Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 130 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

und Inhalt. Ein Wallfahrtslied. Auch dieser Psalm begünstigt, wie der vorhergehende, die Ansicht nicht, dass diese Lieder eine aufsteigende Stufenreihe bilden. Dagegen ist in dem Psalm selbst ein Aufsteigen sehr deutlich wahrnehmbar; der Dichter erhebt sich aus den Tiefen der Not zu der seligen Höhe der gewissen Hoffnung der Erlösung, wie für sich selbst, so für Israel. Wir wüssten keinen trefflicheren Merknamen für diesen Psalm als den uralten, wohlbekannten De profundis: Aus der Tiefe, das ist das Schlüsselwort (V. 1). Aus dieser Tiefe der Not rufen, harren, warten und hoffen wir mit dem Psalmisten. In diesem Liede hören wir von der herrlichen Perle der Erlösung, V. 7. 8. Der Sänger hätte dies Kleinod wohl nicht gefunden, wenn er nicht hätte in die Tiefen tauchen müssen: Perlen liegen tief.

Einteilung. Die ersten beiden Verse enthüllen uns das tiefe Verlangen der Seele; die beiden nächsten sind ein demütiges Bekenntnis der Buße und des Glaubens. In V. 5. 6 bezeugt der Psalmist, wie sehnlich er des HERRN harre, und in den beiden Schlussversen ermuntert er Israel, auf den HERRN zu hoffen, in der freudigen Gewissheit, dass für Israel wie für ihn selbst das volle Heil kommen werde.


Auslegung

1. Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir.
2. Herr, höre meine Stimme,
lass deine Ohren merken
auf die Stimme meines Flehens!
3. So du willst, HERR, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen?
4. Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Ich harre des HERRN;
meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.
6. Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur andern.
7. Israel hoffe auf den HERRN;
denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm;
8. und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.


1. Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Gewöhnlich bringt die Tiefe alles, was sie in ihren Schlund hinabzieht, zum Verstummen; aber den Mund dieses Knechtes des HERRN vermochte sie nicht zu schließen - im Gegenteil, gerade in der Tiefe rief er zu Jehovah. Mitten in den übermächtigen Fluten lebte und kämpfte das Gebet; ja, die helle Stimme des Glaubens übertönte selbst das Gebrüll der Wogen. Es hat wenig zu bedeuten, wo wir uns befinden, wenn wir zu beten imstande sind; unser Beten aber ist nie echterer Art und nie annehmbarer bei Gott, als wenn es aus den schlimmsten Lagen zu Gott aufsteigt. Tiefe Fluten erzeugen tiefe Andacht. Tiefen des Ernstes werden aufgerührt durch tiefe Flutwellen der Trübsal. Die Diamanten funkeln im Dunkeln am hellsten. Das Gebet de profundis gibt Gott gloria in excelsis. Je größer unsere Not ist, desto vorzüglicher ist der Glaube, der mutig auf den HERRN traut und darum ihn, und ihn allein, anruft. Wahrhaft fromme Menschen können in Tiefen zeitlicher und geistlicher Not sein; aber die Gottseligen erwarten in solcher Lage die Hilfe allein von ihrem Gott, und sie feuern sich selber an, mit noch größerer Inbrunst zu beten als zu anderen Zeiten. Die Tiefe ihrer Not bringt die innersten Tiefen ihres Wesens in Wallung, und aus dem Grunde ihres Herzens dringt starkes Geschrei zu dem allein wahren und lebendigen Gott. Der Psalmist war schon manchmal in Tiefen gewesen, und ebenso oft hatte er zu Jehovah, seinem Gott, gefleht, in dessen Gewalt auch alle Tiefen sind. Es wäre traurig, wenn wir beim Rückblick auf vergangene Not eingestehen müssten, dass wir darin nicht zum HERRN gerufen hätten; hingegen ist es überaus tröstlich, das Bewusstsein zu haben, dass wir, was immer wir in solchen Umständen nicht getan haben und nicht tun konnten, doch selbst in den schlimmsten Zeiten zum HERRN gebetet haben. Der Dichter unseres Psalms hatte in der Not zum HERRN gefleht, und was er getan, das tut er noch,1 tut er jetzt - es ist ihm zur Natur geworden - er ruft zu seinem Gott, und er hofft fest und gewiss, binnen kurzem Erhörung zu erlangen. Wer in den Tiefen betet, den können sie nicht verschlingen. Wer aus den Tiefen zu Gott schreit, der wird bald auf Höhen singen.

2. Herr, höre meine Stimme. Der Ausdruck hören wird in der Schrift oft gebraucht, um aufmerksames Beachten und Erwägen zu bezeichnen. In einem Sinn hört Gott ja jeden Laut, der auf Erden ertönt, und jedes Begehren jeglichen Herzens. Aber was der Psalmist meint, ist etwas viel Größeres: er begehrt ein freundliches, liebevolles, mitleidiges Gehör, wie die Mutter es dem Kinde gewährt, ein Hören wie das des Menschenfreundes, an dessen Ohr der gellende Hilferuf eines menschlichen Wesens aus den Fluten dringt. Dass der Allherr unsere Stimme höre, ist alles, was wir verlangen; aber mit nichts weniger können wir uns auch zufriedengeben. Wenn der HERR uns nur hören will, so wollen wir es seiner erhabenen Weisheit überlassen, was er dann zu tun für gut findet, ob er uns gerade die Antwort senden will, die wir erhoffen, oder nicht. Es ist unter Umständen etwas Größeres, wenn Gott unser Gebet hört, es mit liebendem Herzen beachtet, als wenn er es buchstäblich erhört. Wenn der HERR uns die unbedingte Zusage geben würde, alle unsere Bitten nach ihrem Wortlaut zu erhören, so könnte das uns mehr zum Unglück als zum Segen gereichen; dann würde die Verantwortlichkeit für die Gestaltung unserer Lebensschicksale auf uns selber lasten, und wir kämen nimmer aus der Angst und Sorge heraus. Nun aber der HERR unsere Bitten hört, sie liebevoll beachtet und erwägt, können wir unser Herz in ihm stillen. Dass er unser Flehen hört, ist uns genug; wir wünschen, dass er unsere Bitten nur gewähre, wenn er in seiner unbegrenzten Weisheit erkennt, dass das zu unserem Besten und zu seiner Verherrlichung dienen werde. Beachten wir, dass der Psalmist laut betete. Das ist zwar keineswegs notwendig, wohl aber ist es sehr förderlich für uns, denn der Gebrauch der Stimme kommt unserm Denken zu Hilfe. Doch hat auch das stille, unhörbare Flehen eine Stimme; ja selbst unsere Tränen und der tiefe Kummer, der kein Wort hervorbringen kann, reden laut, und auf diese Stimme wird der HERR hören, wenn ihr Rufen für sein Ohr bestimmt ist. Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens. Der Psalmist bringt seine Bitte als ein Bittsteller vor; er fleht demütig und inständig den Allherrn, den erhabenen König, an, er möge ihr sein Ohr leihen. Ob er auch oft seinem gepressten Herzen betend Luft machen muss, es ist doch im Grunde immer wieder dasselbe Flehen, das er so dringlich vor Gott bringt. Ach, dass der HERR darauf lausche und seine Bitte in genaue Betrachtung ziehe, ihrer gedenke und sie berücksichtige! Der Psalmist ist in seiner tiefen Not kaum seiner Sinne mächtig, darum besteht sein Gebet manchmal vielleicht nur aus abgebrochenen Stoßseufzern, die nur mit Mühe zu verstehen sind; desto mehr liegt es ihm an, dass der HERR mit voller Aufmerksamkeit und in herzlichem Erbarmen auf die Stimme seines unablässigen angstvollen Flehens lausche. Haben wir über unsere Not und Leiden zu Gott gebetet, dann ist es gut, auch unsere Gebete selbst zum Gegenstand des Gebets zu machen. Können wir keine Worte mehr finden, so lasst uns den HERRN anflehen, die Bitten zu erhören, die wir ihm bereits vorgebracht haben. Sind wir seiner Mahnung treulich nachgekommen, im Gebet nicht lasch zu werden, so dürfen wir auch der Zuversicht sein, dass der HERR seine Verheißung treulich erfüllen und im Helfen nicht lasch werden wird. Wiewohl der Psalmist, wie uns das Folgende zeigen wird, sich unter dem schmerzlichen Druck des Gefühls seiner Sündhaftigkeit befand und somit, wie in äußeren, so auch in inneren Nöten war, also auch in diesem Sinne in tiefen Tiefen zu versinken drohte, so wandte sich dennoch sein Glaube kühn an Gott, allem Gefühl seiner Unwürdigkeit zum Trotz; denn er wusste gar wohl, dass des HERRN Verheißungstreue sich auf sein eigenes Wesen gründet und nicht auf die Eigenschaften seiner allezeit zum Irregehen geneigten Geschöpfe.

3. So du willst, HERR (Jah), Sünden zurechnen (wörtl.: bewahren, im Gedächtnis behalten, eben um sie zu ahnden), Herr (Adonai), wer wird bestehen? Wenn der Allsehende jedermann nach strengem Recht für jeden Mangel an Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit zur Verantwortung ziehen würde, wo würden wir alle sein? Allerdings trägt er alle unsere Übertretungen in sein Buch ein; aber gegenwärtig handelt er nicht mit uns nach dieser Urkunde, sondern legt sie beiseite auf einen künftigen Tag. Wenn die Menschen nach keiner anderen Rechtsordnung als der der Werke gerichtet würden, wer von uns könnte dann vor dem Richterstuhl Gottes Rede und Antwort stehen und hoffen, unschuldig auszugehen? Dieser Vers zeigt, dass der Dichter unseres Psalms unter dem drückenden Bewusstsein seiner Sündhaftigkeit stand, und dass sich ihm gebieterisch die Notwendigkeit aufdrängte, nicht nur als Bittsteller zu Gott zu rufen, sondern auch ein reumütiges Bekenntnis vor ihm abzulegen als ein Sünder. Er gesteht es in diesen Worten mit redlicher Offenheit ein, dass er vor dem erhabenen König in seiner eigenen Gerechtigkeit nicht bestehen könne, und er ist so ergriffen von dem Gefühl der göttlichen Heiligkeit und der Unantastbarkeit des göttlichen Gesetzes, dass ihn die Überzeugung durchdringt, dass auch nicht einer von dem sterblichen Geschlecht sich vor einem so unbestechlichen Richter angesichts eines so vollkommenen Gesetzes verantworten könne. Er hat wohl Recht, auszurufen: Herr, wer wird bestehen? Keinen gibt es, der es vermöchte; da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer! Alle müssten zusammensinken in dem Bewusstsein ihrer Schuld und vor Angst der Dinge, die da kommen werden. Unsere Sünden sind nicht nur Schwächen, sondern Missetaten, Verschuldungen (Grundtext), sie sind Verkehrungen des Geraden und Guten; und wie viele sind ihrer in unserem Leben! Jehovah, der alles sieht und zugleich der Allwaltende und Allesvermögende ist, der seinen richterlichen Willen durchsetzen kann und auch für uns der Herr über Leben und Tod ist (Adonai), wird uns gewisslich zur Rechenschaft ziehen wegen all der Gedanken und Worte und Werke, die nicht genau mit seinem Gesetze übereinstimmen. Wenn nicht Jesu Blut für uns redete, wie könnten wir hoffen zu bestehen? Dürfen wir es wagen, an dem schrecklichen Tage der Rechenschaft vor ihn zu treten? Werden wir ihm auf dem Boden des Rechts begegnen können? Wie gut ist’s, dass der nächste Vers uns einen anderen Weg zeigt, auf dem wir zu ihm nahen dürfen, den der Gnade. Zu ihr nehmen wir unsere Zuflucht.

