Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 81 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Auf der Gittith. Wir wissen nicht sicher, was diese Überschrift bedeutet; man vergleiche das bei Ps. 8 Bemerkte. Sollte die Meinung vieler Alten richtig sein, dass zu übersetzen sei: "Ein Kelterlied"1, so würde das der Frömmigkeit desjenigen Volks, für welches der Psalm verfasst ward, ein gutes Zeugnis ausstellen. Wir fürchten, man würde es selbst in unseren christlichen Ländern an wenigen Orten für schicklich halten, an Winzerfesten heilige Gesänge anzustimmen. Wenn einst aber sogar auf den Schellen der Rosse stehen wird: "Heilig dem HERRN" (Sach. 14,20), dann wird auch der edle Saft der Trauben unter dem Schall heiliger Lieder der Kelter entströmen. Vorzusingen, Asaphs. Dieser begnadete Dichter verweilt in dem vorliegenden Psalm wieder bei der Geschichte seines Volks. Das ist offenbar seine starke Seite gewesen, die große Vergangenheit seinen Zeitgenossen in heiligen Gesängen mahnend und ermunternd vor die Seele zu führen. Er war ein echter Nationalsänger, voller Gottes- und Vaterlandsliebe zugleich.

Einteilung. Der Psalm ruft zunächst zum Preise Gottes auf, und zwar zu der Feier eines großen Festes, vielleicht des Passah, worauf die Erlösung aus Ägypten geschildert wird. Dieser erste Teil reicht bis V. 8. Dann straft der HERR sein Volk in liebreich ernster Weise wegen seines Ungehorsams und schildert, wie glücklich Israel sein könnte, wenn es Gottes Geboten nur gehorsam sein wollte, V. 9 bis zum Schluss.


Auslegung

2. Singet fröhlich Gott, der unsre Stärke ist;
jauchzet dem Gott Jakobs!
3. Hebet an mit Psalmen und gebet her die Pauken,
liebliche Harfen mit Psaltern!
4. Blaset im Neumonde die Posaune,
in unserm Fest der Laubrüste!
5. Denn solches ist eine Weise in Israel
und ein Recht des Gottes Jakobs.
6. Solches hat er zum Zeugnis gesetzet unter Joseph,
da sie aus Ägyptenland zogenund fremde Sprache gehöret hatten,
7. da ich ihre Schulter von der Last entlediget hatte
und ihre Hände der Körbe los wurden.
8. Da du mich in der Not anriefest, half ich dir aus
und erhörte dich, da dich das Wetter überfiel,
und versuchte dich am Haderwasser. Sela.


2. Singet fröhlich Gott: jauchzet, frohlocket Gott, doch nicht mit wildem Geschrei, sondern im Takt und in wohlgesetzten Tönen, dass der gemeinsame Lobpreis lieblichen Wohlklang habe. Singet Gott mit festlichen Klängen und in melodischen Weisen; singet ihm fröhlich, denn unserm gütigen Herrn gebührt herzinniger Lobpreis! Seine Liebestaten sprechen lauter, als unsre Dankesworte je sein Lob verkünden können. Nie sollte schläfriges, mattherziges Wesen unseren Psalmengesang beeinträchtigen. Ist nicht Halbherzigkeit daran schuld, dass unsere Lieder oft so träg dahinschleichen? Es sollte wahrlich nicht sein. Singet mit fröhlichem Schall, die ihr der freien Gnade so tief verpflichtet seid! Sind eure Herzen nicht voll Dankes? So lasst eure Stimme dem Dank auch würdigen Ausdruck geben! Der unsre Stärke ist. Der HERR war die Stärke seines Volkes, indem er es mit mächtiger Hand aus Ägypten errettete, aber auch, indem er es in der Wüste erhielt, in das Gelobte Land einführte, vor seinen Feinden beschützte und ihm über dieselben Sieg gab. Wem anders geben die Menschen Ehre als solchen, auf die sie sich stützen und verlassen? Darum lasst uns unserm Gott frohlocken, der unsre Stärke ist und unser Psalm (Jes. 12,2). Jauchzet dem Gott Jakobs! Das israelitische Volk erhob seinen Nationalgott, den Gott ihres Vaters Jakob, mit fröhlicher Musik; dass doch die Christen ja nicht schweigen oder im Lobpreisen matt und lässig werden, denn dieser Gott ist unser Gott! Es ist stets zu bedauern, wenn die Kunst des Chorgesangs den Gemeindegesang lähmt, statt ihn zu fördern. Wir für unser Teil haben Freude an kräftig schwellendem Lobgesang und lassen es uns lieber gefallen, dass etwas Rauigkeit der Töne Mangel an musikalischer Ausbildung verrate, als dass wir die Innigkeit und Kraft, welche dem allgemeinen Gemeindegesang innewohnen, vermissen möchten. Die Überfeinheit, welche die Melodie in artigen Flüstertönen lispelt oder gar das Singen ganz dem geschulten Chor überlässt, grenzt an eine Nachäffung der wahrhaftigen Anbetung. Für die Götter Griechenlands und Roms mag ein Ohrenschmaus klassischer Musik ein passender Gottesdienst sein; Jehova aber kann nur mit dem Herzen angebetet werden, und für seinen Dienst ist darum diejenige Musik die beste, welche dem Herzen den freieren Spielraum gibt.

3. Hebet an mit Psalmen; wählt einen heiligen Sang und stimmt ihn dann wacker an! Und lasst die (Hand-) Pauken ertönen! (Grundtext) Schlagt auf eure Tamburin, ihr Jungfrauen; lasst ihren Schall laut und begeisternd erklingen! Gott will nicht mit Jammern, sondern mit Freudenklängen angebetet werden. So lasst denn die Pauken weithin fröhlich erschallen, wie ihr es einst tatet an dem Meer, dessen Wogen Ägyptens Stolz begraben hatten. Liebliche Harfen mit Psaltern. Zu der kräftig schallenden Pauke geselle sich friedlich die liebliche Lyra, und die Harfe vermehre den freundlichen Wohlklang! Alles, was ihr an Musik aufbieten könnt, sei dem HERRN geweiht!

