Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 77 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Asaphs. Asaph war ein Mann, dessen Geist durch viel Trübsal und Anfechtung gereift war, und seine Lieder bewegen sich oft in der Molltonart. Er war ein nachdenkender, tiefsinniger Mensch, philosophisch veranlagt und dabei von herzlichem Glauben beseelt; über allem aber liegt bei ihm ein Hauch von Schwermut, und das gibt seinen Dichtungen einen eigentümlichen Reiz. Um ihm mit vollem Verständnis folgen zu können, muss man aus eigener Erfahrung mit den tiefen Wassern der Trübsal vertraut sein und schon manchen Sturm auf dem Ozean des Lebens durchgemacht haben. Für Jeduthun, vorzusingen. Das bedeutet vielleicht: Dem Jeduthun als Sangmeister zur musikalischen Ausführung übergeben. Es war geziemend, dass ein anderer Leiter des heiligen Psalmengesangs an die Reihe komme. In den Vorhöfen des Hauses Gottes soll keine Harfe schweigen. Andere Erklärungen sehe man in den Vorbemerkungen zu Ps. 62 nach.

Einteilung. Wenn wir dem dichterischen Aufbau des Psalms folgen und demnach bei den Selas die Einschnitte machen, erhalten wir folgende Teile. V. 2- 4 fleht der Gottesmann in seiner Trübsal zu Gott. V. 5-10 klagt und grübelt er im Selbstgespräch. V. 11-16 richtet sich sein Nachsinnen auf Gott und V. 17-21 schaut er als in einem Gesicht die Wunder des Roten Meers, und sein Blick geht weiter auf die wunderbare Führung durch die Wüste. Dabei angekommen, schließt er auf einmal, wie in Entzückung verloren, den Psalm so plötzlich, dass man darüber stutzt. Der Geist Gottes weiß, wann er mit Reden aufhören soll, und das ist besser als die Gewohnheit mancher, die, um einen kunstgerechten Schluss zu machen, die Worte bis zur Ermüdung ausdehnen. Der uns vorliegende Psalm ist nur für gereifte Jünger des Herrn; aber ihnen ist er auch von seltenem Wert als Darstellung ihrer eigenen inneren Kämpfe.


Auslegung

2. Ich schreie mit meiner Stimme zu Gott;
zu Gott schreie ich, und er erhöret mich.
3. In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn;
meine Hand ist des Nachts ausgereckt und lässt nicht ab;
denn meine Seele will sich nicht trösten lassen.
4. Wenn ich betrübt bin, so denke ich an Gott;
wenn mein Herz in Ängsten ist, so rede ich. Sela.


2. Ich schreie mit meiner Stimme zu Gott.1 Der uns zur Betrachtung vorliegende Psalm hat viel Traurigkeit in sich, aber wir können zum Voraus gewiss sein, dass er gut enden werde; denn er fängt mit Gebet an, und ernstes Flehen nimmt nie ein schlimmes Ende. Asaph eilte nicht zu Menschen, sondern zum HERRN, und an ihn wandte er sich nicht mit kunstvoll gesetzten, hochtönenden, geschraubten Worten, sondern mit dem natürlichen, ungekünstelten Ausdruck des Schmerzes: er schrie zu Gott. Er machte dabei von seiner Stimme Gebrauch; denn wiewohl das laute Aussprechen unserer Herzensworte nicht zum Wesen des Gebets gehört, wird es uns doch oft durch die Dringlichkeit unserer Anliegen abgenötigt. Wir finden uns zuzeiten gezwungen laut zu beten, weil unsere von tiefer Angst bedrängte Seele so besser Luft bekommt. Es beruhigt, die Sturmglocke läuten zu hören, wenn Diebe in das Haus eingebrochen sind. Zu Gott schreie ich. Er geht abermals ans Flehen. Wenn einmal nicht genügt, so ruft er wieder. Er bedarf einer Antwort, er erwartet eine, und er ist voll Verlangens, sie schnell zu bekommen. Darum ruft er immer aufs neue, er betet laut und immer lauter, denn der Klang seiner Stimme hilft seinem Eifer. Und er erhöret mich. Das unverschämte Drängen (Lk. 11,8) trägt den Sieg davon. Die Gnadenpforte öffnet sich dem andauernden Klopfen. Auch wir werden das in unserer Stunde der Trübsal erfahren: der Gott aller Gnade wird zur rechten Zeit auf uns hören.

3. In der Zeit (wörtl.: am Tage) meiner Not suche ich den Herrn. Den ganzen Tag treibt ihn die Not, seinen Gott aufzusuchen, so dass er beim Hereinbrechen der Nacht noch ebenso dringend ihm nachfleht. Gott hat sein Angesicht vor seinem Knecht verborgen; darum ist es dessen erste Sorge in seiner Bedrängnis, seinen Herrn wiederzufinden. Das heißt der Sache auf den Grund gehen und das Haupthindernis zuerst hinwegräumen. Krankheit und Trübsal sind leicht genug zu ertragen, wenn Gott uns nahe ist; aber ohne ihn drücken sie uns zu Boden. Meine Hand ist des Nachts ausgereckt und lässt nicht ab, d. i.. wird nicht müde. Wie am Tage, so lastete auch des Nachts sein Leid auf ihm; so hielt denn auch sein Flehen an. Am Tage suchte er mit Auge und Stimme nach dem HERRN, nachts streckte er verlangend seine Hand nach ihm aus. Die Stille der Nacht verschaffte ihm keine Ruhe; unablässig schrie er mit gen Himmel erhobenen Händen hilfesuchend zum HERRN. Denn meine Seele will sich nicht trösten lassen. Die einen Tröstungen wies er ab als zu schwach für seinen Fall, andere als unwahr, wieder andere als unheilig; aber vornehmlich wegen der inneren Unruhe, in welche er geraten war, lehnte er auch solche Trostgründe ab, die sich an ihm als wirksam hätten erweisen müssen. Er machte es wie ein Kranker, der sich auch von der besten und stärkendsten Speise abwendet. Es ist unmöglich, Menschen zu trösten, die sich des Trostes weigern. Du magst sie zu den frischen Wassern der Verheißungen führen; aber wer wird sie dazu bringen zu trinken, wenn sie nicht wollen? Schon mancher in stummer Verzweiflung Hinbrütende hat den Becher der Freude von sich gestoßen, mancher Sklave des Kummers seine Ketten geküsst. Es gibt Zeiten, wo wir gegen jede gute Botschaft misstrauisch sind und keine Überredungskunst uns zur inneren Ruhe bringt, ob auch die beglückende Wahrheit so offen vor uns läge wie des Königs Heerstraße.

4. Ich gedenke an Gott und seufze. (Wörtl.) Gott, der dem Glauben der Quell aller Wonne ist, ward für das durch Gram verwirrte Herz des Psalmisten ein Gegenstand des Schreckens, dass er stöhnen und seufzen musste, sobald er sein gedachte. Die Gerechtigkeit, Heiligkeit, Macht und Wahrhaftigkeit Jehovas haben alle eine dunkle Seite, und es mag in der Tat dazu kommen, dass uns alle Eigenschaften Gottes finster erscheinen, wenn unser Auge krank ist; sogar der Lichtglanz der göttlichen Liebe blendet uns dann und erfüllt uns mit dem schrecklichen Argwohn, wir hätten daran kein Teil noch Anrecht. Ein solcher ist wahrlich elend daran, dem selbst das Gedenken an den ewig Hochgelobten Qual verursacht; und doch kennen gerade die Besten unter den Menschen diese Abgrundstiefen aus Erfahrung. Ich sinne nach, und es verzagt mein Geist. (Wörtl.) Er sann und sann und sank doch immer tiefer. Seine inneren Beunruhigungen sanken nicht in Schlummer, sobald sie ausgesprochen waren; vielmehr kamen sie mit verdoppelter Macht auf ihn und schlugen über ihm zusammen wie ungestüme Wogen eines tobenden Meeres. Wären es nur körperliche Schmerzen gewesen, die ihn peinigten, so hätte er es wohl noch ertragen mögen; aber der edelste Teil seines Ich, sein Geist, wand sich in Schmerzen, das Leben selbst in ihm war wie zermalmt und alles Licht ihm verdunkelt. In solcher Lage wünscht man den Tod herbei als Erlöser von den Qualen; denn das Leben wird zur unerträglichen Last. Wenn kein Lebensmut mehr in uns ist, der unsere Schwäche aufhält, so sind wir bald verloren. Es geht uns dann wie jemand, der in Dornen verstrickt ist, die ihm die Kleider vom Leibe reißen, wo jeder Dorn zur Lanzette wird, so dass der Ärmste aus tausend Wunden blutet. Ach ja, mein Gott - der diese Auslegung niederschreibt, weiß gar wohl, was dein Knecht Asaph meint; denn auch seine Seele ist vertraut mit Gram und Schmerzen. Ihr tiefen Schluchten und ihr einsamen Höhlen der Schwermut, mein Geist kennt gründlich eure schreckliche Düsternis! Sela. Lasst den Gesang ganz sacht werden; das ist keine muntere Tanzweise für die behenden Töchter der Musik. Haltet eine Weile inne, lasst den Kummer zwischen seinen Seufzern Atem schöpfen!