4. Denn bei dir ist die Vergebung. Gesegnetes Denn! Es begründet die nicht ausgesprochene, wohl aber in V. 3 verhüllt als Antwort auf die bange Frage enthaltene köstliche Wahrheit, dass der HERR nicht mit uns verfährt nach der Strenge der vergeltenden Gerechtigkeit: Du aber behältst unsere Missetaten nicht in deinem Gedächtnis, vielmehr ist bei dir die Vergebung! Freie, volle, fürstlich unumschränkte Vergebung ist in den Händen des erhabenen Königs; es ist sein Kronrecht, zu vergeben, und es ist ihm eine Lust, dies sein Recht auszuüben. Weil sein Wesen Liebe ist, Liebe, die sich gegen die Sünder als Gnade äußert, und weil er in dieser seiner Gnade ein Opfer für die Sünden versehen hat, darum ist bei ihm Vergebung für alle, die ihre Sünden bekennend zu ihm kommen. Die Macht, zu vergeben, hat Gott stets zur Verfügung; er hat die Vergebung in seiner Hand bereit auch in diesem Augenblick. Dass man dich fürchte. Die Vergebung ist die lebenskräftige Wurzel wahrer Frömmigkeit. Niemand fürchtet den HERRN so wie diejenigen, welche seine vergebende Liebe erfahren haben. Die Dankbarkeit für die empfangene Begnadigung erzeugt eine viel tiefere ehrerbietige Furcht vor Gott als all der Schrecken, der durch Bestrafung eingeflößt wird. Wenn der HERR an allen das Recht vollstrecken wollte, so blieben keine übrig, die ihm noch in Ehrfurcht dienen könnten; und wenn alle seinen verdienten Zorn in vollem Maße zu fühlen bekämen, so würde die Verzweiflung ihr Herz gegen die rechte Furcht vor ihm verhärten. Die Gnade ist es, die zu heiliger Ehrerbietung vor Gott führt und die Furcht, ihn zu betrüben, im Herzen eine Macht werden lässt.

5. Ich harre des HERRN, meine Seele harret. In der Erwartung, dass er liebreich zu mir kommen wird, warte ich auf sein Erscheinen. Ich harre auf Gott, und auf ihn allein; wenn er sich mir kundtut, dann wird mein Sehnen gestillt sein, dann wird es für mich nichts mehr zu warten geben; aber bis er mir zur Hilfe erscheint, muss ich weiter harren, die Hoffnung festhaltend auch in den Tiefen. Diese meine wartende Stellung ist keine bloß äußerliche, nein, das Erharren Gottes ist die Stimmung und Willensrichtung meines ganzen Innersten: meine Seele harret. Beachten wir wohl die Wiederholungen dieses und des folgenden Verses, die die ganze Inbrunst seines Sehnens, Harrens und Hoffens so frei und stark zum Ausdruck bringen. Wir tun gut, in alles, was unseren Verkehr mit Gott betrifft, die ganze Kraft unserer Seele hineinzulegen. Verweist der HERR uns aufs Harren, so lasst uns auch das mit völligem, ungeteiltem Herzen tun; denn wohl (sei) allen, sagt die Schrift, die sein harren! (Jes. 30,18.) Er ist es wert, dass wir auf ihn warten, es lohnt sich wahrlich! Schon das Warten selbst ist uns heilsam und nützlich; es erprobt unseren Glauben, übt uns in der Geduld, lehrt uns volle Ergebung und macht uns die Hilfe und Gabe umso köstlicher, wenn sie dann kommt. Die wahren Glieder des Gottesvolkes sind stets harrende, wartende Leute gewesen; einst harrten sie auf das erste Kommen des Herrn, und jetzt warten sie auf seine Wiederkunft. Im Alten Bunde harrten sie der Gewissheit der Vergebung, und jetzt warten sie auf die völlige Heiligung. Einst harrten sie in den Tiefen der Seelennot, und jetzt, da sie sich in einer glücklicheren Lage befinden, sind sie des Harrens noch nicht müde. Sie haben zum HERRN gerufen und warten nun; das Gebet aus den Tiefen hat sie zubereitet zum geduldigen, gläubigen Harren.
  Und ich hoffe auf sein Wort. Die Hoffnung auf Gottes Verheißungwort ist der Grund ihres Wartens, und dies Wort ist’s, was ihnen zum Warten ausdauernde Kraft gibt und es ihnen versüßt. Wer nicht hofft, kann auch nicht harren; so wir aber des hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein in Geduld (Röm. 8,25). Gottes Wort ist ein zuverlässiges Wort, aber es verzieht bisweilen; ist unser Glaube echter Art, so wird er Gottes Stunde abwarten. Ein Wort vom HERRN ist der Seele des Gläubigen wie nahrhaftes Brot; ist sie durch diese Speise erquickt, so vermag sie auszuharren durch die lange Nacht des Leidens, dem Anbruch der Freiheit und der Freude erwartungsvoll entgegenschauend. Bei diesem Warten versenken wir uns forschend in das Wort, glauben wir an das Wort, hoffen wir auf das Wort, leben wir von dem Wort; und dies alles, weil es sein Wort ist - das Wort dessen, der nie ein vergeblichse Wort geredet hat. Jehovahs Wort ist ein fester Grund, darauf ein harrendes Menschenherz ruhen kann.2

6. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als Wächter auf den Morgen. (Grundtext) Männer, die eine Stadt in der Nacht bewachen, und Frauen, die bei Kranken Wache halten, sehnen sich nach dem Tageslicht. Anbeter, die früh in den Tempel gekommen auf die Darbringung des Morgenopfers und das Anzünden des Weihrauchs harren, bringen während der Wartezeit inbrünstige Gebete dar und verlangen sehnlich nach dem Augenblick, da das Lamm auf dem Brandopferaltar brennt. Der Dichter unseres Psalms jedoch wartete mehr als diese alle, er wartete länger, wartete sehnsüchtiger, erwartete Größeres. Er wartete auf den Herrn. Er fürchtete sich nicht vor dem Allgewaltigen, vor dem niemand stehen kann in der eigenen Gerechtigkeit, denn er war bekleidet mit der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, und sehnte sich daher nach dem Augenblick, da er seinem Herrn und König ins Angesicht sehen, seine gnadenvollen Worte vernehmen dürfte. Er scheute Gottes Auge so wenig, wie diejenigen das Licht scheuen, die in einem ehrlichen Gewerbe beschäftigt sind. Er schmachtete und lechzte nach seinem Gott. (Ja, mehr als) Wächter auf den Morgen. Das Bild, das er brauchte, war ihm nicht stark genug, wiewohl sich kaum ein kräftigeres, lebhafteres denken lässt; er fühlte, dass das Verlangen seiner Seele einzigartig, unvergleichlich sei. O dass wir also nach Gott dürsteten! - Die alten Übersetzungen haben diesen Teil des Verses missverstanden, und ihnen ist leider Luther gefolgt ("von einer Morgenwache zur andern"). - Der ganze Vers lautet im Grundtext wörtlich: Meine Seele (zu dem Allherrn, oder) auf den Allherrn mehr als Wächter auf den Morgen, Wächter auf den Morgen. Fast alle neueren Erklärer ergänzen mit Luther aus dem vorhergehenden Vers das Zeitwort hoffen: Meine Seele wartet auf usw. Delitzsch hält dies für unnötig, er übersetzt: Meine Seele ist dem Allherrn zugewandt, mehr denn Wachhaltende dem Morgen, Wachhaltende dem Morgen (zugewandt sind), und weist treffend auf den Prof. Chr. A. Crusius hin, der auf seinem Sterbebette (1775) mit gen Himmel erhobenen Augen und Händen freudig ausgerufen habe: "Meine Seele ist voll von der Gnade Jesu Christi. Meine ganze Seele ist zu Gott." - Wie mächtig kommt in der Wiederholung nicht nur die dichterische Schönheit des Psalms, sondern auch vor allem die Innigkeit und Stärke des Verlangens des Psalmisten zum Ausdruck! Die Seele sehnt sich nach der Gnade des HERRN mehr, als müde Wächter sich nach dem Licht des Morgens sehnen, das ihnen Ablösung bringt von der langen, langen Nachtwache. O wie wahr ist dies! Wer einst traute Gemeinschaft mit Gott genossen hat, dem ist es die schwerste Prüfung, wenn der HERR sein Angesicht verbirgt, und er verzehrt sich vor Verlangen nach der Gnadennähe seines Gottes. Da können der schmachtenden Seele wohl Augenblicke zu Tagen, Minuten zu Jahren werden!