4. Blaset im Neumonde die Posaune! Verkündet den heiligen Monat, den Anbruch des Jahres, die Zeit, da der HERR sein Volk aus dem Diensthause führte! Deutlich und durchdringend lasst das Horn ertönen, das ganz Israel zusammenruft, seinen Erretter anzubeten! Zu der bestimmten Zeit (and. Übers.2, auf den Tag unsers Festes. Gehorsam muss uns bei dem Dienst Gottes leiten, nicht dürfen unsere Einfälle und Gefühle das Bestimmende sein. Gottes Anordnung gibt Formen und Zeiten eine Feierlichkeit, welche ihnen kein Zeremonienpomp, keine hierarchische Vorschrift verleihen könnten. Die Juden beobachteten nicht nur den festgesetzten Monat, sondern denjenigen Teil des Monats, welcher von Gott ausgesondert war. Die Gottesfürchtigen des alten Bundes sahen mit Freuden die für den Gottesdienst bestimmten Zeiten herankommen; lasst uns sie mit ebensolchem Frohlocken begrüßen und von dem Tag des Herrn nie anders denken und sprechen, als dass er ein Tag der Wonne und der Ehren sei! Diejenigen, welche unsere Stelle als Stütze für ihre von Menschen angeordneten Fest- und Fastzeiten geltend machen, müssen schlecht lesen können. Wir wollen die Feste halten, welche der Herr bestimmt, aber nicht solche, welche Rom oder Canterbury3 vorzuschreiben belieben.

5. Denn solches ist eine Weise (wörtl.: eine Satzung) in Israel und ein Recht des Gottes Jakobs. Es war eine alle Stämme verpflichtende Vorschrift, dass eine heilige Zeit zum Gedächtnis der großen göttlichen Gnadentat ausgesondert werde; und es war wahrlich nur, was dem HERRN gebührte, er hatte ein Recht auf solch besondere Huldigung. Wenn man uns beweisen kann, dass die Feier des Weihnachts- oder Pfingstfestes oder andrer solcher Tage je durch ein göttliches Gebot für die christliche Kirche angeordnet worden sei, so werden wir sie auch halten, aber nicht eher.4 Es ist ebensosehr unsre Pflicht, die Aufsätze der Menschen zu verwerfen wie die Verordnungen des HERRN zu beobachten. Wir fragen bei jeder Sitte und jeder kirchlichen Vorschrift, die man uns geben will: "Ist dies ein Gesetz des Gottes Jakobs?" und wenn das nicht erwiesen werden kann, so haben solche Sitten und Vorschriften für uns, die wir in der christlichen Freiheit wandeln, keine bindende Kraft.

6. Solches hat er zum Zeugnis gesetzet unter Joseph. Das Volk wird hier Joseph genannt, weil man in Ägypten von ihm wohl als von der Familie Josephs sprach und Joseph ja in der Tat der Nährvater des Volkes geworden war. Das Passahfest, auf welches hier vermutlich hingewiesen wird (vergl. die Anm. zu V. 4), sollte eine ständige Erinnerung an die Erlösung aus Ägypten sein, und alles an diesem Fest sollte allen Zeiten und allen Völkern die Herrlichkeit des HERRN bezeugen, die sich in der Befreiung seines Volkes der Wahl so wunderbar erwiesen hatte. Als er auszog über Ägyptenland hin. (Grundtext5 Ein nicht geringer Teil Ägyptens ward von den Stämmen Israels bei ihrem Auszug durchschritten, und an jedem Ort musste das Fest, welches sie in der Nacht, da Ägypten heimgesucht ward, hielten, ein Zeugnis für den HERRN sein, der selber auch bei dem mitternächtlichen Gericht durch Ägyptenland gezogen war (2. Mose 11,4). Die einst so unterdrückten Israeliten zogen durch das Land ihrer Knechtschaft wie Sieger, die die Erschlagenen niedertreten. Wo ich eine Sprache hörte, die ich nicht verstand. (And. Übers.) Der Zusammenhang gebietet unsrer Ansicht nach, diese Worte als Rede Gottes anzusehen6; denn es scheint uns, man müsse der Sprache Gewalt antun, wenn man das Ich in diesem Vers auf eine andere Person bezieht als das Ich des nächsten Verses. Aber wie kann man sich denken, dass der HERR hier von einer Sprache rede, die er nicht verstehe, da er doch allwissend ist und keine Art der Rede ihm unverständlich sein kann? Wir antworten, dass der HERR hier als der Gott Israels so spreche, indem er sich mit seinem auserwählten Volke zusammenschließe und eine Sprache, die diesem unbekannt ist, als auch ihm selber unbekannt hinstelle. Nie war ihm mit einem Psalm oder Gebet in der ägyptischen Zunge gehuldigt worden; das Hebräische war die in seinem Hause bekannte Sprache, das Ägyptische war dort fremd und unerhört. Nach der Wahrheit, und nicht bloß bildlich, konnte der HERR so reden, da die gottlosen religiösen Bräuche und götzendienerischen Zeremonien Ägyptens von ihm missbilligt wurden und in dem Sinne von ihm nicht gekannt waren. Von den Gottlosen wird Jesus sagen: "Ich habe euch noch nie erkannt," und vielleicht haben wir diesen Ausdruck hier in demselben Sinn zu fassen, denn man kann genau übersetzen: Eine Sprache, die ich nicht kannte, höre ich. Es gehörte mit zu den Mühsalen der Israeliten in Ägypten, dass ihre Fronvögte eine ihnen unbekannte Sprache redeten, wodurch sie beständig daran erinnert wurden, dass sie Fremde in einem fremden Lande waren. Der HERR erbarmte sich ihrer und befreite sie; daher war es ihre feierliche Pflicht, das Gedächtnis der Güte Gottes unverletzt zu bewahren. Es ist keine geringe Gnade, aus einer ungöttlichen Welt herausgebracht und dem HERRN geheiligt, d. i. ausgesondert, zu sein.