5. Meine Augen hältst du, dass sie wachen;
ich bin so ohnmächtig, dass ich nicht reden kann.
6. Ich denke der alten Zeit,
der vorigen Jahre.
7. Ich denke des Nachts an mein Saitenspiel
und rede mit meinem Herzen; mein Geist muss forschen.
8. Wird denn der Herr ewiglich verstoßen
und keine Gnade mehr erzeigen?
9. Ist’s denn ganz und gar aus mit seiner Güte,
und hat die Verheißung ein Ende?
10. Hat Gott vergessen, gnädig zu sein,
und seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen? Sela.


5. Meine Augen hältst du, dass sie wachen. Die Angst, welche deine Züchtigungen in mir erregen, lässt es nicht zu, dass mir die Augenlider zufallen, so müde ich auch sein mag; meine Augen schauen ununterbrochen aus, wie Schildwachen, denen zu schlummern verboten ist. Der Schlaf ist ein mächtiger Tröster; aber er flieht die Bekümmerten, und ihr Kummer vertieft sich nur in der Stille der Nacht und frisst sich ins Herz hinein. Wenn Gott uns die Augen wach hält, welches Schlafmittel mag uns dann Ruhe geben? Wie viel haben wir ihm dafür zu danken, wenn er uns süßen Schlummer schenkt! Ich bin voller Unruhe, dass ich nicht reden kann. (Grundtext) Großer Kummer macht stumm. Tiefe Wasser rauschen nicht zwischen den Kieseln wie die seichten Bächlein, die von vorübergehenden Regenschauern leben. Das Reden vergeht einem Menschen, dem der Mut vergeht. Der Psalmist hatte zu Gott geschrien, aber zu Menschen konnte er nicht reden; - wie gut ist’s, dass wir, wenn wir das Erste tun können, nicht zu verzweifeln brauchen, ob wir auch zum Letzteren ganz außerstande sind. Schlaflos und sprachlos, so war Asaph am Äußersten angekommen, und doch sammelte er sich wieder zu neuer Kraft, und dasselbe sollen auch wir erleben.

6. Ich denke der alten Zeit, der vorigen Jahre. War in der Gegenwart nichts Gutes, so durchsuchten seine Gedanken die Vergangenheit, um Trost zu finden. Die Erinnerung borgt ein Licht von den Altären von gestern, um das Dunkel von heute zu erhellen. Es ist unsere Pflicht, Trost zu suchen und uns nicht in düsterem Stumpfsinn der Verzweiflung in die Arme zu werfen. Beim stillen Nachsinnen können uns Dinge vor die Augen treten, die sich als sehr geeignet erweisen, unseren Mut aufzurichten. Und kaum ein Gegenstand des Nachsinnens bietet mehr Aussicht, sich als trostreich zu erweisen, als der, welcher sich auf die alte Zeit, auf die Jahre der Vorzeit bezieht, wo die Treue Gottes von Scharen der Seinen auf die Probe gestellt und bewährt erfunden wurde. Doch scheint es, dass auch diese Betrachtung in der Seele des guten Asaph eher Niedergeschlagenheit als Freude bewirkt habe: er stellte seine eigene traurige Lage allem dem, was in den ehrwürdigen Erfahrungen der alten Gottesmänner Lichtvolles war, gegenüber und kam so desto tiefer ins Klagen. Das ist ja eben das Unglück eines von Schwermut erfüllten Gemütes, dass es nichts sieht, wie es gesehen werden sollte, sondern alles wie durch einen dichten Nebelschleier verdüstert schaut.

7. Ich denke des Nachts an mein Saitenspiel. Zu anderen Zeiten hatte sein Gemüt auch für die dunkelsten Stunden ein Lied gehabt; jetzt aber konnte er sich die Sangweisen nur wie alte, fast entschwundene Erinnerungen zurückrufen. Wo ist die Harfe, die einst unter dem Griff der von Freude belebten Finger so voll Mitgefühls erbebte? Und du, meine Zunge, hast du das Lobsingen gar vergessen? Verstehst du dich nur noch auf Seufzer und Trauerweisen? Ach, wie anders ist’s doch geworden, wie kläglich bin ich heruntergekommen - ich, der ich der Nachtigall gleich das nächtliche Dunkel2 mit süßen Tönen erfüllte, bin nun ein würdiger Kumpan der kreischenden Eule! Und rede (sinnend) mit meinem Herzen. Er fuhr fort, sein Inneres zu durchforschen; denn er war fest entschlossen, seinem Kummer auf den Grund zu kommen und ihm bis zu seinem Ursprung nachzuspüren. Sein Verfahren war gründlich; denn er besprach sich nicht nur mit seinem Verstand, sondern mit seinem innersten Herzen: sein ganzes Herz war dabei. Er gehörte nicht zu den geistigen Tagedieben, die in ihrem Trübsinn mit Kleinigkeiten ein müßiges Gedankenspiel treiben; nein, mit ganzer Willenskraft griff er die Sache an, mit dem beherzten Entschluss, nicht feig vor der Verzweiflung die Waffen zu strecken, sondern bis zum letzten Atemzug, um seine Hoffnung zu kämpfen. Mein Geist muss forschen. Er durchforschte seine Erfahrungen, seine Erinnerungen, seine Vernunft, sein ganzes Wesen nach allen Seiten, um entweder Trost zu finden oder die Ursache zu entdecken, warum ihm solcher versagt blieb. Der Mann stirbt nicht durch die Hand des Riesen Verzweiflung, dem Seelenstärke genug geblieben ist, so mit dem Feind zu ringen.

8. Wird denn der Herr ewiglich verstoßen? Das war die wichtigste und schwerste der Fragen, welche sein Geist zu erforschen suchte. Er wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass der HERR die Seinen für eine Weile verlassen kann; was er aber fürchtete, war, dass diese Zeit endlos verlängert werden möchte. Ungestüm fragt er daher: Wird der HERR diejenigen völlig und endgültig verstoßen, die doch sein Eigen sind, und sie zum Gegenstand seiner verächtlichen Verwerfung machen, sie zu ewig Verstoßenen werden lassen? Er durfte sich überzeugen, dass das nicht sein könne. Kein einziges Beispiel ließ sich aus den Jahren der Vorzeit beibringen, das ihn hätte berechtigen können, dieser Besorgnis Raum zu geben. Und keine Gnade (wörtl. Huld, Wohlgefallen) mehr erzeigen? Viel Huld hatte Jehova bewiesen; sollte sich dieses Wohlwollen nie wieder kundtun? Sollte die Sonne untergegangen sein, um nie wieder emporzusteigen? Sollte dem langen, düsteren Winter nie ein Frühling folgen? Die Furcht hatte die Fragen eingegeben; aber sie selber sind auch das Heilmittel wider die Furcht. Wohl dem, der Gnade genug hat, solchen Fragen ins Angesicht zu schauen; denn ihre Antwort ergibt sich von selbst mit unwiderleglicher Klarheit und ist in hohem Grad geeignet, das verzagende Herz aufzurichten.

9. Ist’s denn ganz und gar aus mit seiner Güte (Gnade)? Wenn Gott auch keine Liebe des Wohlgefallens (V. 8 b) mehr für seine Auserwählten haben könnte, ist denn nicht seine Barmherzigkeit noch vorhanden? Ist diese ewige Quelle versiegt? Hat er kein Mitleid mehr mit den Bekümmerten? Und hat die Verheißung (Grundtext: auf alle Geschlechter) ein Ende? Sein Wort ist denen verpfändet, die es gläubig vor ihm geltend machen; ist dies Recht verjährt, hat Gottes Zusage Kraft und Wert verloren? Sollte das gesagt werden können, dass des HERRN Wort von einem Geschlecht zum andern zu Boden gefallen sei, während er vordem seinen Bund hielt allen Geschlechtern derer, die ihn fürchten? Es ist weise gehandelt, den Unglauben so ins Kreuzfeuer zu nehmen. Jede der Fragen ist ein Pfeil, der Verzweiflung mitten ins Herz gezielt. So haben auch wir in dunkeln Stunden auf Tod und Leben gerungen.

10. Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Ist El, der Starke, stark in allem, nur nicht im Erweisen von Gnade? Weiß er wohl zu betrüben, aber nicht zu tragen? Kann er irgendetwas vergessen? Vor allem, kann er vergessen, die Eigenschaft auszuüben, die seinem innersten Wesen am nächsten ist, da er doch die Liebe ist? Und seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen? Sind die Kanäle seines Erbarmens so verstopft, dass seine Liebe nicht durch sie hinfließen kann? Entbrennt sein Herz nicht mehr gegen seine eigenen geliebten Kinder? Rührt ihn ihr Schmerz nicht mehr, jammert ihn nicht ihres Elends? So saust ein Streich um den andern auf den Unglauben nieder, bis er aus der Seele ausgetrieben ist. Er wirft Fragen auf: so wollen wir ihn mit Fragen in die Enge treiben; er verleitet uns zu lächerlich törichten Gedanken und Handlungen: so wollen wir ihn mit Hohn überhäufen. Die Beweisführung unserer Stelle nähert sich stark der reductio ad absurdum, der Überwindung des Gegners dadurch, dass man seine Behauptungen bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgt und damit in ihrer ganzen Unvernünftigkeit bloßstellt. Reiß dem Misstrauen die Gewänder vom Leibe, mit denen es seine wahre Gestalt verhüllt: es wird sich als ein Monstrum von Torheit entpuppen. Sela. Einen Augenblick Ruhe; nach dem heißen Gefecht der Fragen tut eine besänftigende Pause Not.


11. Aber doch sprach ich: Ich muss das leiden;
die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern.
12. Darum gedenke ich an die Taten des HERRN;
ja, ich gedenke an deine vorigen Wunder
13. und rede von allen deinen Werken
und sage von deinem Tun.
14. Gott, dein Weg ist heilig.
Wo ist so ein mächtiger Gott, als du, Gott, bist?
15. Du bist der Gott, der Wunder tut;
du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.
16. Du hast dein Volk erlöset gewaltiglich,
die Kinder Jakobs und Josephs. Sela.


11. Aber doch sprach ich, oder: Doch da spreche ich: Dies ist meine Krankheit. (Grundtext nach manchen Auslegern.3 Er hat den Sieg errungen, der heiße Kampf ist vorbei, und er redet nun vernünftig und überschaut die Walstatt mit kühlerem Blut und ruhigerem Blick. Er gesteht ein, dass der Unglaube eine Krankheit, eine Schwäche, ja Torheit und Sünde ist. So verstehen manche die Worte Asaphs, und man kann dann die folgende Vershälfte so anfügen: dass sich die Rechte des Höchsten geändert habe. Dieser Wahn war eine schwere Krankheit; gottlob, dass der Psalmdichter von ihr genesen ist. Man wird aber besser den Sinn annehmen, welchen die Übersetzung Luthers gibt: Ich muss das leiden, nach der ähnlichen Stelle Jer. 10,19: Da sprach ich: Dies ist mein Leiden, ich will es tragen. Wenn wir merken, dass unsere Trübsal uns von dem HERRN bestimmt und zugemessen ist, dass sie unser verordnetes Teil ist, werden wir bald mit ihr ausgesöhnt und lehnen uns nicht länger gegen das Unvermeidliche auf. Warum sollten wir nicht damit zufrieden sein, wenn es doch des guten Gottes Wille ist? Was er anordnet, das haben wir nicht zu bekritteln. In der zweiten Vershälfte stößt die Übersetzung Luthers: Die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern, auf ernste sprachliche Bedenken; doch ist, wenn man nicht der schon zu Anfang gegebenen Deutung des Verses folgen will, eine andere4 Auffassung eines Wortes möglich: Dies ist mein (mir von Gott bestimmtes) Leiden; (es sind) die Jahre (des züchtigenden Waltens) der Rechten des Höchsten. Asaph würde nach dieser Übersetzung die Überzeugung ausdrücken, dass seine anhaltende, sogar schon Jahre hindurch dauernde Trübsal ihm von dem zugeteilt sei, der der unbeschränkte Herr ist über alles; doch liegt in den Worten dann auch, dass diese Zeit der Heimsuchung ein Ende nehmen werde, dass andere Jahre kommen würden, Jahre, wie er und die ehrwürdigen Väter der alten Zeit sie schon reichlich erlebt hatten, Zeiten der gnädigen Erquickung vom Angesicht des HERRN, da man schmecken und sehen kann, wie freundlich der HERR ist.

12. Wirklich lässt der Psalmist seine Blicke jetzt rückwärts schweifen; er will sich Trost holen, indem er sich die Güte des HERRN, ihm selber und andern seiner Kinder in vergangenen Zeiten erwiesen, in die Erinnerung zurückruft. Was wäre auch besser geeignet, alle Klagen zum Verstummen zu bringen und dem von Anfechtungen hin und her gestoßenen Herzen die Ruhe des kindlichen Vertrauens zurückzugeben, als solche Betrachtung der göttlichen Güte und Größe? Ich gedenke an die Taten des HERRN. Auf, meine Seele, in erhabenem Fluge schwing dich rückwärts, weg von den Unruhen der Gegenwart zu den denkwürdigen Ereignissen der Geschichte, zu den großen Taten Jehovas, des Herrn der Heerscharen; denn Er ist derselbe heute wie gestern und ist zu dieser Stunde wie vor alters bereit, seine Knechte zu schirmen und zu erlösen. Noch besser passt die andere Lesart: Ich (bringe in Erinnerung, d. i. ich) verkündige (rühmend) die Taten des HERRN. Siehe die nachfolgenden Bemerkungen zu V. 13. Ja, ich gedenke (Grundtext: Denn ich will gedenken) an deine vorigen Wunder. Was immer in Vergessenheit sinken mag, die wunderbaren Taten des HERRN aus der alten Zeit dürfen diesem Schicksal nicht anheimfallen. Die Erinnerung ist trefflich geeignet, dem Glauben Magddienste zu leisten. Wenn der Glaube seine sieben teuren Jahre hat, öffnet das Gedächtnis, gleich Joseph in Ägypten, seine Kornhäuser, in denen es Speise aufgespeichert hat.

13. Und ich will nachdenken über all dein Tun und über deine großen Taten sinnen. (Grundtext) Köstlich ist’s, sich durch den Geist Gottes auf die grünen Auen der Gnadentaten Jehovas führen zu lassen, sich dort zu lagern und in stiller Geistesarbeit wiederzukäuen, alle Gedanken hingenommen von dem einen herrlichen Gegenstand. In der deutschen Bibel sind die beiden Zeitwörter unseres Verses mit reden und sagen übersetzt. Es wird hier das Sinnen gemeint sein; aber aus dem vorigen Vers schon geht (nach der angegebenen zu bevorzugenden Lesart) hervor, dass der Zweck des Nachsinnens über die Taten des HERRN der sein sollte, diese rühmend zu verkündigen. Es ist gut, wenn das Überfließen des Mundes zeigt, welch trefflicher Dinge das Herz voll ist. Nachsinnen erzeugt gehaltvolle Rede. Wir müssen sehr beklagen, dass die Reden und Gespräche der Christen vielfach so dürftig, ja gänzlich unfruchtbar sind, weil man sich keine Zeit zum stillen Sinnen und Erwägen nimmt. Ein nachdenksamer Mensch aber muss auch zur rechten Zeit reden; sonst ist er in den geistlichen Dingen ein Geizhals und gleicht einer Mühle, die nur für den Müller Korn mahlt. Der Gegenstand unseres Nachdenkens sei auserlesen, dann wird unser Reden wahrhaft erbaulich sein. Wenn unser Sinnen auf törichte Dinge geht und wir dabei doch weise reden wollen, dann wird der Zwiespalt unseres Herzens bald jedermann kund werden. Wenn dagegen heilige Rede die Frucht frommen Sinnens ist, wirkt sie tröstlich und stärkend sowohl auf uns selbst als auf die Hörer; daher ihr Wert in der Verbindung, in welcher wir sie an dieser Stelle finden.

14. Gott, dein Weg ist heilig. Wenn wir Gottes Weg nicht verfolgen können, weil er "im Meer" ist und in "großen Wassern" (V. 20), ist es sehr trostreich, dass wir demselben doch trauen können, weil er heilig ist. Wir müssen mit der Heiligkeit Gemeinschaft haben, wenn wir Gottes Wege mit den Menschenkindern verstehen wollen. Die reines Herzens sind, werden Gott schauen, und die wahre Anbetung Gottes ist der Weg, auf dem man in die Geheimnisse der göttlichen Vorsehung eindringt. Wo ist so ein mächtiger (wörtl.: großer) Gott, als du, Gott, bist? In ihm sind Güte und Größe vereinigt. Er übertrifft in beidem alles, was genannt mag werden. Niemand kann auch nur für einen Augenblick mit dem Mächtigen in Israel verglichen werden.