7. Israel hoffe auf den HERRN. Jehovah ist Israels Gott; darum harre Israel auf ihn. Was der eine Israelit tut, das möchte er von ganz Israel getan wissen. Der Mann hat ein gutes Recht, andere zu ermahnen, der selber mit dem Beispiel vorangeht. Der alte Erzvater Israel harrte zu seiner Zeit auf Jehovah und rang die Nacht hindurch, und schließlich konnte er seines Weges ziehen unter dem Schutze dessen, der Israels Hoffnung ist. Das Gleiche wird allen widerfahren, die in Wahrheit seines Samens sind. Gott hat für sein Volk große Dinge in Bereitschaft; die ihm angehören, sollten große Erwartungen hegen. Denn bei dem HERRN ist die Gnade. Das ist in seinem innersten Wesen begründet, und man kann denn auch schon in dem Lichte der Natur viel von Gottes Güte sehen. Wir haben aber überdies das Licht der Gnade und sehen darum auch noch viel mehr von dem Reichtum, der Tiefe und der Kraft seiner rettenden und beseligenden Liebe. Bei uns ist Sünde - Sündenschuld und Sündenelend; dennoch dürfen wir gläubig hoffen, denn bei dem HERRN ist die Gnade. Unser Trost liegt nicht in dem, was bei uns, sondern in dem, was bei unserem Gott vorhanden ist. Lasst uns von uns selbst und all unserer Armut zu Jehovah aufblicken und den reichen Schätzen seiner Gnade. Und viel Erlösung - Erlösung in Fülle - bei ihm. Er kann und wird alle die Seinen aus allen ihren vielen und großen Nöten erlösen; ja, die Erlösung ist schon bei ihm da, so dass er zu jeder Zeit denen, die auf ihn harren, den vollen Genuss derselben geben kann. Die göttliche Eigenschaft der Gnade und die Tatsache der Erlösung, das sind zwei im höchsten Maße genügende Gründe zum Hoffen auf den HERRN; und die andere Tatsache, dass nirgendwo, außer bei ihm Gnade und Erlösung zu finden sind, sollte die Seele von allem Götzendienst, grobem und feinem, aufs wirksamste abziehen. Sind diese Tiefen der Gottheit nicht ein herrlicher Trost für solche, die aus den Tiefen zu dem HERRN rufen? Ist’s nicht besser, mit dem Psalmisten in den Tiefen zu sein, dabei voller Hoffnung der Gnade Gottes harrend, als auf den Bergeshöhen vergänglichen Glücks zu weilen und dabei mit der eingebildeten eigenen Gerechtigkeit zu prahlen?

8. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden. Unsere Sünden sind unsere schlimmste Not und Gefahr; sind wir von ihnen errettet, dann sind wir wahrhaft gerettete Leute. Aber es gibt keine Rettung von Sündenschuld und Sündenmacht und Sündenelend außer durch göttliche Erlösung. Wie köstlich, dass diese in unserem Text in Ausdrücken verheißen ist, die sie außer Frage stellen: Der HERR wird gewisslich Israel, sein gläubiges Volk, erlösen von allen seinen Missetaten. Mit Recht spricht der Psalmist im Vorhergehenden von Erlösung in Fülle, da sie ganz Israel und alle seine Verschuldungen betrifft. Wahrlich, unser Psalm ist in diesem Vers zu erhabener Höhe emporgestiegen. Das ist nicht mehr ein Notschrei aus den Tiefen, sondern ein rechtes "Lied im höheren Chor", ein gloria in excelsis Deo. Die Erlösung ist der Gipfel, die Krone der Bundesgnaden. Wenn ihrer einst Israel als Ganzes teilhaftig geworden sein wird (Röm. 11,26), dann wird die Herrlichkeit der letzten Zeit angebrochen sein, und des HERRN Volk wird sagen: HERR, wes sollen wir nun noch warten? - Ist dieser Vers nicht eine deutliche Weissagung auf das erste Kommen des Herrn Jesus? Und dürfen wir ihn jetzt nicht als eine Verheißung seines zweiten noch herrlicheren Kommens betrachten, da er kommen wird zu unseres Leibes Erlösung? Auf diese warten wir sehnlich; ja, Leib und Seele verlangen und sehnen sich nach ihm in freudiger Erwartung.


Erläuterungen und Kernworte

Zum ganzen Psalm. Von den sieben sogenannten Bußpsalmen ist dieser der vornehmste. Wie er aber der herrlichste ist, so ist er im Papsttum auch zum schmählichsten Missbrauch verdreht worden. Er solle nämlich mit ganz tiefer Stimme gemurmelt werden, und zwar in ihren Toten-Vigilien für die Befreiung der Seelen aus dem Fegefeuer. Sal. Geßner † 1605.
  Der Heilige Geist stellt in diesem Psalme zwei einander entgegengesetzte Gemütsbewegungen klar ins Licht: Furcht, in Hinsicht der Sünden, die Strafe verdienen, und Hoffnung, in Hinsicht unverdienter Gnade. Alex. Roberts 1610.
  Dass das Gemüt des Psalmisten tief bewegt ist, kommt auch in der achtmaligen Wiederholung des göttlichen Namens (viermal Jahve, einmal das abgekürzte Jah, dreimal Adonai) zum Ausdruck. The Speaker’s Commentary 1873.
  Einmal gefragt, welche Psalmen die allerbesten seien, antwortete Luther: Psalmi Paulini (die paulinischen Psalmen), und als seine Tischgenossen in ihn drangen, welche das seien, antwortete er: Ps. 32; 51; 130; 143. In der Tat kommen im Ps. 130 die Verdammlichkeit des natürlichen Menschen, die Freiheit der Gnade und das geistliche Wesen der Erlösung zu wahrhaft paulinischem Ausdruck. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Als Luther in der Feste Coburg vom Teufel hart angefochten wurde und in großer Not war, sagte er zu denen, die um ihn waren: Venite, in contemptum Diaboli Psalmum "De Profundis" quatuor vocibus cantemus - Kommt, lasst uns dem Teufel zum Trotz vierstimmig den Psalm singen: Aus tiefer Not usw. John Trapp † 1669.


V. 1. Aus Tiefen rufe ich dich, HERR. (Wörtl. Unter den Tiefen sind nach der übereinstimmenden Meinung der Alten zu verstehen die Tiefen der Trübsale und die Tiefen der Herzensnot um die Sünde. Die äußern und inneren Leiden werden ja auch sonst mit tiefen Wassern verglichen, so Ps. 18,17: Er zog mich aus großen Wassern, Ps. 69,2 f.: Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Seele usw. In der Tat werden Gottes Kinder oft in ganz verzweifelte Lagen geworfen, in die Tiefen des Elends versenkt, zu dem Zweck, damit sie aus zerbrochenem, auch bis in seine Tiefen bewegtem Herzen solche Gebete emporsenden, die in die Höhe dringen und den Himmel zerreißen. Wenn es uns gut geht, kommen unsere Gebete oft nur von den Lippen; darum ist der HERR genötigt, uns in die Tiefen zu stoßen, damit wir aus der Sicherheit erwachen und unsere Bitten aus dem Innersten emporsteigen. Wiewohl Gott so erhaben thront, so hört er doch sonderlich gerne das Flehen von Herzen, die tief gebeugt sind. Es gibt keine Trübsal und keine Tiefe - und wäre sie so tief wie die, in welche Jona versank, da er im Bauche des Fisches war -, die uns scheiden könnte von der Liebe Gottes (Röm. 8,35.39) oder unsere Gebete davon zurückhalten könnte, zu ihm zu dringen. Diejenigen, die in den tiefsten Tiefen der Seelennot sind, sind nicht am weitesten von Gott weg; nein, sie sind ihm am nächsten. Der HERR ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und sie gerade sind der Tempel, wo sein Geist Wohnung nimmt (Ps. 34,19; Jes. 57,15; 66,2). Gott macht es mit uns, wie wir es die Menschen machen sehen, wenn sie ein Haus hoch und sonderlich prächtig bauen wollen: dann graben sie tief, um einen rechten Grund zu legen. So führte Gott, da er mit Daniel und den drei Männern in Babel, mit Joseph in Ägypten, mit David in Israel Staat machen wollte, sie erst in die Tiefen des Leidens: Daniel ward in die Löwengrube geworfen, die drei Männer in den feurigen Ofen, Joseph ins Gefängnis, David in das Elend der Verbannung und Verfolgung. Aber sie alle erhöhte er hoch und machte aus ihnen herrliche Tempel seiner Gnade. Dabei ist jedoch auch zu beachten, dass die Stumpfsinnigkeit unserer Natur oft so groß ist, dass sie Gott zwingt, scharfe Mittel anzuwenden, um uns aufzurütteln. Jona schlief noch immer unten im Schiff, als schon das Ungewitter des göttlichen Zornes ihn verfolgte; darum warf Gott ihn in die Tiefe mitten im Meere und ließ ihn in dem Bauch des Fisches zu den tiefsten Gründen der Erde fahren, damit er aus diesen Tiefen, aus dem Bauche der Hölle, zu dem HERRN schrie. (Jona 2,3 ff.) Archib. Symson † 1631.
  Tiefen. O in was für Tiefen kann der Mensch sinken! Schon die Tiefen der Armut sind schwer zu beschreiben. Trifft man nicht manchmal Menschen, noch am Leben, aber in solch elendem Zustand und solch entsetzlichen Verhältnissen, dass uns darob schaudert? - Dann aber die Tiefen anderer Leiden der mannigfachsten Art! Woge um Woge bricht über manchen Mann herein, ein Freund nach dem andern entfernt sich, und seine Vertrauten sind die Finsternis. (Ps. 88,19 Grundtext) Er gleicht einem lecken Schiffe, das von den Wellenbergen in die Tiefen stürzt und bald auf den Grund des Meeres zu versinken droht. Manchem ist’s zu Mute wie Jona, den das Ungeheuer in die Tiefe tauchte, immer tiefer, tiefer, tiefer hinab in die Finsternis. - Und dann gibt es Tiefen über Tiefen der Umnachtung des Gemüts, wenn die Seele immer mehr in Kummer und Trübsinn versinkt, hinab bis zu den Tiefen, die eben noch an der Grenze der völligen Verzweiflung sind. Die Erde hohl, der Himmel leer, die Luft bleiern, jede Gestalt eine Missgestalt, jeder Ton ein schriller Missklang, die Vergangenheit lauter Düsternis, die Gegenwart ein Rätsel, die Zukunft ein Grausen! Noch einen Schritt tiefer, und der Mensch ist in der Folterkammer der Verzweiflung, wo der Boden glühend heiß ist, dass die Füße von Brandblasen schwellen, und die Lust so schneidend kalt wie am eisigen Nordpol. O in was für Tiefen kann das Gemüt eines Menschen geraten! - Aber die schaurigste Tiefe, in die eine Menschenseele stürzen kann, ist die Sünde. Mancher beginnt fast unmerklich zu gleiten, es geht absatzweise, aber immer schneller, und schließlich geht es in Tiefen, wo es Schrecken gibt, die selbst die der Armut, der sonstigen Trübsale und sogar der Gemütsleiden übertreffen. Das sind die Tiefen der Sünde. Wir fühlen, das sind bodenlose Tiefen. Jede Tiefe, die sich da vor dem Menschen öffnet, lässt wieder neue Tiefen vor uns aufgähnen. Das ist ein rechter "Brunnen des Abgrunds" (vergl. Off. 9,1 ff.), eine grundlose Tiefe, in die man mit immer zunehmender Geschwindigkeit hinunterstürzt, beim Stürzen beständig sich verwundend und zerreißend. O welch ein Sturz, vom Licht in die Düsternis, von der Düsternis in die Finsternis, in die ewige Finsternis! O der Hölle der Sünde! - Doch, was können wir tun in all solcher Not? Nichts als rufen, rufen, rufen! Aber o dass wir zum HERRN rufen! Alle anderen Rufe sind nutzlose Kraftvergeudung, denn wir bezeugen mit ihnen nur unsere Ohnmacht oder erheben unnütz Einspruch gegen ein vermeintliches Schicksal, fechten mit einem Gespenst, das kein Wesen hat. Zu dem lebendigen Gott aber zu rufen, das ist ein Schrei, dessen auch der Mann sich nicht zu schämen hat. Aus allen Tiefen, der Armut, der Leiden, der Schwermut, der Sünde, rufe du zum HERRN! The Study and the Pulpit 1877.
  Aber indem er aus der Tiefe ruft, steigt er aus der Tiefe empor, und gerade dass er ruft, das macht, dass er nicht lange in der Tiefe bleibt. Aurelius Augustinus † 430.
  Rufe ich. Es gibt viele Arten und Stufen des Gebets in der Welt, von dem kältesten Formelgebet bis zu dem heftigsten Ringen auf Leben und Tod. Alle Welt betet, aber wenige rufen, schreien. Von denjenigen aber, die wirklich zum HERRN rufen, wird die große Mehrzahl sagen: Das verdanke ich den Tiefen; da hab’ ich’s gelernt. Vorher habe ich oft gebetet, aber nie habe ich dies Schreien zu Gott gekannt, bis dass ich in tiefe Not kam. Es lohnt sich wohl, in solche Tiefe irgendwelcher Art geführt zu werden, um dies Rufen zu lernen. Denn es ist wohl nicht zuviel gesagt, dass wir eigentlich nicht wissen, was beten unter Umständen heißen mag, bis wir solch Rufen aus Erfahrung kennen. Und es geht dann selten zur Höhe, bis wir in große Tiefen gekommen sind. "Ich sterbe! Ich komme um! Ich bin verloren! HERR, hilf! Hilf mir! Rette mich jetzt! O tu es jetzt, oder ich vergehe! O HERR, höre! O HERR, vergib! Ach HERR, erbarme dich meiner! Verziehe nicht, eile mir zu helfen, um deines Namens willen, mein Gott!"
  Wenn du um Mittag aus der hellen, vom Sonnenlicht grell beleuchteten Landschaft in einen tiefen Brunnen oder gar in einen Bergwerksschacht hinunterfährst, so vermagst du aus der Tiefe heraus die Sterne zu sehen, die dir sonst unsichtbar gewesen wären. Und wie viele können es bezeugen, dass sie manch herrliche Dinge, die sie im hellen Licht des Glückes niemals gesehen, von denen sie da keine Ahnung gehabt haben, gerade in den dunkelsten Stunden ihres Lebens gefunden haben, und dass sie die Lichtstrahlen der zukünftigen Herrlichkeit, die ihrem Auge aufgeleuchtet sind, und die besten Gedanken-Durchblicke, und die herrlichsten Siege des Glaubens, und das kühne, dringende Flehen eben den Zeiten danken, da sie in sehr, sehr finstern Tälern wandelten. James Vaughan 1878.