7. Ich habe seine Schulter von der Last befreit. (Grundtext) Israel war der Sklave und Packesel Ägyptens, aber der HERR gab ihm Freiheit. Durch Gottes Macht allein ward Israel seine Treiber los. Andere Volker verdanken ihre Freiheiten ihren eigenen Anstrengungen und Heldentaten; Israel aber erhielt seine Magna Charta7 als ein freies Geschenk der göttlichen Macht. Wahrheitsgemäß kann der HERR von jedem, dem er die rechte Freiheit gegeben hat, sagen: Ich habe seine Schulter von der Last befreit. Seine Hände sind des Tragkorbs ledig. (Grundtext) Israel war nicht länger gezwungen, Ton zu schleppen und daraus Ziegel zu formen und zu backen. Der Tragkorb ward dem Volke nicht mehr aufgezwungen, noch die Zahl der Ziegel ihnen abverlangt; denn sie kamen in ein freies Land, wo niemand etwas von ihnen erpressen konnte. Wie vorbildlich ist dies alles für die Befreiung des Gläubigen aus der Knechtschaft des Gesetzes, wenn die Bürde der Sünde in das Grab des Erlösers sinkt und die knechtische Arbeit der Selbstgerechtigkeit auf immer ein Ende hat.

8. Du riefst in der Not, und ich half dir aus. (Grundtext) Gott hörte das Schreien des Volkes in Ägypten und am Roten Meer: das hätte sie an ihn fesseln sollen. Da Gott uns nicht verlässt, wenn wir in Not sind, sollten auch wir ihn zu keiner Zeit verlassen. Wenn unsre Herzen sich von Gott abkehren, rufen unsre erhörten Gebete Schmach über uns. Ich erhörte dich in der Donnerhülle (Grundtext), d. i. in eine Wetterwolke gehüllt. Aus der Wolke sandte der HERR ein Wetter über die Feinde seiner Auserwählten. Dieses Wolkendunkel war sein heimlich Gezelt; darin hängte er seine Streitwaffen auf, seine Blitzpfeile und Donnertrompeten, und aus dem Gezelt kam er hervor und warf den Feind nieder, damit seine Geliebten sicher seien. Und versuchte dich am Haderwasser. Sie hatten ihn erprobt und treu erfunden; so stellte er sie auch auf die Probe. Kostbare Geschmeide prüft man auf ihre Echtheit; darum ward auch Israels Treue gegen seinen König der Probe unterworfen. Aber ach, das Ergebnis war überaus beklagenswert. Derselbe Gott, den sie an einem Tag ob seiner Gütigkeit anbeteten, ward am nächsten Tag von ihnen geschmäht, als sie für einen Augenblick die Qualen von Hunger und Durst fühlten. Die Geschichte Israels ist einfach unsre Geschichte in einer andern Form. Gott hat uns gehört, uns errettet und zur Freiheit geführt - und ach, wie oft zahlt unser Unglaube ihm mit Misstrauen, Murren und Auflehnung heim! Groß ist unsre Sünde, groß die Gnade Gottes; lasst uns über beides nachdenken und darum eine Weile still sein. Sela. Eiliges Lesen bringt wenig Nutzen; wir wollen uns den Segen nicht entgehen lassen, eine kleine Zeit still nachzusinnen.


9. Höre, mein Volk, ich will unter dir zeugen;
Israel, du sollst mich hören,
10. dass unter dir kein andrer Gott sei
und du keinen fremden Gott anbetest.
11. Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführet hat.
Tue deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen.
12. Aber mein Volk gehorchet nicht meiner Stimme,
und Israel will mein nicht.
13. So hab’ ich sie gelassen in ihres Herzens Dünkel,
dass sie wandeln nach ihrem Rat.
14. Wollte mein Volk mir gehorsam sein
und Israel auf meinem Wege gehen,
15. so wollte ich ihre Feinde bald dämpfen
und meine Hand über ihre Widersacher wenden,
16. und denen, die den HERRN hassen, müsste es wider sie fehlen;
ihre Zeit aber würde ewiglich währen,
17. und ich würde sie mit dem besten Weizen speisen
und mit Honig aus dem Felsen sättigen.


9. Höre, mein Volk, ich will unter dir zeugen (nämlich ernst mahnend, wie 50,7). Wie, ist das Volk so gefühllos und gleichgültig, dass es gegen seinen Gott taub ist? Es scheint so; denn der HERR bittet nachdrücklich um Gehör. Sind wir nicht auch zuzeiten ebenso unachtsam und unempfindlich? Israel, wenn du doch auf mich hörtest! (Grundtext) Es liegt viel in diesem Wenn. Wie tief sind die gefallen, die auf die Stimme Gottes selbst nicht horchen wollen! Die taube Otter (Ps. 58,5) ist nicht niederträchtiger. Wir haben es nicht gern, dass man uns ermahnt und straft, wir gehen ernsten, scharf einschneidenden Wahrheiten lieber aus dem Weg; und ob es auch der HERR selbst ist, der uns tadelt, ergreifen wir doch gern vor seinen liebreichen Vorwürfen die Flucht.

10. Es soll unter dir kein andrer Gott sein. (Grundtext) Kein Gott eines anderen Volkes, kein Abgott darf in Israels Hütten geduldet werden. Und einen fremden Gott darfst du nicht anbeten. Wo Götzenbilder sind, kommt es ganz gewiss dazu, dass man sie anbetet. Der Mensch ist so darauf versessen, Götzendienst zu treiben, dass jedes Gottesbild ihm stets eine starke Versuchung ist; solange die Nester nicht zerstört werden, kommen die Krähen wieder. Kein andrer Gott hatte für die Israeliten irgendetwas getan; darum hatten sie keinerlei Ursache, irgendeinem fremden Gott zu huldigen. Auf uns passt derselbe Beweisgrund. Alles verdanken wir dem Gott und Vater unsers Herrn Jesus Christus; die Welt, das Fleisch, der Teufel - keiner von diesen ist uns von irgendwelchem Nutzen gewesen; sie sind Fremde und Feinde, und es ziemt uns nicht, uns vor ihnen zu beugen. "Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern," ist des Herrn Ruf an uns, und in der Kraft seines Geistes wollen wir jeden falschen Gott aus unserm Herzen verbannen.