15. Du bist der (rechte) Gott, ein Wundertäter. (Wörtl.) Du allein bist Gott und keiner mehr. Die falschen Götter sind mit dem Schein von Wundern umgeben, aber Du allein wirkst solche. Es ist dein ausschließliches Vorrecht, wunderbare Machttaten zu vollführen; dir ist das keine neue oder fremde Sache, sondern eine alte Gewohnheit. Hierin liegt ein neuer Grund für heilige Zuversicht. Es wäre wunderlich, wenn wir dem wundertätigen Gott nicht vertrauten. Du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern. Nicht nur Israel, auch Ägypten, Basan, Philistäa und die Völker alle haben Jehovas Macht geschaut. Sie war in der alten Zeit kein Geheimnis, und bis auf diesen Tag tut sie sich in aller Welt kund. Die Vorsehung und die Gnade Gottes entfalten beide auf die mannigfaltigste Weise Gottes Macht; in der Gnade des Evangeliums wird er sonderlich kund als der da Macht hat zu erretten. (Jes. 63,1 Grundtext) Wer wollte nicht stark sein im Glauben, wenn er sich auf einen so starken Arm stützen kann? Darf unser Vertrauen wankelmütig sein, wenn seine Macht doch außer aller Frage steht? Lass, liebe Seele, solche Erwägungen den letzten Rest des Misstrauens in dir bannen!

16. Du hast dein Volk erlöset gewaltiglich (buchstäbl.: mit deinem Arm), die Kinder Jakobs und Josephs. Das ganze Israel, die zwei Stämme Josephs sowohl wie diejenigen, welche von den andern Söhnen Jakobs stammten, waren aus Ägypten gebracht worden durch wunderbare Entfaltungen der göttlichen Macht. Diese Macht wird hier nicht der Hand, sondern dem Arm des HERRN zugeschrieben, weil in dem Arm die volle Kraft des Mannes ruht. Die Glaubensmänner des alten Bundes pflegten immer wieder auf die am Roten Meer geschehenen Wunder hinzuweisen, und wir können uns darin mit ihnen vereinigen; nur wollen wir darauf bedacht sein, zu dem Liede Moses, des Knechtes Gottes, das Lied des Lammes hinzuzufügen. (Off. 15,3.) Es liegt am Tage, wie reicher Trost aus solcher Betrachtung der Heilstaten Gottes zu ziehen ist; denn der, welcher sein Volk aus dem Diensthause geführt hat, wird sein Werk der Erlösung und Befreiung fortsetzen, bis wir zur verheißenen Ruhe eingehen. Sela. Noch eine Pause, zum Atemholen für den nun folgenden Lobgesang auf Gott als den Erlöser aus Ägyptens Drangsal.


17. Die Wasser sahen dich, Gott,
die Wasser sahen dich und ängsteten sich,und die Tiefen tobeten.
18. Die dicken Wolken gossen Wasser,
die Wolken donnerten,und die Strahlen fuhren daher.
19. Es donnerte im Himmel,
deine Blitze leuchteten auf dem Erdboden; das Erdreich regete sich und bebete davon.
20. Dein Weg war im Meer,
und dein Pfad in großen Wassern,und man spürte doch deinen Fuß nicht.
21. Du führetest dein Volk wie eine Herde Schafe
durch Mose und Aaron.


17. Die Wasser sahen dich, Gott, die Wasser sahen dich und ängsteten sich. Als ob es sich der Gegenwart seines Schöpfers bewusst gewesen wäre, schickte sich das Meer an, vor seinem Angesicht zu fliehen. Die Vorstellung ist hochdichterisch; der Psalmsänger hat die Begebenheit am Schilfmeer lebhaft vor Augen und beschreibt sie in großartigen Zügen. Die Wasser sahen ihren göttlichen Meister; aber der Mensch will ihn nicht erkennen. Jene erbebten vor Angst wie in Geburtswehen; aber stolze Sünder empören sich frech wider Gott und scheuen sich nicht vor ihm! Und die Fluten erzitterten. (Grundtext) Bis in die Tiefen erschauerten die Wassermassen vor Furcht; die stillen Höhlen der See, tief drunten in den Meeresabgründen, wurden von Beben ergriffen, und die tiefsten Rinnsale wurden entblößt, als das Wasser von seinem Ort wegstürzte im Schrecken vor dem Gott Israels.

18. Die dicken Wolken gossen Wasser. Im Gehorsam gegen den allgewaltigen Gebieter half die niedere Schicht des Dunstkreises mit bei der Vernichtung des ägyptischen Heeres. Die Wolkenwagen des Himmels jagten herbei, um ihre Fluten über sie auszuschütten. Die (hohen) Wolken donnerten. Aus den höheren Regionen ließ die furchtbare Artillerie des Königs der Heerscharen den Donner ihrer Geschützsalven ertönen. Krach auf Krach erdröhnte über den Häuptern der verwirrten Feinde, und jeder Schlag mehrte ihren Schrecken und steigerte ihre Bestürzung. Und die Strahlen fuhren daher. Blitze schossen wie Pfeile von dem Bogen Gottes. Schnell fuhren die roten Flammenzungen daher, hierhin und dorthin; bald funkelten sie auf Helm und Schild, bald wieder erleuchteten sie mit unheimlichem Glanze die Schlünde der hungrigen See, die schon darauf lauerte, den Stolz Ägyptens zu verschlingen. Seht, wie alle Kreatur bereit ist, Gottes Winken zu gehorchen und ihre Macht an seinen Feinden zu erweisen!

19. Dein Donner erschallte rollend, wörtl.: im (schnellen) Wirbel, oder nach andern: im Wirbelwind. (Grundtext5 Mit entsetzlicher Schnelligkeit raste der Sturmwind daher und trieb alles vor sich hin, einem mit wildem Ungestüm getriebenen Streitwagen vergleichbar, dessen wirbelnde Räder alles zermalmen. Und aus dem feurigen Gefährt erscholl eine gewaltige Stimme - deine Stimme, o HERR -, wie wenn ein mächtiger Held sein Schlachtross in den Kampf treibt und dazu lautes Kriegsgeschrei erhebt. Der ganze Himmel erdröhnte von der Stimme des Herrn der Heerscharen. Deine Blitze leuchteten auf dem Erdboden. Der ganze Erdkreis leuchtete auf von den Blitzflammen Jehovas. Es bedurfte keines anderen Lichtes bei der Schlacht jener Schreckensnacht; jede Woge funkelte von Feuerflammen, und das Ufer leuchtete im Glanze unzähliger Himmelsfackeln. Wie bleich waren die Angesichter der Menschen in jener Stunde, als ringsumher das Feuer vom Meer zum Ufer, von den Klippen zu den Hügeln, von den Bergen zu den Sternen hüpfte, bis das ganze Weltall, Jehovas Sieg zu Ehren, illuminiert war! Das Erdreich regete sich und bebete davon. Ein Erdbebenstoß folgte dem andern. Das feste Land geriet, von demselben Schauergefühl wie das Meer ergriffen, ganz aus seiner Ruhe und hob und senkte sich keuchend und stöhnend vor Furcht. Wie erschrecklich bist du, o Gott, wenn du hervortrittst in deiner Majestät, um deine übermütigen Feinde in den Staub zu legen!

20. Dein Weg war im Meer. Weit unten in den verborgenen Rinnsalen der Tiefe ist dein heimlicher Pfad, und wenn es dir beliebt, kannst du das wogende Meer zur Heerstraße deines ruhmvollen Kriegszuges machen. Und dein Pfad in großen Wassern. Da, wo die Wellen schwellen und wallen, gehst du doch in majestätischer Ruhe einher, du Herrscher einer jeglichen schaumgekrönten Woge! Und man spürte doch deinen Fuß nicht, Grundtext: Und deine Fußstapfen waren nicht zu erkennen. Niemand kann deinen Spuren weder mit dem Fuß noch mit dem Auge folgen. Du bist allein in deiner Herrlichkeit, und deine Wege sind dem Auge der Sterblichen verborgen. Deine Absichten wirst du ausführen, aber die Mittel und Wege, welche du dazu benutzest, sind oft verhüllt; sie bedürfen keines Verbergens, denn sie sind an sich schon geheimnisvoll und unermesslich für das menschliche Verständnis. Anbetung sei dir, du Unerforschlicher!

21. Du führetest dein Volk (sanft) wie eine Herde Schafe durch Mose und Aaron. Welcher Übergang vom Sturmwetter zur Stille, vom Zorn zur Liebe. Sanft wie eine Herde war Israel geleitet worden, vom HERRN, aber durch menschliche Vermittlung, welche die überschwengliche Herrlichkeit der Gegenwart Gottes verhüllte. Der Ägypten schlug, war der Hirte Israels. Er trieb seine Feinde vor sich her, aber nicht so sein Volk; vor seiner Herde ging er her mit sanftem Schritt. Himmel und Erde fochten an seiner Seite gegen die Söhne Hams; aber sie waren ebenso dienstbar zu Nutz und Frommen der Söhne Jakobs. So schließen wir denn in der Stimmung andächtiger Freude und reich getröstet diesen inhaltreichen Psalm, das Lied eines Mannes, der das Sprechen verlernt hatte und doch so lieblich singen lernte wie kaum einer seiner Genossen.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Der Sänger ringt im Gebet mit Jahve und mit sich selbst. Immer aufs Neue versucht er, den Frieden der Seele zu gewinnen; aber er kann nicht zur Ruhe und zum Frieden kommen. Da erinnert er sich selbst und seinen Gott an dessen frühere Taten für sein Volk; er erinnert daran, wie Jahve Israel in früherer Zeit mit kraftvollem Arm aus Ägypten befreit und es durch Mose und Aaron geleitet hat. Durch die Erinnerung an die Vorzeit will er die Nöte der Gegenwart überwinden. Prof. Friedr. Bäthgen 1904.