V. 1.2. Man hat mit Recht gesagt, dass diese beiden Vers uns sechs Eigenschaften des wahren, rechten Gebetes vorführen. Es ist demütig: aus der Tiefe, inbrünstig: rufe ich, unmittelbar an Gott gerichtet: zu dir, gläubig: HERR (Jehovah), voll heiliger Ehrfurcht: Herr (Adonai), persönlich: höre meine Stimme. James Millard Neale † 1866.
  HERR - Herr (Jehovah - Adonai). Seinen Namen Jehovah hat Gott seinem Volke kundgetan, um Israel in dem Glauben an die Festigkeit seiner Verheißungen zu bestärken, 2. Mose 3,13 ff. Der Gott, der selber das Sein schlechthin ist, wird auch sicherlich seinen Verheißungen Wesen und Beständigkeit geben. Da denn der Psalmdichter im Begriff ist, sich an Gott zu wenden auf Grund der Verheißungen seiner Gnade, redet er ihn unter diesem Namen an: Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Jehovah. Wie der Jehovah-Name aber die unwandelbare Treue Gottes gegen sein Volk, auch seine Treue gegenüber seinen Verheißungen, die Seinen zu retten, in sich fasst, so der Name Adonai, Herr, sein Allvermögen. allen Hindernissen zum Trotz diese Rettung zu bewerkstelligen. J. Owen † 1683 und A. R. Fausset 1866.


V. 3. Das Wort (das Luther etwas freier zurechnen übersetzt) heißt zunächst etwas mit starrer Aufmerksamkeit beobachten, wie der Wächter es tut, der von seinem Wachtturme aus alles, was vorgeht, scharf ins Auge fasst. Wenn der HERR so mit scharfem Auge alles an uns und in uns beobachtete, um jeden Fehler mit ganzer Strenge zu rügen, wer wollte vor ihm bestehen? Dann heißt das Wort aber auch: etwas starr im Gedächtnis festhalten, es da bewahren (z. B. 1. Mose 37,11). Wenn der Herr so unsere Missetaten in seinem Gedächtnis aufspeichern und bewahren wollte - wer könnte vor ihm bestehen? Der HERR sieht oft in seiner erbarmenden Geduld, als sähe er nicht; er macht es wie ein Vater, der manchmal wegschaut, wenn sein Kind etwas tut, was verkehrt ist. Vergl. auch Röm. 3,25. Freilich wehe dem, der sich durch solche Güte nicht zur Buße leiten lässt! Joseph Caryl † 1673.
  Sünden, Grundtext: Verschuldungen. (Es steht hier weder der allgemeinste Ausdruck, t)+Ifxa [Sünde], der die Sünden, seien es Schwachheit oder Bosheitssünden, als Verfehlung, Abirrung von dem göttlichen Wege und dem den Menschen durch den göttlichen Willen gesteckten Ziel bezeichnet, noch der Ausdruck ($apIe [Frevel], der die Sünde in ihrer Steigerung zum absichtlichen und vorsätzlichen Bruch mit Gott, also als Abtrünnigkeit, als Empörung wider Gott bezeichnet, auch nicht das Wort ($are [Gottlosigkeit, Böses], das das Böse als zur habituellen [eingewurzelten, der ganzen Persönlichkeit das Gepräge gebenden] Bestimmtheit der Gesinnung und des Handelns geworden bezeichnet, sondern es ist hier das Wort NO(f [Verschuldung] gebraucht.) Dieser Ausdruck bedeutet eigentlich Krümmung, Verkehrung, pravitas; er bezeichnet zunächst nicht eine Handlung, sondern die Beschaffenheit einer Handlung, vergl. Ps. 32,5 (Luther: die Missetat meiner Sünde). Im Munde der Weltleute Hos. 12,9 bezeichnet das Wort Unrecht überhaupt ("Man kann mir bei all meinem Gewinne kein Unrecht nachweisen, das Sünde wäre"). Da es aber nach alttestamentlicher Lehre kein Unrecht gibt, das nicht Sünde wäre, so ist NO(f die Verkehrung des göttlichen Gesetzes, a)nomi/a, dann aber besonders die Sündenschuld, die Verschuldung, zuerst 1. Mose 15,16, und so in vielfacher Verbindung: Schuld wegnehmen, Schuld anrechnen, Schuld vergeben. - Nach Prof. Dr. G. Fr. Öhler 1882.
  HERR - Herr. Wenn Gott sich nicht als Jah (abgekürzte Form für Jahve, Jehovah) zeigte, d. h. als der in der Macht freier Gnade die Geschichte durchwaltende Gott des Heils, so würde vor ihm, der Adonai ist, der Allwaltende und Allesvermögende, der also seinen richterlichen Willen durchsetzen kann, keine Kreatur bestehen können. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Herr, wer wird bestehen? Sobald Gott Zeichen seines Zornes blicken lässt, nehmen selbst die größten Heiligen diese Sprache an. Siehe die Bekenntnisse eines Mose, Hiob, David, Nehemia, Jesaia, Daniel, Paulus und der anderen Apostel. Höre, wie Christus seine Jünger zu dem Vater im Himmel bitten lehrt. Vergib uns unsere Schulden! Wenn selbst die heiligen Patriarchen, Propheten und Apostel vor Gott niedersinken mussten und um Vergebung flehen, was wird es werden mit denen, die Sünde auf Sünde häufen? H. Moller 1639.


