er hat uns gemacht und nicht wir selbst) balsamischen Trost gezogen, z. B. Melanchthon, der im Jahre 1527 über der Leiche seines zweijährigen Georg trostlos betrübte. Aber auch in ipse fecit nos et ipsius sumus (Er hat uns gemacht, und sein sind wir) liegt ein Schatz des Trostes und der Mahnung, denn der Schöpfer ist auch der Eigner, sein Herz hängt an seinem Geschöpfe, und dieses schuldet sich ganz und gar dem, ohne den es nicht wäre und bestände. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Er hat uns gemacht, nämlich zu dem, was wir sind, zu seinem Eigentumsvolk, vergl. Psalm 95,6 f.; 1. Samuel 12,6; 5. Mose 32,6. Andrew A. Bonar 1859.
  Gemacht. Die Sünde hat verursacht, dass Gott viele seiner Geschöpfe, die ehemals gut waren, hernach aber befleckt, zerrüttet und verderbt wurden, auf ein Neues schaffen und machen musste. So wird in Sonderheit von dem Volk Israel gesagt, dass Gott es zu seinem Volk gemacht (Ps. 100,3; Jes. 54,5), zubereitet (Jes. 44,21) und geschaffen habe (Jes. 43,1.7.15 Die Apostel sagen, dass die Heiligen ein Werk Gottes zu guten Werken geschaffen, neue Kreaturen, Erstlinge seiner Kreaturen seien. (Eph. 2,10; Gal. 6,15; Jak. 1,18) Man schlage die angezogenen Stellen nach, so wird man finden, dass die Propheten und Apostel dieses Machen, Zubereiten und Schaffen als eine ausnehmende Probe der Liebe Gottes vorstellen, welche auch bei den größten Schwierigkeiten eine gute Hoffnung aufs Künftige mache, aber auch zur Anbetung Gottes verpflichte und antreibe. Ps. 100. Folglich sollen wir ihn und nicht uns selbst preisen. Alle diese neuen Werke Gottes bekommen einmal ihre Vollendung. Off. 21. Hallelujah! Prälat M. Fr. Roos 1774.
  Das "nicht wir" wird hinzugefügt, weil jeder Anteil der Gemeinde an dem ihr gewordenen Heile das Zeugnis, welches dasselbe für die alleinige Gottheit des HERRN ablegt, schwächen würde. Prof. E. W. Hengstenberg 1845.


V. 3.5. Erkennet, was Gott in sich selbst und was er für euch ist. Erkenntnis ist die Mutter der Anbetung und allen Gehorsams; blinde Opfer können einem sehenden Gott nicht gefallen. Erkennet, d. i. erwägt es und wendet es dann an: 1) dass Jehovah der einzig lebendige und wahre Gott ist, dass er ein unendlich vollkommenes, vermöge seines eigenen Wesens daseiendes und sich in sich selbst völlig genugsames Wesen und der Urquell alles Seins ist; 2) dass er unser Schöpfer und darum auch 3) unser rechtmäßiger Eigentümer ("und sein sind wir") und 4) unser unumschränkter Gebieter ist. Wir sind sein Volk, seine Untertanen, er unser Fürst und Gesetzgeber, der uns für unser Tun zur Verantwortung ziehen wird. 5) Dass er unser freigebiger Wohltäter ist: wir sind die Schafe seiner Weide, die er versorgt. 6) Dass er ein Gott von unendlicher Güte ist: er ist gut und tut Gutes. 7) Dass er ein Gott von unverletzlicher Wahrhaftigkeit und Treue ist, von dessen Worten auch nicht eines als veraltet oder zurückgenommen dahinfallen wird. Matthew Henry † 1714.


V. 4. Mit Danken. Dasselbe Wort bedeutet auch Dankopfer, vergl. 3. Mose 7,12. Schon Rabbi Menahen sagt: Alle Opfer werden aufhören; aber das Dankopfer wird bleiben. George Phillips 1846.


V. 4.5. Darum sollen die Menschen aller Völker dankend zu den Toren seines Tempels und preisend in die Vorhöfe seines Tempels eingehen (96,8), um sich anbetend der Gemeinde anzuschließen, welche, eine Schöpfung Jehovahs der ganzen Erde zugute, um diesen Tempel geschart ist und ihn zur Stätte der Anbetung hat. Die Wallfahrt aller Völker nach dem heiligen Berge (wofür 5. Mose 33,19 die Grundstelle) ist alttestamentliche Einkleidung der Hoffnung auf die Bekehrung aller Völker zu dem Gotte der Offenbarung und den Zusammenschluss aller mit dem Volke dieses Gottes. Sein Tempel ist offen für sie alle. Sie dürfen in ihn eingehen und haben, wenn sie eingehen, Großes zu erwarten. Denn der Gott der Offenbarung ist gut, und seine Gnade und Treue währen ewiglich. Die Gnade Gottes ist die Freigebigkeit und seine Treue die Beständigkeit seiner Liebe. - Kommentar von Prof. Franz Delitzsch † 1890.