11. Ich, der HERR, bin dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführet hat. So führte sich Jehova gewöhnlich bei seinem Volke ein. Die große Befreiung aus Ägypten war der Rechtsgrund, mit welchem Gott die Forderung der Treue des Volkes meist begründete. Wenn je Menschenkinder ihrem Gott sittlich verpflichtet waren, so war es Israel wahrlich tausendfach Jehova gegenüber, auf Grund der wunderbaren Taten, welche er um ihretwillen in Verbindung mit dem Auszug aus Ägypten gewirkt hatte. Tue deinen Mund weit auf, lass mich (oder: so will ich) ihn füllen. Da er sie aus Ägypten geführt hatte, konnte er auch ferner für sie Großes tun. Er hatte seine Macht und Willigkeit bewiesen; es blieb nur übrig, dass sie ihm glaubten und Großes von ihm erbaten. Wenn sie ihre Erwartungen auch aufs höchste spannten, konnten sie doch die Güte des HERRN nicht übertreffen. Die Vöglein im Nest tun ihren Mund weit genug auf, und die Alten bringen es vielleicht nicht fertig, all die weit aufgesperrten Schnäblein zu füllen; aber das wird bei unserm Gott nie der Fall sein. Seine Gnadenschätze sind schlechterdings unerschöpflich; mag unser Elend noch so groß, unsre Sünde noch so mächtig sein, die Gnade des HERRN ist immer noch größer, noch mächtiger. - Jehova begann sein Gnadenwerk an seinem auserwählten Volke in großem Maßstab, indem er gewaltige Wunder für sie tat und ihnen überreiche Vergeltung ihres Glaubens und ihrer Liebe anbot, wenn sie ihm nur treu sein wollten. Aber betrübend fürwahr war das Ergebnis dieses großartigen Experiments.

12. Aber mein Volk hörte (oder hört) nicht auf meine Stimme. (Wörtl.) Die Vers 12.13 enthalten die Klage über den früheren Ungehorsam Israels, doch wohl als Spiegelbild für die Gegenwart. Gottes Warnungen wiesen sie ab, seine Verheißungen vergaßen sie, seine Gebote missachteten sie. Wiewohl Gottes Stimme ihnen nur Gutes anbot, und das in unvergleichlich großmütiger Weise, kehrten sie sich doch von ihr ab. Und Israel war (oder ist) mir nicht willig. Sie wollten von seinen Vorschlägen nichts wissen, sie handelten seinen Befehlen schnurstracks zuwider, sie hingen dem ägyptischen Kälberdienst nach und ließen ihre Herzen von den Götzen der sie umgebenden Völker bezaubern. Der gleiche Geist des Abfalls ist in unser aller Herzen, und wenn wir nicht ganz und gar vom HERRN abtrünnig geworden sind, dann ist es nur die Gnade, die uns daran gehindert hat.

13. So hab’ ich sie gelassen in ihres Herzens Verstocktheit. (Grundtext) Es gibt keine gerechtere, zugleich keine schwerere Strafe als diese. Wenn Menschen sich nicht leiten lassen wollen, sondern in toller Unbändigkeit das Gebiss zwischen die Zähne nehmen und den Gehorsam verweigern, - wer kann sich dann wundern, wenn ihnen die Zügel über den Hals geworfen werden und sie sich überlassen werden, dass sie ihren Untergang selber herbeiführen. Es wäre noch besser, den Löwen preisgegeben zu werden als den Lüsten unseres Herzens. Dass sie wandelten nach ihrem Rat. Es war nicht fraglich, welchen Weg sie einschlagen würden; denn der Mensch ist immer und überall darauf erpicht, seinen Weg zu gehen, und dieser ist Gottes Weg stets gerade entgegengesetzt. Wenn die Gnade die Menschen nicht mehr zurückhält, sondern sich selber überlässt, sündigen sie mit Bedacht; sie ratschlagen und überlegen und wählen dann mit vorsätzlicher Bosheit und kühlem Blut das Schlechte statt des Guten.

14. O dass doch mein Volk auf mich hören, Israel auf meinen Wegen wandeln wollte! (Grundtext) Hier wendet sich Gottes Stimme an das lebende Geschlecht. Die herablassende Liebe äußert sich in schmerzlicher Klage über Israels Sünde und die ihr notwendig folgende Strafe. Solcherart war auch die Wehklage Jesu über Jerusalem. Der barmherzige Gott kann es nicht sehen, wie die Menschen sich durch ihr Sündigen Jammer aufhäufen, ohne dass sein Mitleid tief erregt wird. Darum bittet und lockt er aufs beweglichste.