V. 4. Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Ist das nicht ein Missgriff des Psalmisten?3 Müsste es nicht heißen: Bei dir ist die strafende Gerechtigkeit, dass man dich fürchte? Ist es doch diese Gerechtigkeit, die Schrecken verbreitet und in Furcht hält, während die Gnade furchtlos macht, und Furchtlosigkeit und Furcht schließen einander doch aus, also auch die Gnade die Furcht! Aber gibt es nicht, dass ich so sage, eine aktive Furcht, eine Furcht, die auf unser künftiges Tun Bezug hat, nämlich die Furcht, Gott zu betrüben und zu beleidigen, ebenso wohl als eine passive Furcht, eine Furcht vor der Strafe, dem Leiden, das man gewärtigen muss, weil man Gott beleidigt hat? Und ist nicht mit der Gnade jene genannte aktive, das Tun beeinflussende Furcht sehr wohl vereinbar, während die andere, die Furcht vor den Folgen des getanen Bösen, allerdings der Gerechtigkeit Gottes zugehört? - Es ist ein in der Welt sehr allgemein verbreiteter Irrtum, dass man meint, wir könnten umso dreister sündigen, weil Gott gnädig ist. Aber, meine Seele, hüte dich vor diesem Irrwahn, denn Gottes Gnade hat von ferne nicht solchen Zweck. Sie soll uns nicht dreist machen, sondern sie soll die rechte Furcht in uns erzeugen; und je größer Gottes Gnade ist, desto größer sollte auch unsere Furcht sein. Wenn wir ihn nicht fürchten, so mag er sich bedenken, ob er uns gnädig sein wolle oder nicht; oder vielmehr, wir können gewiss sein, dass er sich uns nicht als gnädig erweisen wird, da er Gnade nur für die hat, die ihn fürchten (Ps. 103,13.17; Lk. 1,50). Und das hat seinen guten Grund; denn wem sollte sich wohl die Gnade erzeigen, als denen, die sie nötig haben? Und wissen wir, dass wir sie nötig haben, dann werden wir auch Furcht haben. Darum gib mir, o du gnadenreicher Gott, dass ich dich fürchte! Denn wie du mir nicht gnädig sein wirst, es sei denn, dass ich dich fürchte, so vermag ich auch wiederum dich nicht zu fürchten, es sei denn, dass du zuerst ein Gnadenwerk an mir tuest. Richard Baker † 1645.
  Als ich so darüber sann, wie ich den HERRN lieben und wie ihm meine Liebe bezeigen könnte, da kam mir das Wort in den Sinn: Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Das waren trostreiche Worte für mich, indem mir klar wurde, dass Liebe und Ehrfurcht gegen Gott zusammengehen sollen, und ich verstand aus diesen Worten, dass der große Gott auf die Liebe seiner armen Geschöpfe so hohen Wert lege, dass er lieber, als dass er ihre herzinnige Verehrung entbehren sollte, ihnen ihre Verschuldungen vergeben wolle. John Bunyan † 1688.
  Die Vergebungsgnade allein setzt den Menschen in eine gemäße Furcht vor Gott, die er aushalten kann, die ihm nicht zu peinlich ist, sondern darin er dem lebendigen Gott ohne kümmerliche Ängstlichkeit und ohne eigenwillige Ausgelassenheit dienen kann. Und das rühmt der Begnadigte gegen dem lieben Gott mit Dank. Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Sogar ein Saul fängt laut an zu weinen (1. Samuel 24,17), da er ein so deutliches Zeugnis von Davids Liebe und unverdienter Verschonung bekommt. Hast du nie einen verurteilten Verbrecher bei der Nachricht von der unerwarteten und unverdienten Begnadigung in Tränen zerfließen sehen, der all die Zeit vorher hart wie ein Kiesel war? Der Hammer des Gesetzes kann das eisige Herz des Menschen durch Schrecken und Grausen in Stücke zerschlagen, und es kann dennoch Eis bleiben, innerlich unverändert; aber wenn die Sonne der Liebe mit ihrer freundlichen Wärme das Eis auftaut, dann wird es verändert und löst sich in Wasser auf - dann ist es nicht mehr Eis, sondern es bekommt eine ganz andere Natur. George Swinnock † 1673.
  Wo keine Vergebung ist, ist auch kein Gott; wo kein Gott ist, ist auch keine Vergebung; wo keine Vergebung, ist auch keine Furcht noch Dienst Gottes, sondern lauter Abgötterei und der Werke Gerechtigkeit. Martin Luther 1531.
  Die evangelische Lehre von der freien Vergebung der Sünden erzeugt an sich wahrlich nicht Gleichgültigkeit, wie die Römischen fälschlich behaupten, sondern vielmehr eine wahre, echte Furcht des HERRN, wie der Psalmist hier ja auch sagt, dass dies der Endzweck und die Wirkung der Vergebungsgnade sei. Sal. Geßner † 1605.
  Das Denn ist dem Sinne nach gleich aber, sondern oder vielmehr. O welch wunderbarer Übergang! Es ist, als hörten wir die vergeltende Gerechtigkeit mit Donnerstimme rufen: "Der Sünder, er sterbe!", als heulten die Furien in der Hölle dazu: "Hinunter mit ihm ins Feuer!", als schrie das Gewissen kreischend: "Lass ihn verderben!", und als seufzte die ganze Kreatur unter der Last des Sünders, die Erde müde, ihn zu tragen, die Sonne überdrüssig, noch weiter über dem Missetäter zu leuchten, die Luft selbst davor Ekel empfindend, dem noch Odem zu spenden, der doch seine Kraft nur gebraucht im Ungehorsam gegen den Schöpfer! Eben ist der Mensch im Begriff, ins Verderben zu sinken, plötzlich von dem Abgrund verschlungen zu werden - da kommt mit einem Mal dies herrliche Aber, das den unaufhaltsamen Sturz ins Verderben aufhält, seinen starken Arm der ewigen Liebe ausstreckt und den goldenen Rettungsschild zwischen den Sünder und das Verderben schiebt, indem es die Worte spricht: Aber bei dem HERRN ist die Vergebung, auf dass man ihn fürchte! C. H. Spurgeon 1885.
  Diese Vergebung, dies gnädige Leuchten des Angesichtes Gottes, fesselt die Seele an Gott mit einer Furcht, die von hoher sittlicher Schönheit ist. Es ist die Furcht, auch nur um einen der Blicke seiner Liebe, um eines seiner gütigen Worte zu kommen. Es ist die Furcht, durch eine tückische Strömung der Weltlust aus dem Himmel des Bewusstseins der Nähe des HERRN fortgerissen zu werden; Furcht, in geistlichen Schlaf zu versinken; Furcht, irgendeinem Irrwahn anheimzufallen; Furcht, dem HERRN nicht wohlzugefallen. So ist es unsere Pflicht, aus diesem Born der vergebenden Liebe Gottes mit vollen Zügen zu trinken. Dieser Vergebungsgnade voll werden heißt mit Reinheit, Inbrunst und Glauben erfüllt werden. Unsere sündlichen Neigungen müssen ihre Drachenhäupter verstecken und durch die Ritzen und Spalten verschwinden, wenn die Vergebungsgnade, wenn Christus in die Seele einzieht. G. Bowen 1873.


V. 3-8. Der alttestamentliche Glaube ist zunächst negativ ein Herausgehen aus allem natürlichen Kraft- und Machtgefühl, ein Aufgeben des Vertrauens auf menschliche Stärke und Hilfe, positiv ein Festmachen des Herzens an dem göttlichen Verheißungswort, ein sich stützen auf Gottes Macht und Treue. In seiner Richtung auf die Erfüllung der göttlichen Verheißungen ist der alttestamentliche Glaube eben der Zukunft zugewendet; er schließt in sich die Geduld und die Hoffnung. Nach dieser eigentümlich alttestamentlichen Form wird der Glaube Hebr. 11 erläutert an den alttestamentlichen Vorbildern. - Aber das Alte Testament kennt auch den Glauben, der negativ das aus der Erkenntnis der Sünde entspringende Verzichten auf eigenen Rechtsanspruch und eigenes Verdienst Gott gegenüber, positiv die Hingabe an den barmherzigen, Sünden tilgenden Gott und seine Versöhnungsgnade in sich schließt, eben das, was zum Wesen der fides salvifica (des seligmachenden Glaubens) des Neuen Bundes gehört. Eine Hauptstelle hierfür ist Ps. 130,3-5: Wenn du Verschuldungen behältst, - wer wird bestehen? Doch bei dir ist die Vergebung. ... Ich harre Jehovahs, es harrt meine Seele; ich warte auf sein Wort. Hier erscheint der Glaube als Harren auf das Heilswort, das Sündenvergebung ankündigt, ist aber auch hier der Zukunft zugekehrt. (Besonders gehört hierher Jes. 40-66. Dieses Buch verkündigt in einer Reihe von Stellen die Nichtigkeit des Werkverdienstes und weist hin auf das Ergreifen der göttlichen Vergebungsgnade, vergl. den Schluss von Jes. 43.) - Aber inwieweit gilt diese Heilsordnung, dass der Mensch, im Glauben Gottes Gnade ergreifend, Vergebung findet, auch schon für die Gegenwart des Alten Testaments? Inwieweit gilt schon hier, dass der Gerechte nicht bloß im Glauben an die künftige Erfüllung der Verheißung und an die künftige Heilsgnade wandelt, sondern auch eines gegenwärtigen Heilsbesitzes sich erfreut, der Vergebung seiner Sünden sich getröstet? Es handelt sich bei dieser Frage darum, ob außer der Vergebung, welche für Schwachheitssünden durch Bekenntnis und Opfer erlangt wurde (z. B. 3. Mose 5,10, vergl. Ps. 19,13), es auch eine Vergebung für die Bosheitssünden, welche durch Opfer nicht sühnbar waren, gegeben habe und so eine Rechtfertigung des ganzen Menschen. Allerdings lehrt das Alte Testament durch Wort und Tatsachen (in der Geschichte des Volks wie in der Lebenserfahrung der einzelnen Frommen), dass dem Sünder, der bußfertig und vertrauensvoll Gott sich zuwendet, die göttliche Vergebung zuteil wird; und es ist dieses nicht bloß ein göttliches Ignorieren der Sünde, ein Schweigen Gottes dazu, wie ein solches eine Zeit lang selbst dem Gottlosen gegenüber stattfinden kann (Ps. 50,21), sondern es ist ein Vorübergehenlassen, Entfernen der Sündenschuld (2. Samuel 12,13), oder (wie es Hiob 33,26 heißt: "Er gibt dem Menschen wieder seine Gerechtigkeit") ein Zurückversetzen des Sünders in den Stand, da er als dem göttlichen Willen entsprechend angenommen wird, ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens ist. Gott will als der Gnädige und Barmherzige erkannt sein. Bei dir ist die Vergebung, sagt Ps. 130,4, auf dass du gefürchtet werdest, d. h. auf dass du in deiner vergebenden Gnade Gegenstand der Ehrfurcht seiest. Die Sündenvergebung ist etwas, das (wie Ps. 79,9 es ausdrückt) Gott um seines Namens willen tut. Das Alte Testament kennt somit nicht bloß den Unfrieden dessen, der seine Sünde verschweigt oder sich selbst vergibt, sondern auch den Frieden dessen, der durch Gottes Urteil von der Sündenschuld losgesprochen ist. Es gehören hierher Ps. 32; Spr. 28,13 sowie die Stellen, in denen von der Gnade Gottes gegen gebrochene, demütige Herzen die Rede ist: Ps. 51; 34,19 usw. Es hat daher nicht bloß Lobgebete für die künftige Versöhnung wie Micha 7,18 ff., sondern auch für empfangene Sündenvergebung wie Ps. 103. - Aber solche Heilserfahrung bleibt doch eine relative, von der neutestamentlichen bestimmt unterschiedene. Sie gewährt fürs Erste wohl Beruhigung über einzelne Sünden, ja momentan in Bezug auf die ganze Stellung des sündigen Subjekts zu Gott; aber, wie sie nicht beruht auf einer objektiv für die Gemeinde errungenen bleibenden Versöhnung, so begründet sie auch für den Einzelnen keinen bleibenden Versöhnungsstand. Was für die Gemeinde im Ganzen bei der Unzulänglichkeit des unter ihr aufgerichteten Dienstes der Versöhnung gilt, dass sie die volle Versöhnung (vergl. Sach. 3,8 ff.) und Vergebung erst von der Zukunft erwarten soll - Ps. 130,7 f.: "Harre, Israel, auf Jehovah - er wird Israel erlösen von allen seinen Verschuldungen" -, das hat, trotz der Verinnerlichung der Expiation Ps. 51,19, auch für den Einzelnen seine Gültigkeit. Ihm wird nicht eine Versöhnungsgnade und Rechtfertigung zuteil, kraft welcher er mit dem Apostel, 2. Kor. 5,17, sprechen könnte: Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden. Er ist beruhigt über das Vergangene, aber um nun von vorn wieder anzufangen, durch Werke des Gesetzes gerecht zu werden. Es werden Beweggründe der Liebe und Dankbarkeit gegen den Gott, der ihm die Sünde vergab, in ihm lebendig, er erfährt etwas von dem Beistand des göttlichen Geistes, der das Wollen im Menschen schafft, aber - und dieses ist das Zweite - es kommt in ihm noch nicht zur Einwohnung dieses Geistes, vermöge welcher eine Umkehr des alten Lebensgrundes bewirkt, der Same einer neuen geistigen Persönlichkeit, eines Geistesmenschen in ihn eingesenkt wäre. Das ist es, was Fr. von Rougemont (Christus und seine Zeugen, 1859) treffend so ausdrückt, dass es im Alten Testament wohl zur Bekehrung als sittlicher Veränderung, aber nicht zur Wiedergeburt als neuer Schöpfung komme. Und eben darum wirkt fürs Dritte der göttliche Geist in den Gerechten des Alten Testaments auch noch nicht die volle Überwindung des Todes und ewiges Leben. Theologie des Alten Testaments von Prof. Gust. Fr. Öhler 1882.
  David macht seine Seele frei von aller Furcht, dass Gott an armen bußfertigen Sündern nach der Strenge vergeltender Gerechtigkeit handeln werde, indem er den Trost als unanzweifelbare Wahrheit aufstellt, dass Gott ein vergebendes Herz in seinem Busen hat, und nicht nur das, sondern dass er auch sich durch seine zuverlässige Verheißung gebunden hat, diese Vergebung allen auch wirklich zu gewähren, die demütig und zur rechten Zeit die Erfüllung dieser Zusage ansprechen. Und nun siehe, was für einen Bau der heilige Beter auf diesem Grunde in V. 5 errichtet. Wir hören ihn gleichsam sagen: HERR, ich nehme dich beim Wort, und ich bin entschlossen, dank deiner Gnade, an der Tür deiner Verheißung zu warten und nicht zu weichen, bis du mir die verheißene Gabe (die Vergebung meiner Sünden) zukommen lässest. Und nun, da David die Gabe, das Himmelsmanna der Gnade, empfangen, schmeckt es ihm so süß, dass er es nicht allein genießen mag an seinem königlichen Platz; er schickt darum die Schüssel hinunter, selbst bis zum unteren Ende der Tafel, damit alle Gottesfürchtigen mit ihm davon kosten können, V. 7.8. Es ist, als sagte er: Was mir, obwohl meiner Sünden so viele sind, Grund guter Zuversicht ist, das bietet jedem wahren Israeliten, jeder aufrichtigen Seele ebenso festen Grund, darauf seine Hoffnung stehen kann. Ja, ich habe für solche ebenso starken Glauben wie für mich selbst, dass der HERR jeden aufrichtig Gottes Gnade in Anspruch nehmenden Israeliten erlösen wird von allen seinen Verschuldungen, wie er mich begnadigt hat. William Gurnall † 1679.
  Von dem Harren und Warten seiner Seele redet er erst gegen andere Gnadengenossen, mithin nicht, um dem HERRN hierunter einen Verzug vorzuhalten, sondern mehr, um andern eine dienliche Nachricht zu geben, dass es Wartens gelte, wobei man aber doch ein Wort vor sich habe, und in demselben den angebotenen Trost; und zuletzt erfährt man, dass Gott so an einem handle, wie er es im Wort verheißen hat. Das ist die Natur des neuen Menschen, dass er ein stetiges Harren, Hoffen, Trauen, Glauben zu Gott trägt; aber dem natürlichen Menschen kommt solch Hangen am Wort Gottes schwerer an als sonst irgend das größte Werk. Karl Heinrich Rieger † 1791.