Homiletische Winke

V. 1. Der ganze Psalm ist eine Traube von Eskol, ein Vorgeschmack von dem gelobten Land, dahin wir wallen. Wir lesen aus dem prophetischen Psalm die Vollendung des Reiches Gottes:
  1) Es wird einmal einen freudevollen Zustand der ganzen Welt geben. V. 1. a) An wen die Aufforderung gerichtet wird: an alle Welt. b) Wozu alle Welt aufgefordert wird: zu jauchzen. Welch traurigen Lärm hat sie bisher gemacht! c) Von wem die Aufforderung ergeht: von dem, der selber verbürgt, was er befiehlt.
  2) Dieser freudevolle Zustand der ganzen Welt wird aus der Lust an dem HERRN hervorgehen. V. 2. a) Die Menschen haben es lange versucht, ohne Gott glücklich zu sein. b) Endlich werden sie entdecken, dass ihr Glück in Gott liegt. Die Sinnesänderung des Einzelnen ist auch in dieser Hinsicht ein Vorbild von der künftigen Sinnesänderung der ganzen Welt.
  3) Diese Lust an dem HERRN wird einem neuen Verhältnis zu ihm entsprechen. V. 3. a) Auf unserer Seite neue Erkenntnis Gottes. b) Auf seiner Seite vollberechtigter Anspruch an uns, und zwar aa) auf Grund der Erschaffung: er hat uns gemacht; bb) auf Grund der Erlösung: 1. Petr. 2,10; Jes. 43,1; cc) auf Grund der Erhaltung: wir die Schafe seiner Weide.
  4) Dieses neue Verhältnis zu Gott wird uns den Dienst in seinem Hause lieb machen. V. 4. a) Was man dort tun wird: danken und loben. b) Wem solch fröhliche Huldigung gelten wird: Ihm.
  5) Dieser Dienst wird ewig währen - er wird begonnen auf Erden, fortgesetzt im Himmel. Dies gegründet a) auf Gottes persönliche (sittliche) Güte: Der HERR ist gut; b) auf seine ewige Gnade; c) auf seine unveränderliche Treue. Prof. George Rogers 1874.
V. 2. Dienet dem HERRN mit Freuden. 1) Er ist der beste Meister. 2) Seine Gebote sind nicht schwer. 3) Er ist euer Heiland sowohl als euer Schöpfer, euer Freund so gut wie euer Gebieter. 4) Die Engel, ob sie wohl so viel erhabener sind denn ihr, wissen keinen Grund, warum sie ihm nicht mit Freuden dienen sollten. 5) Indem ihr ihm dienet, dient ihr euch selbst. 6) Ihr macht durch solch freudiges Dienen seinen Dienst auch für andere anziehend. 7) Ihr bereitet euch dadurch für den Himmel vor. George Bowen 1873.
  Ein aufrichtiges Herz ist 1) demütig: es dient; 2) gottselig: es dient dem HERRN; 3) tätig: es dient; 4) darum auch fröhlich: mit Freuden.
V. 3. Erkennet, dass der HERR Gott ist, auf dass ihr treu seiet inmitten von Unglauben und Aberglauben, hoffnungsvoll in Reue, anhaltend am Gebet, unermüdlich an Eifer, getrost in Trübsal, fest in Versuchung, mutig in Verfolgung, freudig selbst im Tode. William Jackson 1874.
  Wir sind sein Volk. (Vergl. die 2. Anm. S. 190.) Wir haben eine Neuschaffung erfahren wie alle, die sein geworden sind (und vorbildlich schon Israel). Wir lieben sein Volk. Wir schauen auf zu dem, der uns gemacht und erlöst hat, wie alle die Seinen. Wir sind von der Welt geschieden wie sein Volk. Wir erfahren die Trübsale, lieben die Pflichten, genießen die Vorrechte seines Volkes. William Jackson 1874.
V. 4. 1) Das Vorrecht, Gott zu nahen. 2) Die Pflicht, ihn zu preisen. 3) Auf Grund wovon uns beides zuteil geworden.
V. 5. 1) Der unerschöpfliche Quell: die (sittliche) Güte Gottes. 2) Der immerfließende Strom: die Gnade Gottes. 3) Der unergründliche Ozean: die Wahrheit Gottes. "O welche Tiefe!" (Röm. 11,33.) William Durban 1874.

Fußnoten

1. Spurgeon denkt hier an die "Gesellschaft der Freunde", die engl. und amerikanischen Quäker. Ihrer viele haben freilich auf noch bessere Weise, durch ein Leben der Liebe, den HERRN gepriesen.

2. Die meisten ziehen die LA. des Keri Olw: vor: Er hat uns gemacht und sein sind wir, sein Volk und die Schafe seiner Weide.

3. Bambino = kleines Kind, Nachbildungen des Jesuskindleins, die in Italien zur Weihnachtszeit in den Kirchen ausgestellt und in Prozessionen umhergetragen werden.