15. Wie leicht wollte ich ihre Feinde demütigen. (Grundtext) Wie er in Ägypten den allgewaltigen Pharao in den Staub gebeugt hatte, so wollte er, ach mit wie leichter Mühe, jeden Feind seines Volks zuschanden machen. Und meine Hand über (gegen) ihre Widersacher wenden. Wo es sein muss, kehrt Gott seine Hand strafend auch gegen seine Kinder; aber wieviel lieber ist es ihm, wenn er die Hand segnend auf seine Lieben legen und, wenn nun einmal gestraft sein muss, dies an den Feinden der Seinen tun kann. Seht, was wir durch die Sünde verlieren! Unsere Feinde finden die schärfsten Waffen gegen uns in dem Zeughaus unsrer Vergehungen. Sie könnten uns nie zugrunde richten, wenn wir uns nicht zuerst selbst zugrunde richteten. Die Sünde raubt dem Menschen seine Rüstung und überlässt ihn wehrlos seinen Feinden. Unsere Zweifel und Befürchtungen wären längst totgeschlagen, wenn wir unserm Gott treuer gewesen wären. Zehntausend Übel, die uns jetzt zusetzen, wären vor uns in die Flucht gesprengt worden, wenn wir eifriger in Handel und Wandel der Heiligung nachgejagt hätten. Wir sollten nicht nur ins Auge fassen, was für Schaden die Sünde uns anrichtet an dem, was wir haben, sondern was sie uns zu gewinnen hindert: solche Berechnung wird stets ergeben, dass uns die Sünde sehr teuer zu stehen kommt. Wenn wir von Gott abtrünnig werden, richten unsere verderbten Triebe in uns sicher einen Aufruhr an. Der Satan wird uns anfallen, die Welt uns belästigen, Zweifel uns beunruhigen, und das alles durch unsre Schuld. Salomos Abweichen vom HERRN erweckte viele Widersacher gegen ihn, und es wird uns ebenso gehen; wenn aber unsre Wege dem HERRN wohlgefallen, wird er auch unsre Feinde mit uns zufrieden machen (Spr. 16,17).

16. Die den HERRN hassen, müssten ihnen (eigentl.: ihm, nämlich Israel) schmeicheln (Grundtext) oder sich ihm mit erheuchelter Demut schmiegen. (Der gleiche Ausdruck findet sich Ps. 18,45; 66,3) Wiewohl die Ergebung nur eine erheuchelte sein würde, würden doch die Feinde Israels so in den Staub gebeugt sein, dass sie sich beeilen würden, um jeden Preis mit dem sich der göttlichen Huld erfreuenden Volke einen Vergleich zu schließen. Unsre Feinde werden verlegen und feig, wenn wir festen Herzens mit Gott wandeln. Es steht in Gottes Macht, die heftigsten Widersacher in Schach zu halten, und er wird es tun, wenn wir vor ihm eine kindliche Ehrfurcht, eine eilige Scheu bewahren. Ihre Zeit aber würde ewiglich währen. Das Volk des HERRN sollte festen Bestand haben auf immer und seine Wohlfahrt ohne Störung andauern. Nichts gibt einem Staat oder einer Kirche festeren Halt als Heiligkeit. Wenn wir im Gehorsam nicht wanken, wird auch unser Glück sich nicht mit dem Winde drehen. Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.

17. Und ich würde8 sie mit dem besten Weizen speisen. Hungersnot sollte ihnen ein unbekanntes Wort sein, denn sie würden mit dem Mark des Weizens (wörtl.) gespeist werden; das Allerbeste und Feinste sollte ihre tägliche Kost sein. Und mit Honig aus dem Felsen sättigen. Nicht nur das tägliche Brot sollten sie in feinster Beschaffenheit und reicher Fülle bekommen, sondern auch nicht gerade notwendige Genüsse, ja süße Leckerbissen sollten ihnen geschenkt werden; sogar das raue Gestein des Landes würde ihnen liebliche Gaben darreichen. Die Bienen sollten ihnen in den Felsspalten süßen Honig aufspeichern und so die unfruchtbarsten Teile des Landes zu ergiebigen Quellen der Freude machen. Für ein gehorsames Volk kann der Herr große Dinge tun. Wir ahnen kaum die Freude und Erquickung, welche er denen bereiten kann, die im Licht seines Antlitzes wandeln und unbefleckte Heiligkeit bewahren. Für sie haben die Freuden des Himmels schon auf Erden angefangen. Sie können mit Jauchzen wandeln auf den Wegen des HERRN. Ihnen ist der ewige Wonnemond schon angebrochen; sie sind bereits hochbeglückt, ihr Herz hüpft vor Freuden, und immer herrlichere Dinge warten ihrer. Das zeigt uns aber im Gegenbild, was für ein traurig Ding es für ein Kind Gottes ist, sich in die Gefangenschaft der Sünde zu verkaufen und seine Seele durch Anhangen an anderen Göttern einer geistlichen Hungersnot zu überliefern.
  O HERR, binde uns auf ewig allein an dich und bewahre uns treu bis ans Ende!


Erläuterungen und Kernworte

V. 2-6. Die Aufforderung V. 2 ergeht an die Gesamtgemeinde, indem das "Lasst Jubel erschallen Gott unserem Horte" wie Esra 3,11 und öfters gemeint ist; die Aufforderung V. 3 geht an die Leviten, die berufenen gottesdienstlichen Sänger und Musiker (2. Chr. 5,12), die Aufforderung V. 4: Stoßet am Neumond ins Horn an die Priester, welche nicht nur mit dem Blasen der zwei (später mehr) silbernen Trompeten betraut waren, sondern auch Jos. 6,4 und anderwärts (vergl. Ps. 47,6 mit 2. Chr. 20,28) wie hier als Hornbläser erscheinen. Die biblische Sprache unterscheidet das Widderhorn und die (metallene) Trompete, indem sie sie nebeneinander nennt Ps. 98,6; 1. Chr. 15,28. Von gottesdienstlicher Anwendung des Hornes sagt das Gesetz nichts, als dass der Eintritt des je fünfzigsten Jahres durch Hornsignale im ganzen Lande bekannt gemacht werden sollte (3. Mose 25,9). Wie aber die Überlieferung aus dieser Verordnung mittelst Ähnlichkeitsschlusses das Hornblasen am 1. Tischri (Oktober), dem Anfang des gemeinen Jahres, herleitet, so darf man auf Grund unsrer Psalmstelle, vorausgesetzt, dass das "am Neumond " nicht auf den 1. Tischri, sondern den 1. Nisan (März) geht, annehmen, dass der Anfang jedes Monats, zumal aber derjenige Monatsanfang, welcher zugleich Anfang des kirchlichen Jahres war, durch Hornblasen ausgezeichnet wurde. Der Dichter will sagen, dass das Passahfest von der Gemeinde jubelnd, von den Leviten musizierend und schon von dem Neumond des Passahmonats aus mit Hornblasen begrüßt werden und dieses am Passahfest selbst sich fortsetzen soll. Das Passahfest war ein Freudenfest, das alttestamentliche Weihnachten; den Jubel des Volkes und die rauschende levitisch-priesterliche Musik, womit es begangen wurde, bezeugt 2. Chr. 30, 21. Woher das Fest, dem man so mit Sang und Klang begegnen soll, so hohe Bedeutung hat, sagt nun V. 5.6: es ist eine göttliche Stiftung aus der mosaischen Erlösungszeit. - Nach Pros. Fr. Delitzsch † 1890.