V. 5.7. Der Glaube hat Grund und Ziel in Gott selbst. Nicht die Verheißung an sich ist der Gegenstand unseres Glaubens, sondern Gott in der Verheißung. Wir steigen von der Verheißung auf zu Gott, der sie gegeben, und da werfen wir unseren Anker aus. Hoffen auf das Wort ist die erste Tat, V. 5, aber darauf folgt die andere: hoffen auf den HERRN, V. 7. Er ist der schließliche, der höchste und eigentlich der einzige Gegenstand unseres Glaubens, und auf diesem Glauben an den HERRN ruht wesentlich unser Friede und unsere Freude. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele (Klgl. 3,24). Stephen Charnok † 1680.


V. 6. Meine Seele wartet auf den HERRN. Mögen andere auf Glück aller Art warten, das die Welt ihnen bringen soll, ich warte auf den HERRN. Schon in diesem Warten finde ich mehr wahre Befriedigung, als die ganze Welt mir mit allen ihren Genüssen bieten kann. Was wird dann erst der Lohn meines Wartens sein, wenn schon das Warten selbst mir so gesegnet ist! Und darum wartet meine Seele, HERR, auf dich; denn wenn es nicht meine Seele wäre, die da wartete, was wäre mein Warten wert? Nicht mehr als ich selbst, wenn ich keine Seele hätte. Meine Seele ist’s, die Leben in mein Warten haucht und es zu einem lebendigen Opfer macht. Richard Baker † 1645.
  Wächter. Manche übersetzen "Wartende" und fassen das Wort, wie Spurgeon in seiner Auslegung S. 149, allgemeiner. Nach dem häufigen Gebrauch des Wortes ist aber wohl, mit den meisten Auslegern, nur an eigentliche Wächter zu denken. Sollte aber außer den gewöhnlichen Nachtwächtern, die die Stadt behüten, nicht auch vielleicht an die Tempelwächter zu denken sein? Da der Psalm in der Festliedersammlung steht, liegt das nahe. In der späteren Zeit (nur aus dieser wissen wir ja die ganz genauen Einzelheiten über den Tempeldienst) hatten jede Nacht 30 Priester und 240 Leviten den Wachdienst an 24 Stellen in den Toren und Höfen des Hauses Gottes. Während die Tempelwachen bei Tage abwechselnd nur je eine gewisse Zeit Dienst hatten, gab es für die Nachtwachen im Tempel (nach Dr. Edersheim) keine Ablösung. In der Frühe wurde dann einer der Priester auf eine Zinne gesandt, um auszuschauen, ob es Zeit werde, das Lamm für das Morgenopfer zu schlachten. Wenn der Priester berichtete: "Der Morgen dämmert bereits", so wurde er von dem Priester, der die Oberleitung hatte, gefragt: "Ist der Himmel hell bis gen Hebron?" Erst wenn das Morgenlicht so weit vorgeschritten war, wurde das Lamm an den Altar gebracht. Dann wurden die Tempeltore für das Volk geöffnet, und es wurde mit drei Stößen aus den silbernen Trompeten der Stadt kundgetan, dass die Zeit gekommen sei, da das Morgenopfer dargebracht werden sollte. Darauf wurde das Lamm getötet usw. - James Millard
  Mehr denn Wächter auf den Morgen, ja Wächter auf den Morgen. (Grundtext) Siehe, wie der müde Wächter, der von der Kälte und dem Tau der Nacht nass und steif an allen Gliedern auf die Ablösung harrt, oder wie die Priester und Leviten, die im Tempel Wache hielten, auf das Tageslicht harrten, so, nein, mehr denn jene, wartete der Psalmist sehnlich auf ein Zeichen von Gottes Huld und seinem hilfreichen Kommen. Lässt Gott uns warten, so ist das noch kein Beweis, dass er uns das Erbetene abschlage oder seine Hilfe nicht komme. Der Tag bricht doch endlich an, wenn es dem müden Wächter auch lange währt. So wird der HERR auch endlich zu uns kommen, und zwar gerade zur rechten Zeit. Die Sonne hat sich noch nie verschlafen, und unser Gott ist noch nie zu spät gekommen. Auch haben wir ihm ja nichts vorzuschreiben, denn es ist alles freie Gnade. Lasst uns des HERRN harren, wie die Knechte Benhadads auf das Wort "Bruder", auf ein Zeichen der Gnade des Königs Israels warteten (1. Könige 20,32). Thomas Manton † 1677.
  Ja mehr denn Wächter auf den Morgen warten, wartet meine Seele auf den HERRN; denn muss nicht ein entsprechendes Verhältnis sein zwischen Ursache und Wirkung? Sie warten auf den Morgen, dass er ihnen das Licht des Tages und ihrem müden Leibe Ruhe bringe; ich aber warte auf die Sonne der Gerechtigkeit, dass sie die Schrecken der Finsternis verscheuche, die meine Seele in Unruhe halten. Sie warten auf den Morgen, um im Licht des natürlichen Tages wandeln zu können; ich aber warte auf den Aufgang aus der Höhe, dass er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Und dann warten jene nur einen Teil der Nacht, ich aber habe schon Tag um Tag und Nacht um Nacht gewartet und geharrt. Darf ich da nicht mit Recht sagen: Mehr denn Wächter auf den Morgen? Richard Baker † 1645.
  Es gab unter diesem merkwürdigen, in solcher Gährung befindlichen Volke fromme Männer wie Simeon und gottselige Priester wie Zacharias, die sinnend, sehnend, harrend Tag für Tag bei sich die Worte des Psalmisten sangen: Meine Seele wartet auf den HERRN, mehr denn Wächter auf den Morgen, Wächter auf den Morgen. Gleich Liebenden, die der Stunde harren, die für das Kommen des Geliebten bestimmt ist, und die schon beim Rauschen des Laubes, bei dem Auffliegen eines Vogels, dem Summen einer Biene erwartungsvoll auffahren und durch die straffe Anspannung aller ihrer Nerven müde werden, da die Zeit so langsam dahinschleicht, so warteten die Juden auf ihren Befreier. Es ist das einer der Anblicke der Geschichte, der unser tiefstes Mitgefühl erregt - zumal wenn wir bedenken, dass der Erlöser gekommen ist und sie ihn nicht erkannt haben! Henry Ward Beecher 1887.
  In der Nacht vor dem 1. August des Jahres 1830, dem Tage, an welchem die Sklaven in den englischen Kolonien in Westindien in den Besitz der ihnen versprochenen Freiheit kommen sollten, gingen, wird uns berichtet, viele von ihnen überhaupt nicht zur Ruhe. Tausende und zehntausend von ihnen versammelten sich in ihren Bethäusern und warteten unter Gebet und Lobgesängen auf den ersten Lichtstrahl des Morgens jenes Tages, an dem sie frei werden sollten. Etliche von ihnen wurden auf die Berge und Hügel gesandt, von wo aus sie das Anbrechen des Morgens früher sehen und durch Zeichen ihren Brüdern unten im Tal das Dämmern des großen Tages kundtun konnten, der sie zu Menschen machen sollte, während sie bisher nur ein Stück Eigentum, verkäufliche Habe gewesen waren. Wie gespannt müssen diese Leute auf den Morgen gewartet haben! T. W. Aveling 1872.