V. 2-4. fasst er wie in einem Eingang alles summarisch zusammen, unter was für Not und Ernst er sich zu Gott gedrungen habe. Da scheint es zwar, als wenn die Erhörung nicht so lange ausgeblieben wäre; aber dabei ist zu merken, dass ein solcher Psalm erst nach überstandener Not ist gemacht worden, daher Asaph den Notstand und die gnädige Erhörung und Hilfe Gottes hat so nahe zusammennehmen können. Was aber dazwischen hineingekommen ist, das beschreibt er im Psalm weiter kläglich genug. So gibt es auch in unseren Kirchenliedern Stellen, wo z. B. die Sündennot, Gewissensangst und der Trost Gottes und die Freudigkeit daraus nahe in wenigen Versen zusammengenommen werden. Aber da muss man nicht meinen, dass es auch in der Erfahrung gerade so hurtig aufeinander gehe, als hurtig es sich nacheinander hersagen lässt, sondern es kann oft einen ziemlichen Weg geben, bis man von einem Vers in den andern überschreiten kann. Inzwischen hat es doch seinen Grund und guten Nutzen, dass Angst und die Genesung aus derselben so nahe zusammenkommt. Denn es findet sich beim guten Ausgang, dass einem doch Gott mitten in der Angst nahe gewesen ist; und dem, der in der Not steckt, macht dies ein gutes Herz, dass der Schritt in die das Herz erquickende Gnade Gottes nicht ferne sei. Karl Heinrich Rieger † 1791.


V. 2. Ich schreie mit meiner Stimme zu Gott. Der Psalmendichter murrte nicht wider Gott, er vergrub sich auch nicht in seinen Kummer, noch erfüllte er die Luft mit nutzlosem Gejammer, sondern er eilte in seiner Not schnurstracks zu Gott und schüttete ihm sein Herz aus, flehend, dass Gott ihm nicht die Gnade versagen wolle, welche er freigebig allen anbietet. Das ist das eine von alters her bis heute wohl erprobte Heilmittel, welches allen Kummer stillt. D.H. Moller 1639.


V. 3. In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn. Zeiten der Not sollen Zeiten anhaltenden Flehens sein; sonderlich in Zeiten innerer Anfechtung, wenn Gott sich uns entzogen zu haben scheint, gilt es, ihn zu suchen, und zu suchen, bis wir ihn gefunden haben. Der Psalmist suchte in seiner Trübsal nicht Zerstreuung in Arbeit oder Vergnügen, um einen Kummer auf diese Weise abzuschütteln, sondern er suchte Gott und seine Gnade. Wer Herzenskummer hat, der denke nicht daran, ihn hinunterzutrinken oder wegzulachen, sondern gehe auf seine Knie, um ihn wegzubeten. Matthew Henry † 1714.
  Meine Seele will sich nicht trösten lassen. Gott hat Vorsorge getroffen, dass es den Seinen nie an stichhaltigem und genugsamem Troste fehle. Er sendet ihnen Tröster, wie sie es nach ihren Umständen bedürfen. Aber sie weigern sich zuzeiten, den lieblichen Tönen zu lauschen, wie eine Schlange, die ihr Ohr verstopft, dass sie nicht höre die Stimme des Zauberers. (Ps. 58,5 f.) Der HERR hat ihnen vielleicht einen Götzen weggenommen; er enthält ihnen seine fühlbare Nähe vor, damit sie lernen, im Glauben zu leben; er hindert ihre irdischen Aussichten, oder er schreibt Eitelkeit auf alle ihre Kürbisse (Jona 4,7.8). Sie geben sich zornigem Unmut hin wie Jona, oder sie sinken in düstere Schwermut, oder sie lassen ihren Geist von ungebeugtem Stolz beherrschen, oder sie überlassen sich ganz dem Gram wie Rahel, oder sie fallen der Gewalt der Versuchung anheim, oder sie geben sich der Meinung hin, sie hätten kein Anrecht auf irgendwelchen Trost. Das ist falsch, alles entschieden falsch. Schau doch auf das, was dir geblieben ist, auf das, was das Evangelium dir anbietet, auf das, was der Himmel dir sein wird. Der Psalmdichter war von diesem Zustand genesen. Er hatte sich überzeugt, dass er unrecht getan hatte, sich des Trostes zu weigern. Er bereute diesen Fehler. Gesinnung und Verhalten waren bei ihm anders geworden, und er schrieb den Psalm uns zur Unterweisung und Warnung. Man beachte, dass Leute, die auf allen Trost Anspruch haben, oft durch ihre eigene Torheit am wenigsten Trost genießen. Gottes Kinder sind oft ihre eigenen Quälgeister, indem sie den Kelch der göttlichen Tröstungen von sich stoßen, sagend, sie seien dessen nicht wert. James Smith † 1862.
  Wiewohl ich nur auf ein kurzes Leben zurückschaue, habe ich doch schon so manche kennen gelernt, die so tief in die Verzweiflung geraten waren, dass sie jeden geistlichen Labetrunk, den man ihnen anbot, gleichsam gegen die Wand schmissen. Sie verstanden es meisterhaft, Beweisgründe gegen ihre eigene Seele zu finden, und setzten sich mit festem Willen gegen alles, das ihnen ein Trost und eine Stütze hätte sein können. Sie hatten eine Abneigung gegen alles Religiöse, wollten für sich nicht mehr Gottes Wort lesen und beten und weigerten sich auch, es mit andern zu tun, ja in dem überwältigenden Gefühl ihrer Sünde und des auf ihnen lastenden Zornes wiesen sie sogar die nötigen Bedürfnisse und Annehmlichkeiten des Lebens zurück, und das bis zu solchem Maße, dass ihr Leben untergraben wurde. Und doch, aus diesem schrecklichen Abgrund, aus diesem Zustand, da sie auf Erden schon fast in der Hölle waren, hat Gott sie errettet und ihnen solch reiche Erfahrungen seiner Huld und Gnade zuteil werden lasen, dass sie sie nicht um tausend Welten hergeben würden. O ihr verzweifelnden Seelen, ihr seht, dass andere, deren Zustand eben so schlimm, wo nicht schlimmer als der eure war, Gnade erlangt haben. Gott hat ihre Hölle in einen Himmel verwandelt, er hat sie in ihrem Elend angesehen, er hat ihr nagendes Gewissen gestillt und ihre verstörten Seelen zur Ruhe gebracht; er hat die Tränen von ihrem Angesicht gewischt und ist ihren Herzen ein Brunnquell des Lebens geworden. Darum verzaget nicht, sondern schaut auf zum Gnadenthron! Thomas Brooks † 1680.
  Meine Seele will sich nicht trösten lassen. Verstehe: mit Menschentrost und irdischer Hilfe, bis Gott selbst ihr zuspricht: Ich bin deine Hilfe. Johann David Frisch 1719.


V. 4. Ich gedenke an Gott und seufze. (Grundtext) Es sind Stunden, wie alle Gläubigen sie erleben, wo Gott und seine Wege dem Menschen unverständlich werden und der Mensch in tiefes Sinnen versinkt und am Ende nichts übrigbleibt als ein verzagungsvoller Seufzer. Durch Paulus wissen wir aber, dass es der Heilige Geist ist, der in solchen Seufzern den Gläubigen vor Gott vertritt (Röm. 8,26). Prof. August Tholuck 1843.