V. 6. Der letzte Satz gibt sich als Einführung der folgenden Rede Gottes, und zwar als einer sich plötzlich zu vernehmen gebenden: Eine unbekannte Sprache oder Sprache eines Unbekannten vernehme ich. Der Dichter nennt die Rede Gottes so nur beziehentlich als eine überirdische, nicht dem Diesseits angehörige Stimme, welche plötzlich in seinen Gedankenzusammenhang eintritt und ihn durchbricht. Es verhält sich also mit V. 6b ähnlich wie mit 60,8; 62,12; 110,1. Überall da weist der Dichter nicht historisch auf ältere Gottesworte zurück, sondern er gibt von ihm selber prophetisch vernommene wieder. Prof. Fr. Delitzsch † 1890.


V. 6-8. Ist es nicht ein Wunder, dass in unseren Herzen so große Faulheit, Sicherheit und Nachlässigkeit stecket, dass wir auch unseres größten Unfalls und Unglücks vergessen können und man uns desselben wiederum erinnern und zu Gedächtnis führen muss? Da ist’s kein Wunder, dass wir der Wohltaten Gottes vergessen! Martin Luther † 1546.


V. 8. Und versuchte (prüfte) dich. Auch die Versuchungen werden zu Guttaten Gottes: sie werden der Erlösung und Erhörung des Gebets zugesellt. Friedrich Christoph Oetinger 1775.


V. 11. Ich, der HERR, bin dein Gott. Der Name Jehova hätte sie mögen abschrecken und furchtsam machen; darum überzuckert der HERR gleichsam seinen Vortrag mit dem Zusatz dein Gott, seine Freundlichkeit und Güte vorzustellen und die Seelen damit an sich zu locken. Es trägt also auch die Vorrede des Gesetzes das Ölblatt des Evangeliums im Munde. Der dich aus Ägyptenland geführet hat. Die Gelehrten bemerken, dass Gott zum zehnten Mal im Alten Testament seinem Volk diese Ausführung zu Gemüt führet. Johann David Frisch 1719.
  Von der Kreatur kann man leicht zu große Erwartungen hegen, aber nie von Gott: Tue deinen Mund weit auf, dass ich ihn fülle. Erweitere und dehne aus die Wünsche und Erwartungen deiner Seele; Gott vermag auch die größte Kluft auszufüllen. Es ehrt Gott, wenn wir recht viel und immer mehr von ihm erwarten; wir heiligen damit Gott in unseren Herzen. Thomas Case † 1680.
  Abraham tat seinen Mund weit auf, als er für Sodom bat; je länger er betete, desto untertäniger und doch kühner ward er. Gott will unseren Mund mit Danksagung füllen. Viele Psalmen Davids beginnen mit Flehen und enden mit begeistertem Lobpreis. Keine Wohltaten stimmen so zu heißem Dank wie solche, die wir als Antwort aufs Gebet bekommen. Und Gott gibt uns so gern, was wir bitten, wenn es geeignet ist, unser wahres Glück und die Ehre Gottes zu fördern. Benjamin Beddome † 1795.
  Man sagt, es sei in Persien noch Sitte, dass der König, wenn er einem Gast, zum Beispiel dem Gesandten eines andern Fürsten, eine besondere Ehre erweisen wolle, ihn den Mund weit auftun heiße; dann fülle ihn der König mit Süßigkeiten, soviel er nur fassen könne, manchmal wohl gar mit Juwelen. Gott aber wird uns den Mund nicht mit glänzenden Steinen, sondern mit viel kostbareren Schätzen füllen. John Gadsby 1862.


V. 12. Aber mein Volk hörte nicht auf meine Stimme. Wisse, Sünder, dass Gott, wenn du schließlich den Himmel verfehlst, seine Hände über dir waschen und sich von deinem Blut rein erklären kann. Deine Verdammnis wird ganz dir zur Last fallen; es wird sich dann erweisen, dass in den Verheißungen kein Trug und bei dem Evangelium keine Hintergedanken waren, sondern dass du selber freiwillig das ewige Leben von dir gestoßen hast, was für gegenteilige Reden deine lügnerischen Lippen auch führen mögen. Und Israel will mein nicht. Wenn einst der himmlische Gerichtshof über deiner ermordeten Seele zu Gericht sitzen wird, um zu erforschen, wie es mit dir zu diesem kläglichen Ende gekommen ist, wirst du selber an deiner Verdammnis schuldig befunden werden. Niemand verliert Gott, als wer mit Willen sich von ihm trennt. William Gurnall † 1679.


V. 13. So hab’ ich sie gelassen in ihres Herzens Verstocktheit. (Grundtext) Es kann jemand dem Satan übergeben werden zum Verderben des Fleisches, auf dass der Geist selig werde (1. Kor. 5,5); aber der Verstocktheit übergeben werden, ist tausendmal ärger; denn das geschieht zur Verdammnis in Kraft des göttlichen Zorns. John Shower † 1715.
  Dass sie wandelten nach ihrem Rat. Gott überließ sie dem Geist der Spaltung, der Unzufriedenheit, des Neides, der Anmaßung, der Selbstsucht und Selbstüberhebung und so der Verwirrung und dem Verderben. Das ist stets der Ausgang, wenn Gott ein Volk seinem eigenen Rat überlässt: es wird bald alles ein wildes Chaos; sie verrennen sich selber in einen wirren Haufen und stürzen sich gegenseitig ins Verderben. Es ist noch ebenso gut, gar keinen Rat von Menschen zu haben, als nur solchen von Menschen. J. Caryl † 1673


V. 14. O dass doch mein Volk auf mich hören wollte. Gott spricht da, als geschähe es ihm zugut, wenn wir auf ihn hören; er bittet und vermahnt uns, wir möchten doch auf seine Ratschläge und Befehle hören. Er sagt den Israeliten allerdings, dass ihr Gehorsam sich für sie selber nutzreich erweisen würde, V. 15; aber zugleich deutet seine Redeweise an, welche Lust es ihm sein würde, ihnen Gutes tun zu können. Joseph Caryl † 1673.