V. 7. Israel hoffe auf den HERRN. Der Name Israel ist der Ehrenname des wahren Gottesvolkes. "Nicht alle nämlich, die von Israel stammen, sind Israel" (Röm. 9,6). Der Name bezeichnet die Würde der Gotteskinder: sie sind Fürsten, und er weist hin auf ihre Erfahrung, ihre innere Geschichte: sie ringen mit Gott in Gebet und Flehen und siegen. Verzagen ziemt einem Fürsten nicht, geschweige denn einem Christen. Unser Gott ist der Gott der Hoffnung (Röm. 15,13), darum sollen wir auf ihn hoffen. Israel hoffe auf seine Gnade, seine Geduld, seine Fürsorge, ja auf die Fülle der Erlösung, die bei ihm bereit ist. Liebe Seele, gehörst du zu dem Israel Gottes, so erwarte alles von dem HERRN; hoffe auf Licht in Dunkel, auf Kraft in Schwachheit, auf seine Hilfe und Weisung in Verlegenheiten, auf Befreiung in Gefahren, auf Sieg im Kampfe, auf Leben im Tod. Hoffe voll Vertrauen, weil Gott dir seine Verheißungen gegeben; hoffe betend, denn Gott hört es gerne, dass seine Kinder ihm ihre Anliegen vorbringen; hoffe mit Gehorsam, denn es ziemt uns als Kindern, seine Befehle zu beobachten; hoffe allezeit, denn dein Gott ist stets derselbe unveränderliche, treue Gott. James Smith † 1862.
  Während in allen vorhergehenden Versen das Persönliche vorwiegt, erweitert sich hier der Gesichtskreis des Psalms auf ganz Israel. So sollte es immer sein. Dem wahren Glauben ist die Expansionskraft eigen, er will sich ausdehnen. Das Gotteskind will nicht nur selber selig werden. Der Geist der wahren Religion ist ein Missionsgeist. - Nach James Vaughan 1878.
  Bei dem HERRN ist die Gnade. Gnade ist uns mitgeteilt worden, aber sie selber wohnt in Gott. Sie ist eine seiner Vollkommenheiten, seiner Eigenschaften. Ihre Ausübung ist seine Lust. Bei dem HERRN ist die Gnade in ihrer ganzen Fülle; es war nie in ihm reichere Gnade als jetzt, und er wird nie ein reicheres Maß davon besitzen - er ist Liebe. Bei ihm ist die Gnade in all ihrer Zartheit, er ist reich an Erbarmen, voller Mitleid; sein Herz bricht ihm gegen uns, dass er sich unser erbarmen muss (Jer. 31,20). Bei ihm ist die Gnade in all ihrer Mannigfaltigkeit, die jedem Bedürfnisse völlig genügt: Gnade, die den Sünder annimmt, Gnade, die Abgewichene wieder zurückbringt, Gnade, die die Gläubigen bewahrt; Gnade, die Sünde vergibt, Gnade, die in den seligen Genuss aller durch das Evangelium verbrieften Vorrechte einführt, Gnade, die uns gibt über all unser Bitten und Verstehen. Bei dem HERRN ist die Gnade, und es ist ihm eine Wonne, ihre Fülle zu entfalten, er ist bereit, sie auszuteilen, es ist sein ewiger Ratschluss, sie zu verherrlichen. Bei den HERRN ist die Gnade: das sollte die Elenden ermutigen, zu ihm zu nahen; das bringt den von Furcht vor ihm Erfüllten die Kunde, dass sie nicht ihn erst mit Opfern und Gaben und guten Werken zu bewegen haben, sie zu segnen; das ist ein Liebesruf an die Abgewichenen, zu ihm zurückzukehren; und das vermag den vielgeprüften Christen unter all seinen Nöten und Verlegenheiten mit getrostem Mute und Freude zu erfüllen. Fassen wir es fest ins Herz: Die Gnade ist ein innerstes Stück vom Wesen Gottes und ist darum ihm gleich unbegrenzt und ewig; sie ist allezeit bei ihm auf seinem Throne; sie ist da für jeden, auch für den größten Sünder. James Smith † 1862.
  Dieselbige Erlösung von Pein und Schuld, und sonderlich von der Schuld, spricht er, dass sie bei Gott viel und groß sei; und solches sagt er wegen der Kleinmütigkeit unseres Herzens. Denn wenn wir um die Erlösung bitten, so bitten wir also, dass wir an einem Kleinen uns wollen begnügen lassen. Als wenn einer hoch bekümmert ist, so bittet er, dass er einen einigen Tag möge Friede und Ruhe haben. Wer sehr arm ist, der bittet um das tägliche Brot, daran er ihm will lassen genügen. Gott aber lässet sich daran nicht genügen; denn er gibt uns mehr, denn wir können verstehen noch bitten und begehren. Das ist gewisslich wahr. Die große und überschwängliche Erlösung übertrifft weit, weit unser Bitten und Begehren. Von deswegen hat uns auch der Herr Christus selbst die Weise zu bitten vorgestellt (Erlöse uns von allem Bösen, Mt. 6,13), welcher, so er sie selbst uns nicht gestellt hätte, wer wollte so große und treffliche Dinge von Gott zu bitten so kühne sein? Martin Luther 1531.
  Und Erlösung in Fülle bei ihm. Diese überschwängliche Erlösung lässt von der Sünde nicht mehr Reste überbleiben, als die erste Erlösung von Israel und dem, was es hatte, in Ägypten zurückließ: "Nicht eine Klaue soll dahinten bleiben" (2. Mose 10,26). Diese Erlösung erlöst nicht nur von der Schuld, sondern auch von der Strafe; nicht nur von dieser oder jener Sünde ganz, sondern von allen Sünden, V. 8; nicht nur von dem Gefühl des Strafleidens, sondern auch von der Furcht vor Strafleiden; sie nimmt uns nicht nur die Schuld, sondern auch die Schande, heilt nicht nur die Wunden, die die Sünde uns geschlagen, sondern lässt auch selbst die Narben verschwinden; sie führt uns nicht nur aus dem Kerker, sondern schenkt uns einen Palast; sie errettet uns nicht nur von dem Verhungern, sondern versetzt uns wieder ins Paradies, wo der Baum des Lebens jeden Monat seine Frucht von selber darreicht; sie nimmt uns nicht nur das Verbrecher-Brandmal, sondern macht uns zu Kindern und Erben Gottes, ja Miterben Christi - ist das nicht fürwahr Erlösung in Fülle? Richard Baker † 1645.


V. 7.8. Ach, warum soll ich nicht hoffen auf den HERRN in Geduld? Wo will ich sonst hin, da ich Gnade finde? Um der tröstlichen Gnade willen will ich fest hoffen und geduldig sein, denn sie muss endlich kommen, sonst wäre es keine Gnade. Und weil so viel Erlösung bei Gott ist, solch ein Reichtum seiner Gnade, warum wollte ich denn nicht ein wenig danach harren? Er wird den Verzug mit vieler Erlösung erstatten, und es ist keine Partikularerlösung, dadurch etliche Sünden getilgt und die größten zurückbleiben, nein, sondern eine solche Erlösung, die auf einmal alle Sünde tilgt und wegnimmt, sie sei so groß und schwer, als sie wolle. Johann Arnd † 1621.