V. 5. Meine Augen hältst du, dass sie wachen. Du bist mit Schlaflosigkeit heimgesucht? Das ist ein Leiden, das Leuten mit einem schwachen Körper und einem nachdenksamen, tiefsinnigen Gemüte eigen ist. O wie ermüdend ist es, sich die ganze lange Nacht auf dem Lager von einer Seite zur andern zu werfen, dem Schlaf nachjagend, der doch, je ungestümer man ihn zu erreichen sucht, desto weiter von uns flieht! Könntest du es über dich gewinnen, das Verlangen nach dem Schlaf aufzugeben, so käme er vielleicht von selbst; nun du aber um ihn anhältst, weicht er immer ferner von dir. Sieh, der Mann, der über hundertundsiebenundzwanzig Länder gebieten konnte, vermochte doch nicht sich Schlummer zu entbieten. "In derselben Nacht konnte der König Ahasveros nicht schlafen", heißt es Esther 6,1. Und der gewaltige Beherrscher des babylonischen Reiches konnte den Schlaf, wiewohl er ihn schon erwischt hatte, nicht festhalten: sein Geist ward in Unruhe versetzt durch einen Traum, dass es um seinen Schlaf geschehen war (Dan. 2,1). Auch der Prediger wusste, was es ist, wenn einer weder Tag noch Nacht den Schlaf siehet mit seinen Augen (Pred. 8,16). Ja gewiss, wie es auf Erden nichts gibt, das der Natur süßer ist als der Schlaf (vergl. Jer. 31,26), so gibt es auch kaum etwas, das zu missen schmerzlicher und entmutigender ist. Wohlan, wenn du deine Augenlider nicht schließen kannst, so richte deine Augen, statt vergeblich den Schlaf zu suchen, aufwärts zu dem Schöpfer deines Lebens. Was immer für Mittelursachen deine Schlaflosigkeit bewirken mögen, so ist doch im letzten Grunde Er es, der deine Augenlider offen hält. Er, der deine Augen gemacht hat, hält den Schlaf von deinem Leibe ab zum Nutzen deiner Seele; so lass denn deine Augen nicht ohne dein Herz wachen. Wenn du deine Lider nicht zum Schlummer schließen kannst, so trachte danach, den Unsichtbaren zu schauen. Ein solcher Blick ist mehr wert als aller Schlaf, den deine Augen genießen könnten. Übergib dich seinen treuen Händen, dass er mit dir mache, was ihm beliebt. Solche Ergebung wirkt unendlich süße Seelenruhe; kannst du die finden, so wirst du dich ruhig in den Mangel leiblichen Schlafes schicken können. Bischof Joseph Hall † 1656.
  Ich bin voller Unruhe, dass ich nicht reden kann. (Grundtext) Kleine Leiden wollen geklagt sein, große Leiden machen stumm. Bei großen Trübsalen und Schrecken lässt der Geist die äußeren Glieder im Stich und zieht sich in das Innerste zurück; die Leibesglieder sind keiner willkürlichen Bewegung fähig, der ganze Körper zittert, die Augen blicken starr und die Zunge vergisst ihren Dienst. Daher kommt es, dass Niobe von den Dichtern als in einen Stein verwandelt dargestellt wurde. Bekannt ist auch die Erzählung im Herodot, wie Psammenit (Psammetich III.), der unglückliche ägyptische König, das Unglück seiner eigenen Kinder in stummem Schmerze betrauerte, als er aber die Leiden seiner Freunde erfuhr, diese mit bittern Tränen beklagte. H. Moller 1639.


V. 6. Ohne Zweifel war unseren ersten Eltern das Dunkel der ersten Nacht etwas Seltsames; Menschen, die noch nichts anderes als das Tageslicht gesehen hatten, konnten, als die Schatten der ersten Nacht sie umschlossen, nicht ohne Furcht sein. Aber als sie eine Anzahl Nächte hinter sich hatten, nach deren jeder sie das Morgenrot des neuen Tages hatten aufgehen sehen, durchlebten sie das Dunkel der finstersten Nächte ohne Furcht und in ebenso großer Sicherheit wie die heitersten Tage. Wenn Leute, die stets auf dem Festland gelebt haben, zum ersten Mal auf das Meer kommen, sind ihnen Wind und Wellen ganz entsetzlich; aber wenn sie nach und nach mit dem wilden Element vertraut werden, schlägt ihre Furchtsamkeit in Mut und Entschlossenheit um. Es ist von großem Wert, sich des zu erinnern, dass die Dinge, welche uns am meisten quälen, nicht neu sind, sondern schon vor unserer Zeit gewesen sind. Robert Baylie 1643.

V. 6 f. Ein redlicher Bürger in Stuttgart sagte auf seinem Totenbette, es sei ihm einmal zu einer Zeit der Demütigung nichts übrig gewesen, als dem Herrn zu sagen: Herr Jesu, du weißt doch, wie ich dich ehemals geliebt, gesucht, genossen, gelobt habe, d. h.: Ich denke der alten Zeit, ich denke der Saitenspiele usw. Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Mit diesem Spruch hat sich was Bedenkliches zugetragen. Da einst zu Rom ein Kardinal einen Papagei hatte und der Papst selbst in einer lustigen Gelegenheit ihn fragte, was er machte, hat dieses Tier zur Antwort gegeben: Ich denke der alten Zeit, der vorigen Jahre. Das wurde als eine Bestrafung der Üppigkeit der römischen Klerisei angesehen und der arme Vogel getötet, wie Voetius aus einem römischen Skribenten anführt. Johann David Frisch 1719.


V. 7. Ich denke des Nachts an mein Saitenspiel. Da die Gegenwart ihm so spärlichen Unterhalt für seine Seele bot, war er froh, von dem alten Vorrat zehren zu können, wie es die Bienen im Winter machen. John Trapp † 1669.
  An mein Saitenspiel in der Nacht. (And. Übers.) Das "Gesänge in der Nacht" (Hiob 35,10) ist ein Lieblingston des Alten Testaments, wie das "Wir rühmen uns der Trübsale" des Neuen Testaments, und es zeigt das auch, dass die beiden Testamente dieselben Wurzeln und denselben Geist haben. John Ker 1869.


V. 9. Hat die Verheißung ein Ende? Lass dich nicht durch den Anschein der Unmöglichkeit verleiten, bei irgendeiner der gnadenreichen Zusagen zu zweifeln, dass Gott sie erfüllen werde. Ob du auch gar nicht zu sehen vermagst, wie es geschehen könne - es ist genug, wenn Gott gesagt hat, dass er es tun werde. Es kann für das verheißene Heil gar keine Hindernisse geben, die wir zu fürchten hätten. Der HERR wird sich zur Ausführung seines Werkes seinen Weg bereiten. Wenn irgend etwas das Kommen des Reiches Christi zurückhalten könnte, so wäre es unser Unglaube; aber der Herr wird kommen, ob er auch keinen Glauben auf Erden fände (Lk. 18,8; vergl. Röm. 3,3). Wirf dein Vertrauen nicht weg, weil Gott seine Verheißung verzieht. Ob die Wege der Vorsehung auch kreuz und quer und rückwärts und vorwärts laufen, so hast du doch ein festes und gewisses Wort, darauf du dich verlassen kannst. Ob die Verheißungen auch für eine Weile scheinbar verzögert werden, können sie doch nimmermehr ungültig gemacht werden. Wage es nicht, solchen Gedanken in dir Raum zu geben. Das Dasein Gottes könnte so gut ein Ende haben wie seine Verheißung. Was nicht zu deiner Zeit kommt, wird zu seiner Zeit eilend erfüllt werden, und Gottes Stunde ist stets die beste. Timothy Cruso † 1697.
  Die Verheißung. Das Wort des Grundtextes kann bedeuten das Wort der Verheißung und das Wort der Unterweisung. Beides, so es der Seele abgehet, ist ihr unerträglich. J. D. Frisch 1719.


V. 10. Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? In was für Seelenangst musst du doch gewesen sein, Asaph, dass dir solch unglückselige Worte entschlüpfen konnten! Wahrlich, die Versuchung ward so schwer, dass der nächste Schritt Lästern gewesen wäre. Hätte nicht der gütige Gott, den du in dieser schwachen Stunde so kühn der Vergesslichkeit zeihst, deiner in großer Barmherzigkeit gedacht, so wäre aus dem, wovon du gestehst, dass es eine Schwachheit gewesen sei (V. 11 nach der anderen Übersetzung: Dies ist meine Krankheit), sündliche Verzweiflung geworden. Ich darf es wohl in deinem Namen sagen, dass um dieses Wort willen viele Tränen über deine Wangen geronnen sind - und es wäre noch viele mehr wert gewesen; denn was kann dir, o Gott, so nahe gehen wie der Ruhm deiner Barmherzigkeit? Es ist unter deinen Eigenschaften keine, die du so den Menschenkindern vor Augen zu stellen bemüht bist, und keine, die durch Verleumdungen beschimpft zu sehen dir mehr ein Abscheu wäre. Du kannst deinen Zorn gegen dein Volk vergessen, du kannst unsere Missetaten hinter dich werfen und unsre Sünden aus deinem Gedächtnis tilgen, HERR; aber du kannst ebenso wenig vergessen, gnädig zu sein, als du aufhören kannst, du selber zu sein. Ach Gott, ich fehle stündlich gegen deine Gerechtigkeit, und deine Barmherzigkeit tritt dabei immer wieder ins Mittel, dass mir die Schuld erlassen werde; o bewahre mich aber davor, gegen deine Barmherzigkeit zu sündigen. Auf welche Fürsprache könnte ich noch hoffen, wenn ich mir meinen Fürsprecher zum Feind gemacht hätte? Bischof Joseph Hall † 1656.