V. 15. Wenn Gott nur seine Hand wider die Widersacher wendet, so sind sie bald gedämpft. Wenn er die Macht und Pracht, die Größe und Herrlichkeit aller derer in der Welt, welche seiner Gemeinde zuwider sind, nur anrührt, so fallen sie alsbald elendig zusammen. Eine Bewegung der Hand Gottes wird alle unsre Kämpfe enden. Joseph Caryl † 1673.


V. 17. Honig aus dem Felsen. Den meisten Reisenden, welche Palästina im Sommer durchwandert haben, ist es aufgefallen, welche Fülle von Honig die Bienen in hohlen Bäumen und Felsspalten aufspeichern. An Orten, wo die nackten Felsen der Wüste das einzige sind, was die Eintönigkeit des Landschaftsbildes durchbricht, und wo alles umher auf Verwüstung und Tod hinweist, wird dem Pilger die Fürsorge Gottes für sein Volk lebhaft zu Gemüt gebracht, wenn er den von den Bienen aufgespeicherten Honig glänzend von den Felsen herabtropfen sieht. John Duns 1868.
  Gott lässt Honig aus den Felsen quillen - die süßesten Freuden aus dem harten Gestein der Trübsal. Von Golgatha und dem Kreuz fließen die Segnungen, welche die reichsten und tiefsten Freuden bringen. Die Welt dagegen verwandelt die Quellen der Freude in Steine und Felsen der zeitlichen und ewigen Qual. Thomas Le Blanc † 1669.
  Wahrlich, Gott kann nichts in dieser Welt für sein Volk zu gut halten, da er die zukünftige Welt nicht zu gut für sie achtet. Er, der auch seines eignen Sohnes nicht hat verschonet, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken - auch das Beste von zeitlichem Guten, wenn es nach seiner weisen Einsicht für uns wirklich gut ist. J. Caryl † 1673.


V. 9-17. Was kann der HERR in eines jeden Gewissen rege machen, an was für kräftige Züge und gnädige Anträge kann er ein Herz mahnen, wenn er so vor dasselbe hintritt: "Höre mich, ich will zeugen, ich will dich auf dein Gewissen fragen! O wolltest du! O hättest du gewollt, sooft ich gewollt habe, wieviel anders würde es um dich stehen!" Gebe doch jedes seinen Willen redlich her zu dem, was Gott an ihm sucht! Sonst könnte es zuletzt wollen, wenn Gott nicht mehr will und seine Hand zurückgezogen hat. Karl Heinrich Rieger † 1791.


Homiletische Winke

V. 2. Der Gemeindegesang sollte wirklich ein Gesang der ganzen Gemeinde sowie herzhaft und fröhlich sein. Warum sollte dies so sein, und welchen Segen brächte es?
V. 2-4. 1) Der Lobpreis Gottes soll aufrichtig sein; darum kann er nur von Gottes Volk dargebracht werden. 2) Er soll beständig, zu allen Zeiten zum HERRN emporsteigen. 3) Doch gibt es Zeiten, die besonders zum Lobpreisen ermuntern. a) Von Gott festgesetzte Zeiten, wie der Sabbat und andre Feste Israels. b) Besondere Anlässe, welche die Vorsehung uns darreicht, wie besondere Durchhilfen und Gnadenerweisungen des HERRN. 4) Der Lobpreis Gottes sollte öffentlich geschehen. George Rogers 1874.
V. 7. Die Freilassung der Gläubigen. Gesetzesarbeit ist beschwerlich, knechtisch, nie vollendet, ohne Lohn, wird immer widerlicher. Nur der HERR kann uns von diesem Sklavenjoch befreien; er tut es durch seine Gnade und Macht. Wir tun wohl daran, der Zeit unsrer Befreiung zu gedenken, uns für diese Wohltat dankbar zu erweisen und unserm freien Stande gemäß zu wandeln.
V. 8. 1) Erhörte Gebete sind Fesseln der Dankbarkeit. 2) Frühere Prüfungszeiten sind warnende Erinnerungen. 3) Die Gegenwart ist die Zeit, in welcher neue Gebetserhörungen und neue Glaubensprüfungen zu erwarten sind.
V. 8c. Probezeiten in dem Lebensgang der Gläubigen.
V. 9-11. 1) Ein barmherziger Vater, der seinem Kinde zuruft: Höre, mein Volk usw. 2) Ein machtbewusster Herrscher, der sein Hoheitsrecht wahrt: Dass unter dir kein andrer Gott sei usw. 3) Ein allgenügsamer Freund, der volles Vertrauen beansprucht: Ich, der HERR, bin dein Gott. Tue deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen. Richard Cecil † 1810.
V. 9.12.14. Der Befehl, der Ungehorsam, die Klage über diesen Ungehorsam.
V. 10. Abgötterei, eine uns stets anklebende Sünde. Was für Gerichte zieht sie nach sich? Wie können wir uns von ihr reinigen?
V. 11. 1) Der Gott, der in der Vergangenheit große Gnade erwiesen hat: Ich, der HERR, bin dein Gott, der usw. 2) Derselbe ermuntert in der Gegenwart zu neuen Bitten: Tue deinen Mund weit auf, und 3) er verheißt für die Zukunft neue Segnungen: Ich will ihn füllen.
V. 12. 1) Israel, das auserwählte, wohl unterwiesene und hochbevorzugte Volk, 2) will mein nicht, seines Gottes, Königs, Freundes usw.
V. 12.13. 1) Die Sünde Israels: Es will nicht auf Gottes Stimme hören. 2) Das war eine besonders schwere Sünde, a) weil Gott so viel für Israel getan hatte, und b) weil es diesem Gott andre Götter vorzog. 3) Daher war auch die Strafe a) besonders schwer: So hab ich sie gelassen usw.; b) durchaus gerecht: Israel will mein nicht, - so sollen sie wandeln nach ihrem Rat. George Rogers 1874.
V. 14-17. Der glückliche Stand eines gehorsamen Gläubigen. 1) Seine Feinde werden gedämpft. 2) Seine Freuden sind beständig. 3) Alle seine Bedürfnisse werden völlig befriedigt.
  Was verlieren Abtrünnige alles?
V. 17. Geistliche Festspeisen. 1) Wer bietet sie dar? 2) Für wen sind sie stimmt? 3) Was wirken sie? Volle Sättigung.

Fußnoten

1. So die LXX u. a., die jedenfalls tOtIgIha l(a, bei den Keltern, gelesen haben. Vergl. Luther 1524: Über den Keltern. Bäthgen neigt sehr zu dieser Lesart und Übersetzung, die auch in dem Inhalt unseres Psalms eine Stütze findet, wenn man ihn mit Luther, de Wette, Bäthgen u. andern auf das (der Weinlese folgende) Laubhüttenfest bezieht. Siehe darüber die 1. Anm. zu V. 4, Seite 691.

2. Die meisten Neueren verstehen das nur noch Spr. 7,20 vorkommende Wort nach dem Syr. vom Vollmond (mit bedeckter, d. i. gefüllter Scheibe). Die den Bemerkungen Spurgeons zugrunde liegende Übers. ruht auf einer alten, von den LXX, Vulg. und den meisten Rabbinern befolgten jüdischen Erklärung, welche hsk gleich ssk zählen (2. Mose 12,4) nimmt: die bestimmte, berechnete Zeit. Der Übersetzung Luthers liegt wohl auch diese Tradition zugrunde; doch setzt er frei: die Laubrüste, nach seiner Auffassung des Psalms als eines für dieses Fest gedichteten. Ob die einfach mit unser Fest bezeichnete Feier das Passah oder das Laubhüttenfest sei, darüber sind die Meinungen sehr geteilt. Beide Feiern beginnen am Vollmond, beide werden als das Fest schlechthin bezeichnet - das Laubhüttenfest 1. Könige 8,2; Hes. 45,25 usw., das Passah Jes. 30,29 und besonders in späterer Zeit. V. 6 spricht für das Passah, das (allerdings auch sonst am Neumond übliche) Posaunenblasen V. 4 und die gesamte jüdische Tradition für den "Posaunentag" des 7. Neumonds und das ihm folgende Laubhüttenfest.

3. Der Erzbischof von Canterbury ist das Haupt der englischen Staatskirche.

4. Spurgeon geht hier in seinem puritanischen Eifer dem deutschen Leser zu weit. Es steht ohne Zweifel der Gemeinde des Herrn frei, besondere Gedenktage zu halten; aber allerdings darf sie solche Feiern nicht zu einem bindenden Gesetz, zu einer Christenpflicht machen. Wenn man sieht, wie um solcher von Menschen gesetzten Festzeiten willen so vielfach der doch schon in der göttlichen Schöpfungsordnung begründete wöchentliche Ruhetag entweiht wird (man denke an die sogen. silbernen und goldenen Sonntage vor Weihnachten), so begreift man die puritanische Abkehr von allen solchen Festen.

5. Von einem Ausziehen aus Ägyptenland (LXX, Hieronymus, Luther) kann jedenfalls der Grundtext nicht verstanden werden, sondern nur von einem Ausziehen über das Land hin (vergl. Luther 1524 hier: da er auszog in Ägyptenland, und 1. Mose 41,45 die gleichen Worte von den amtlichen Reisen Josephs) oder vom Ausziehen wider das Land. In beiden Fällen ergibt sich als Subjekt Gott. Zugrunde liegt 2. Mose 11,4. Manche (z. B. Calvin, Hengstenberg) wollen die Worte davon verstehen, dass Joseph-Israel beim Auszug das Land Ägypten durchzogen hätte; aber das ist schon geographisch nicht richtig, da Gosen Grenzland war. Spurgeon nimmt beides, den vermeintlichen Durchzug Israels und das strafrichterliche Ausziehen Gottes über das Land, zusammen, nach der bei ihm beliebten, aber gefährlichen Weise, verschiedene Auslegungen zu einem gehäuften Ganzen zu vereinigen.

6. Man beachte aber, dass das "wo" der engl. Übers. im Grundtext fehlt. Man tut besser, den Satz mit den masoret. Akzenten als für sich stehend zu betrachten, und zwar in dem Sinne, dass der Dichter bez. Israel darin den V. 7. 8 an Israel ergehenden Gottesspruch ankündigt: Eine unbekannte Sprache (oder: Sprache eines Unbekannten) vernehme ich. Ich habe seine Schulter usw.

7. So heißt das engl. Reichsgrundgesetz, das die Freiheiten des Volkes verbrieft.

8. Nach dem masoret. Text ginge der Psalm in V. 17a in einen historischen Rückblick über: Und er speiste ihn (Israel), wozu aber V. 17b nicht stimmt. Schon Luther hat sich hier, wie in manchen anderen Fällen, nicht an den überlieferten hebräischen Text gebunden. Seiner Übers. liegt die ohne Zweifel richtige Konjektur Whl"yki)A)aw: zugrunde. Der überliefere Text ist alt, wie die alten Übersetzungen beweisen. Es liegt ihm wohl ein Hörfehler beim Abschreiben zugrunde; denn wie Bäthgen bemerkt, wurde das Aleph zwischen zwei Vokalen fast wie Jod gesprochen.