V. 11 ff. Die Sache nimmt plötzlich eine andere Wendung. Aus den herrlichen Erweisungen Gottes in der Vergangenheit, die bis dahin dem Zweifel an der fortdauernden Erwählung Nahrung gegeben, wächst auf einmal der Glaube an diese hervor. Prof. E. W. Hengstenberg 1844.
  Doch da spreche ich, d. h.: "So antworte ich denn aus solche Fragen." Damit ermannt sich der Dichter, wie aus dem Folgenden erhellt. ytiOlIxa ist Inf. Piel von hlx mit zurückgezogenem Ton. Es kann heißen: "das Mich-krank-machen" oder "mein Flehen ". Der Zusammenhang spricht mehr für die zweite Bedeutung. Die erste Bedeutung würde etwa darauf führen, dass der Dichter sich nun über die Ursache seines inwendigen Leides klar geworden ist: Gott hat sein Verhalten zu Israel gegen früher geändert. Aber diese Erkenntnis wäre wenig trostreich, ja, verglichen mit dem Vorangegangenen, nichts Neues, und die anspruchsvolle Einführung mit dem einen Entschluss markierenden rma)owf (Und ich spreche) überflüssig. Der Dichter entschließt sich vielmehr, zu beten (vergl. den vorausgenommenen Gebetsruf V. 2); damit hat er seine Anfechtung potenziell (dem Vermögen nach) überwunden. Lic. Hans Keßler 1899.


V. 12. Darum gedenke ich usw. Der Glaube hat ein gutes Gedächtnis und kann dem Christen gar viele köstliche Geschichten von alten Gnadentaten erzählen. An diesen vorigen Wundern des HERRN hielt sich der Psalmist fest, als er schon den Abhang der Versuchung hinabglitt. Manchmal ist es irgendein kleines Schriftstück, das sich im Schreibpult aufbewahrt findet, wodurch ein Mann davor beschützt wird, ins Gefängnis zu müssen; so kann auch eine im Gedächtnis aufbewahrte Erfahrung die Seele vor dem Kerker der Verzweiflung bewahren, in welchem der Teufel den Christen so gern auf ewig verschlossen sähe. Wenn ein Jagdhund die Fährte verloren hat, eilt er zurück, um sie wiederzufinden, und dann verfolgt er die Spur mit um so lauterem Gebell. So mach auch du es, lieber Christ! Wenn dein Hoffen die rechte Spur verloren hat und du an deinem Heil zweifelst, dann gehe rückwärts und besieh, was Gott bereits für dich getan hat. Für manche Verheißungen ist hienieden der Zahlungstag, andere werden wir erst im Himmel ausbezahlt erhalten. Die hier stattfindende Einlösung gewisser Versprechungen nun ist ein Handgeld, welches Gott dem Glauben gibt als Bürgschaft, dass die andern ebenfalls treulich werden berichtigt werden, wenn ihr Verfalltag gekommen ist; gerade wie auch jedes Gericht, das hienieden an den Gottlosen vollstreckt wird, als ein Angeld des göttlichen Zornes gesandt wird, dessen volle Summe Gott in der Hölle auszahlen wird. William Gurnall † 1679.


V. 14. Gott, dein Weg ist heilig. Die Erwähnung der Heiligkeit der Wege Gottes, die der Sänger hier ausdrücklich hervorhebt, weil er die schweren Führungen, in denen er steht, jetzt als Züchtigungsleiden ansieht (V. 11), welches der heilige Gott ihm geschickt habe, um ihn zu läutern, erinnert uns unwillkürlich an Ps. 50, worin Asaph seinem Volke das heilige Wesen Gottes so anschaulich vor Augen hält. Lic. Dr. H.V. Andreä 1885.


V. 16. Die Kinder Jakobs und Josephs. War Joseph der Erzeuger der Kinder Israels oder Jakob? Gewiss zeugte Jakob sie, aber da Joseph ihr Nährvater wurde, werden sie ebenfalls nach seinem Namen genannt. Talmud.


V. 17. Die Wasser sahen dich, Gott, usw. "Die Wasser des Roten Meeres", sagt Bischof Horne († 1792), "werden hier sehr schön als mit Gefühl begabt dargestellt, als hätten sie die Gegenwart und Macht ihres erhabenen Schöpfers gesehen und empfunden und wären sie bis in die Tiefen erschüttert worden, als er ihnen befahl, einen Weg freizumachen und auf beiden Seiten desselben eine Mauer zu bilden, bis sein Volk hindurchgegangen wäre." Das ist echte Poesie, und in dieser Gestaltungskraft der Fantasie, unbeseelten Dingen Leben, Geist, Gefühl, Tätigkeit und Leidentlichkeit zuzuschreiben, können keine Dichter mit denen der hebräischen Nation [oder allgemeiner der semitischen Völker] wetteifern. Richard Mant † 1849.


V. 17-19. Die Wasser sahen dich, aber die Menschen sehen dich nicht. Die Fluten erzitterten vor dir, aber die Menschen sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott. Die Wolken gossen Wasser, aber die Menschen vergießen nicht Tränen, schütten kein Flehen vor Gott aus. Die Himmelswolken ließen Getöne hören, aber der Mensch spricht nicht: Wo ist Gott, mein Schöpfer? Deine Pfeile fuhren daher, aber keine Pfeile der Reue und Bitte um Gnade kommen von den Menschen als Antwort zurück. Die Stimme deines Donners ertönte rollend, aber die Menschen hören nicht den noch lauteren Donner des göttlichen Gesetzes. Blitze erhellten den Erdkreis, aber das Licht der Wahrheit scheint in der Finsternis, und die Finsternis begreift es nicht. Die Erde bebte und schwankte, aber das Menschenherz bleibt ungerührt! Prof. George Rogers 1871.
  Sobald das Heer der Ägypter in dem Meeresbett war, floss das Wasser wieder an seinen Ort; es kam hernieder mit gewaltigen Gussbächen, die durch furchtbare Windstöße herbeigeführt wurden, und umschloss die Ägypter. Regengüsse strömten auch vom Himmel nieder, und schreckliche Donner und Blitze mit Feuerflammen fuhren daher. Donnerkeile schossen au sie nieder, ja es gab nichts, was Gott als Zeichen seines Zornes über die Menschen zu senden pflegt, das zu der Zeit nicht geschehen wäre; denn unheimlich finstere Nacht bedrückte sie. So kamen sie alle um, dass nicht einer überblieb, der den übrigen Ägyptern ein Bote dieses Unglücks hätte sein können. Flavius Josephus † 93.


V. 20. Dein Weg war im Meer, wo kein Mensch den Fuß setzen kann, es gehe denn Gott vor ihm her, wo aber jeder wandeln kann, wenn Gott ihn bei der Hand nimmt und hindurchführt. David Dickson † 1662.
  Und deine Fußspuren waren nicht zu erkennen. (Wörtl.) Bei einer gewissen Angelegenheit von sehr großer Tragweite war Luther sehr ungestüm vor dem Gnadenthron; er wollte wissen, was Gott für Beweggründe und Absichten habe, dass er so handle, und es war ihm, als hörte er Gott zu seinem Herzen sagen: "Ich bin unerforschlich." Aber wenn wir Gottes Wege auch nicht zu erforschen vermögen, so können wir ihm doch trauen, und eine Frömmigkeit, die einen nicht befähigt, Gott zu vertrauen, wo man ihn nicht erforschen noch sehen kann, wäre wenig wert. Aber alles hat seine Zeit unter der Sonne; auch der Allmächtige hat seine Zeiten und Stunden. Unsere Uhren laufen oft der Sonne vor: dann müssen sie zurückgesetzt werden. Das war ein feines Wort Flavels: Manche Taten der Vorsehung müssen wie die hebräische Schrift von rückwärts gelesen werden. Christian Treasury 1849.


V. 21. Du führetest dein Volk wie eine Herde Schafe. Der gute Hirte führt die Seinen wie Schafe: erstens mit großer Achtsamkeit, um sie vor Wölfen zu beschützen, zweitens mit Sorgfalt und Freundlichkeit, denn das Schaf ist ein harmloses Tier; drittens mit weiser Strenge, weil die Schafe sich leicht verlaufen und von allen Tieren die dümmsten sind. Thomas Le Blanc † 1669.
  Durch Mose und Aaron. Er sagt nicht: "Mose und Aaron führten .das Volk Israel", sondern: "Du führtest das Volk, und zwar dein Volk, durch Mose und Aaron." Die Macht dieser beiden Männer war groß; dennoch war keiner von ihnen der Hirt der Schafe, sondern beide waren Knechte des einen und alleinigen Hirten, welchem ausschließlich die Schafe gehörten. Auch war keiner von beiden der Führer der Schafe, sondern der Hirte war selbst gegenwärtig und führte seine Herde, und Mose und Aaron taten dabei nur Knechtsdienst. Wir können demnach dreierlei aus diesen Worten entnehmen: 1) Die Schafe gehören nicht den Knechten, sondern dem wahren Hirten. 2) Dieser ist selbst der Führer seiner Schafe. 3) Das Amt Moses und Aarons war, als Gehilfen des Erzhirten dazu zu sehen, dass die Schafe den rechten Weg gingen und gute Weide hätten. So führt Christus selbst die Schafe, seine Schafe, und verwendet zu diesem Dienst an den Schafen seine Knechte. Wolfgang Musculus † 1563.
  Der Psalmist hat den Gipfel erreicht; er hat Erleichterung von seinem Kummer gefunden, indem er seine Gedanken in eine andere Richtung leitete, nämlich auf die Betrachtung der mächtigsten Wunder Gottes aus der Vorzeit. Aber da muss er schließen; bei der gegenwärtigen Heftigkeit seiner Gemütsbewegungen kann er sich nicht zutrauen, im Einzelnen weitere tröstliche Lehren aus der Geschichtsbetrachtung hervorzuholen. Es gibt Zeiten, wo auch der heiligste Glaube es nicht vertragen kann, Worten, die zu überzeugen und zu ermahnen suchen, zuzuhören, während er wohl darin einen Halt für seine Seele finden kann, dass er die großen Taten, welche Gott gewirkt hat, in ihrer natürlichen Erhabenheit einfach anschaut. Joseph Franeis Thrupp 1860.


Homiletische Winke

V. 2. Der Nutzen des Gebrauchs der Stimme bei dem Gebet im Kämmerlein.
V. 3. 1) Besonderes Gebet: Am Tage meiner Not usw. 2) Unablässiges Gebet: Tag, Nacht, Hand ohne Ablassen ausgestreckt. 3) Mit der Verzweiflung ringendes Gebet: Meine Seele will sich nicht trösten lassen, bis die Erhörung kommt. George Rogers 1871.
V. 3c. Wann ist dies weise und wann tadelnswert?
V. 5. 1) Ein redlich frommer Mensch kann auf seinem Lager nicht Ruhe finden, bis seine Seele in Gott Ruhe gefunden hat. 2) Er kann nicht freimütig mit andern reden, bis Gott einer Seele Frieden zugesprochen hat. George Rogers 1871.
  Gute Beschäftigung für Schlaflose und guter Trost für Sprachlose.
V. 6.7. Vier Winke für solche, die in Trübsal Trost finden wollen: 1) Betrachte die Güte, welche Gott seinem Volke vor alters erwiesen hat. 2) Gedenke dessen, was du selber von Gottes Güte erfahren hast. 3) Prüfe dich selbst. 4) Forsche fleißig in Gottes Wort. George Rogers 1871.
V. 7. Ein gutes Gedächtnis ist sehr nützlich. 1) Es hilft zur Erkenntnis; denn was nützt dich dein Lesen oder Hören, wenn du nichts behältst? 2) Es stärkt den Glauben: 1. Kor. 15,2. 3) Es gewährt Trost. Wenn ein Christ in der Trübsal der Verheißungen Gottes gedenken kann, werden sie ihn mit neuer Lebenskraft erfüllen; wenn er sie aber vergisst, wird ihm der Mut entfallen. 4) Es hilft zur Dankbarkeit. 5) Es belebt die Hoffnung; denn Erfahrung bringt Hoffnung, das Gedächtnis aber ist der Speicher, in welchem die Erfahrungen aufbewahrt werden. 6) Es führt zur Buße; denn wie können wir bereuen oder beklagen, was wir vergessen haben? 7) Es setzt uns in den Stand, andern nützlich zu sein. Wenn ein Gnadefunke im Herzen hell glüht, wird er bald suchen, auch andere brennend zu machen. Richard Steele † 1692.
V. 8. Um die Frage kräftig zu beleuchten, lasst uns betrachten: 1) In Bezug auf wen wird die Frage erhoben? In Bezug auf Jehova. 2) Was wird befürchtet? Dass er ewiglich verstoßen habe. 3) Auf wen bezieht sich diese Befürchtung? .
V. 9. Die Fragen setzen 1) eine Veränderung in dem unveränderlichen Jehova voraus. Sie sind 2) gegen alles, was die Vergangenheit beweist. Sie können 3) nur aus dem Fleisch oder durch satanische Einflüsterung im Herzen entstehen. Daher sind sie 4) abzuweisen in der Macht des Geistes, mit starkem Glauben an den ewigen Gott.
V. 12.13. Trost 1) geschöpft aus der Erinnerung an die Vergangenheit, 2) vertieft durch Nachsinnen, 3) gemehrt durch Mitteilung an andere.
V. 13. Gegenstände, gleich geeignet für das stille Nachsinnen wie für das laute Verkündigen: die Schöpfung, die Vorsehung, die Erlösung usw.
V. 14.20. Gottes Weg ist unausforschlich, wiewohl ohne allen Zweifel richtig; in seiner Heiligkeit liegt die Antwort auf seine Rätsel. V. 15. Der große Wundertäter.
V. 16. Und Josephs. Die Ehre, solchen ein Nährvater sein zu dürfen, welche durch anderer Wirken aus Gott geboren sind.
  1) Die Erlösten: Dein Volk, die Kinder Jakobs und Josephs. a) In Gefangenschaft, wiewohl Gottes Volk. b) Gottes Volk, wiewohl in Gefangenschaft. 2) Die Erlösung: aus der ägyptischen Knechtschaft. 3) Der Erlöser: Du, mit (deinem) Arm. Dieser Arm Gottes ist Christus (Jes. 53,1). George Rogers 1871.
V. 17-19. 1) Die Natur huldigt dem Gott der Gnade. 2) Sie ist seinen Absichten dienstbar. Gerorge Rogers 1871.
V. 20. 1) Die Wege Gottes mit den Menschenkindern sind eigenartig: im Meer, dein Pfad usw. 2) Sie haben Gleichartiges: Fußspuren. 3) Sie sind unerforschlich: wie der Pfad des Schiffes im Wasser, nicht wie die Furche der Pflugschar im Lande.
  Auch über das so veränderliche, unlenkbare, unermesslich weite, bodenlos tiefe, schreckliche, alles überwältigende Meer (und seinesgleichen) hat Gott die Herrschermacht.
V. 21. 1) Wer steht unter Gottes Führung? Dein Volk. 2) Wie wird es geführt? Wie eine Herde Schafe: abgesondert von andern, in sich gesammelt, in Abhängigkeit vom Hirten. 3) Die dabei benutzten Unterhirten. George Rogers 1871.
  Die Geschichte der Gemeinde Gottes. 1) Die Gemeinde eine Herde. 2) Gott führt sie sichtlich vorwärts. 3) Er bedient sich zu ihrer Führung und Förderung menschlicher Werkzeuge.

Fußnoten

1. Genauer wird der Vers zu übersetzen sein: Meine Stimme (erhebe sich) zu Gott, und ich will schreien; meine Stimme (erhebe sich) zu Gott, dass er auf mich höre. Die letzten Worte können auch als Imperativ aufgefasst werden: Ach, höre auf mich!

2. Die engl. Übers. zieht "des Nachts" zu "mein Saitenspiel"; das ist allerdings gegen die masoret. Akzente, hat aber an Parallelen wie Ps. 16,7; 42,9; 92,3 eine Stütze. Vergl. Hiob 35,10.

3. Man erwartet bei dieser Abfassung ytiOlxA (vergl. Jes. 38,9), das auch manche Neuere lesen wollen. Man kann aber ytiOlIxa von einem Zeitwort llaxf mit der Bedeutung durchbohrt sein ableiten, vergl. Ps. 109,22. Das Targ. schwankt zwischen der Übers. mein Leiden und mein Flehen. Bei der letzteren Auffassung legt man das piel hlIfxi zugrunde und nimmt dies für das sonst oft vorkommende Mynipf hlIfxi, eigentlich: jemandes Angesicht durch Flehen weich machen. So übersetzen Fr. W. Schultz und Keßler: Doch da spreche ich: Mein Flehen ist es, dass sich wandele die Rechte des Höchsten.

4. Für hnf$f ist die aktive Bedeutung etwas ändern unbelegbar; es heißt: sich ändern. Aber tOn$: kann auch poetische Form des plur. cstr., von hnf$f Jahr (wie V. 6) sein. Schon das Targ. gibt beide Deutungen.

5. lgIal:gIa wird an unserer Stelle sehr verschieden gedeutet. Abzuweisen ist die Beziehung auf die Himmelsrunde (Luther), denn ’g "bezeichnet nicht die ruhende Figur des Rades, sondern die wirbelnde Bewegung desselben." (Moll.) Möglich ist, dass an das rollende Rad des göttlichen Kriegswagens gedacht ist (Bäthgen u. a.). Andere (Hitz., Del., Kautzsch) verstehen darunter den Wirbelwind; doch sprechen die dafür angeführten Stellen (Ps. 83,14; Jes. 17,13) eher gegen diese Auffassung und für die Übersetzung Wirbel. (Fr. W. Schulz: Dein Donner ertönte im Wirbel, d. i. schnell und rollend aufeinander folgend.)