V. 8. Und Er wird Israel erlösen. Das Er ist mit Recht groß gedruckt, es hat auch im Grundtexte den Nachdruck. Er wird es tun, und er allein, denn niemand sonst vermag es. Von allen seinen Sünden oder Verschuldungen, nicht nur von den Strafen, den Leiden (wie etliche Ausleger es deuten). Die Erlösung umfasst alles: die Vergebung der Sünden, das Brechen der Macht und Herrschaft der Sünde und die Befreiung von allen Folgen der Sünde. J. J. St. Perowne 1868.
  Von allen Sünden. Von Sünden des Auges -: Begeht dein Auge nie eine Sünde? Lass dein Gewissen sprechen. Von Sünden des Ohres -: Gibt es keine Sünden, die durch das Ohr in dein Herz eindringen? Du kannst kaum einer Unterredung auf der Gasse lauschen, ohne dass, um mit Bunyan (in seinem "Heiligen Krieg") zu reden, ein Feind sich durch das "Ohrtor" in die Festung deines Herzens schleicht. Von Sünden der Zunge -: Hältst du deine Zunge allezeit im Zaume? Kommt nie ein Wort von deinen Lippen, das sich für dich, der du dich zu dem Evangelium bekennst, nicht schickt? Beteiligst du dich nie an ungeistlichem Geschwätz, fällt bei dir zu Hause nie ein zorniges Wort vor, brauchst du nie einen Ausdruck, von dem du nicht möchtest, dass dieser oder jener ihn höre? Von Sünden der Gedanken -: Wenn wirklich deine Augen, deine Ohren, deine Lippen sich rein halten, kommt es nie zu einer Gedankensünde? In der geheimen Werkstatt da drinnen, wird da nie an etwas gearbeitet, das vor Gott sündlich ist? O wie unwissend müssten wir in Bezug auf uns selber sein, wenn wir meinen könnten, wir hätten keine Gedankensünden! Von Sünden der Einbildungskraft -: Zaubert die Phantasie dir nie sinnliche Bilder vor, an denen deine fleischliche Natur niedrig genug ist, sich zu ergötzen? Von Sünden des Gedächtnisses -: Führt dir die Erinnerung nicht manchmal Sünden wieder vor, die du früher begangen hast, und deine arge Natur ist vielleicht gemein genug, heimlich zu wünschen, du wärest damals in der Sünde noch einen Schritt weiter gegangen, oder du könntest jene Sünde ungestraft noch einmal tun? Von Sünden der Gefühle und Neigungen -: Hast du nie bei irgendeiner Gelegenheit etwas von Feindschaft gegen Gottes Volk oder diesen und jenen treuen Mahner in deinem Herzen gespürt, nie etwas von Stolz, keine Habsucht, keine Heuchelei, keine Selbstgerechtigkeit, keine sinnlichen Neigungen, keinen niederträchtigen Gedanken, den du selbst deinem Busenfreund nicht offenbaren möchtest? - Aber siehe hier die köstliche Verheißung - eine Verheißung, die nur für das wahre Israel passt, denn alle andern haben kein Auge für ihre Sünden und rechtfertigen sich selbst in Eigengerechtigkeit. Nur das wahre Israel fühlt und bekennt seine Sünden, darum beschränkt sich auch auf dieses die Verheißung der Erlösung: Er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden. Wie, von allen? Ja. Soll wirklich auch nicht eine übriggelassen werden? Nein, auch nicht eine Spur, nicht ein Schatten. Alle sind sie begraben, alle dahin, alle verschlungen, alle ausgetilgt, alle aus freier Gnade vergeben, alle von Gott selbst hinter seinen Rücken geworfen! Joseph C. Philpot † 1869.
  Dieser Psalm enthält eine herrliche Hinweisung auf den Messias, indem er von der Fülle der Erlösung spricht, und dass der HERR Israel von allen seinen Sünden erlösen werde. Diese letzteren Worte klingen ja wieder in dem Worte, das der Engel zu Joseph sprach, dass nämlich der von dem Heiligen Geiste gezeugte, von Maria geborene Sohn Jesus heißen solle, denn er werde sein Volk selig machen (erretten, erlösen) von allen ihren Sünden (Mt. 1,21). John Hayward † 1627.
  Welch lieblicher und angemessener Schluss zu diesem so inhaltsreichen und lehrreichen Psalm! Der Anfang ist vergleichbar einem düsteren Morgen, wo die Sonne hinter Wolken verhüllt aufgeht; der Schluss ist wie wenn die Sonne ganz in Glut und Glanz getaucht untergeht. Der Psalm beginnt in bodenlosen Abgrundstiefen der schrecklichsten Not, er endet auf seliger Höhe, auf der wir weit ins gelobte Land der Erlösung, in unermessliche Weiten der Gnade Gottes hineinschauen. Erlösung von allen Sünden! Auch die beredteste, anschaulichste Sprache kann es nicht schildern, was darin liegt; alle unsere Maße versagen, wenn wir diese Tiefe und Höhe messen wollen. Die lebhafteste Einbildungskraft vermag es nicht zu fassen, das in den glühendsten Farben gemalte Bild es nicht darzustellen, und selbst dem Glauben wollen die Flügel erlahmen bei dem kühnen Versuch, diesen Gipfel zu erreichen. Er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden! Der Vers ist ein Wort-Gemälde von der Wiederherstellung des Menschen und dem wiedergefundenen Paradiese. Octav. Winslow 1874.


Homiletische Winke

V. 1. 1) Was haben wir unter den Tiefen zu verstehen? Große äußere und innere Nöte. 2) Wie kommen Menschenkinder in solche Tiefen? Durch Sünde und Unglauben. 3) Was tun Menschenkinder, die unter dem Einfluss des Geistes Gottes stehen, wenn sie in solchen Tiefen sind? Sie rufen zum HERRN. 4) Wie führt der HERR betende Menschenkinder aus den Tiefen? Siehe V. 8. W. H. Page 1885.
  1) In der tiefen Grube. 2) Der aufleuchtende Morgenstern: Du, HERR. 3) Das Gebet, das aus der Tiefe bis in den Himmel dringt. William Bickle Haynes 1885.
V. 1.2. 1) Die Tiefen, aus denen unsere Bitten empordringen dürfen: Tiefen der Trübsal, der Sündenerkenntnis, des Gefühls der Gottverlassenheit. 2) Die Höhe, zu der unsere Bitten emporsteigen dürfen: zu Gottes Gehör, zu seinem mitleidigen, aufmerksamen, zum Helfen bereiten Hören.
  1) Wir sollen allezeit, in allen Lagen beten (Lk. 18,1). 2) Wir sollten darum beten, dass unsere Gebete gehört werden mögen. 3) Wir sollten beten, bis wir wissen, dass Gott uns hört. 4) Wir sollten beten in der Zuversicht des Glaubens, dass, so wir wissen, dass er uns hört, was wir bitten, wir die Bitten haben, die wir von ihm gebeten haben (1. Joh. 5,15). "So spricht der HERR, der Gott Israels: Was du zu mir gebetet hast um Sanherib, den König zu Assyrien, das hab ich gehört" (2. Kön 19,20). Gott hatte es gehört - das war genug. Es bedeutete den Tod Sanheribs und die Vernichtung seines Heeres! George Rogers 1885.
  Betrachten wir I. die Lage, in der sich der Psalmist befand. Das diene uns zur Warnung. Offenbar war er durch Sünde in diese Tiefen äußerer und innerer Not gekommen, siehe V. 3.4. Lernen wir daraus 1), wie wichtig es für alle ist, zu wachen, und 2), dass alles Abweichen vom HERRN uns früher oder später unfehlbar in große Not bringen wird. II. Achten wir darauf, dass der Psalmist in dieser Tiefe längere Zeit stecken geblieben zu sein scheint, nach göttlichem züchtigendem Verhängnis. Das mag uns heilige Furcht vor Gottes Gerichten einflößen. Nicht gleich auf seinen ersten Hilfeschrei kam die Befreiung - er musste offenbar anhaltend zum HERRN rufen. Merke: 1) Die Zueignung der Vergebung ist eine Gottestat, die ganz von Gottes unbeschränkt freiem Willen abhängt (vergl. Ps. 85,9). 2) Gott spricht uns aber nicht immer, ja nicht einmal in der Regel die Vergebung gleich auf unser erstes Bitten hin zu; er will, dass die Seinen seiner Heiligkeit die schuldige Ehrerbietung zollen und es fühlen, welch schmerzliche Folgen das Sündigen hat, damit sie sich davor hüten lernen usw. III. Betrachten wir das Verhalten des Psalmisten, da er sich in dieser Lage befand. Es möge uns zur Richtschnur dienen. 1) Er sucht Hilfe allein bei Gott. 2) Er ruft zu dem HERRN mit ganzem Ernst. 3) Er bittet flehentlich, herzbewegend: Höre meine Stimme usw. John Field 1885.
V. 2. Wie können wir Gottes Aufmerken für uns gewinnen? 1) Lasst uns ihn als den Herrn (Adonai) anrufen, bei dem Namen, der unser volles Aufmerken heischt. 2) Lasst uns auf sein Wort aufmerken. 3) Lasst uns ernstlich darauf merken, was wir von ihm bitten und wie wir bitten. 4) Lasst uns aufmerken, ob die Antwort, die Erhörung kommt.
  Herr, höre meine Stimme: 1) Ob sie auch nur schwach zu dir dringt aus der fernen Tiefe - höre sie doch! 2) Ob die Stimme mir auch bricht vor Not und Jammer und ich nur in abgebrochenen Stoßseufzern zu dir flehen kann - höre dennoch meine Stimme! 3) Ob meine Stimme auch unrein, unwürdig ist um meiner Verschuldungen willen - höre sie doch! W. H. Page 1885.
V. 3. I. Die Voraussetzung: So du willst, HERR, Sünden zurechnen. 1) Diese Voraussetzung ist schriftgemäß. 2) Sie ist vernunftgemäß. Wenn Gott gegen die Menschen nicht überhaupt gleichgültig ist, so muss er ihre Sünden beachten. Ist er der Heilige, so muss er gegen die Sünde seinen Zorn kundtun. Hat er selber dem Menschen das Gewissen anerschaffen, so muss er den Wahrspruch desselben über die Sünde aufrecht halten. Ja wie kann er - es wäre denn, dass er ganz auf Seiten der Sünde stünde - wie kann er anders, als das Unheil und Elend rächen, das die Sünde anrichtet? II. Die Frage, die sich aus dieser Voraussetzung ergibt: Wer wird bestehen? Eine Frage, die 1) nicht schwer zu beantworten ist, die 2) von feierlicher Wichtigkeit ist für einen jeden, die darum 3) auch von einem jeden mit ganzem Ernst erwogen werden sollte, und zwar ohne Zögern. III. Die Möglichkeit, auf welche der erste Satz selber hindeutet: So du willst, HERR usw. Dieses So oder Wenn deutet ja doch die Möglichkeit an, dass Gott die Sünde vielleicht nicht zurechnen wolle. 1) Diese Möglichkeit ist vernunftgemäß, unter dem Vorbehalt, dass das Nichtzurechnen der Sünde geschehen könne, ohne dass dadurch die Gerechtigkeit Gottes verletzt werde; denn es kann dem Schöpfer und Erhalter der Menschen doch nicht eine Lust sein, diese seine Geschöpfe schuldig zu sprechen und zur ewigen Verdammnis zu verurteilen. 2) Sie ist Wirklichkeit, und zwar eine Wirklichkeit, die Gott zur höchsten Verherrlichung gereicht, dank dem Blute Christi, Röm. 3,21-26. 3) Sie wird zur seligen Gewissheit in der Erfahrung bußfertiger, gläubiger Seelen. John Field 1885.
V. 3.4. 1) Das Bekenntnis: Auch ich kann nicht vor dir bestehen. 2) Die Zuversicht: Bei dir ist die Vergebung. 3) Die Folge: Dass man dich fürchte.
  1) Die sichtbare Voraussetzung. 2) Die ernste Frage. 3) Der göttliche Trost.
V. 4. Bei dem HERRN ist die Vergebung. I. Beweise dafür, dass bei dem HERRN Vergebung ist. 1) Göttliche Erklärungen. 2) Einladungen und Verheißungen (Jes. 1,18). 3) Die Wirkungen der gewährten Vergebung: Gewissheit des Heils und Freude (2. Samuel 12,13; Ps. 32,5; Lk. 7,47 f.; 1. Joh. 2,12). II. Der Grund, warum bei dem HERRN Vergebung ist. 1) In Gottes Wesen ist Willigkeit und Verlangen, zu vergeben; die Dahingabe Christi beweist das zur Genüge. 2) Aber unser Vers spricht nicht nur von einem Wunsche, zu vergeben, sondern davon, dass die Vergebung bei Gott sei, also fertig zur Hand, um ausgeteilt zu werden. Grund dessen ist das Opfer Christi; um seines Blutes willen betätigt sich die Willigkeit zu vergeben rechtmäßig in der Handlung der Vergebung (Röm. 3,25 f.). 3) Daher ist die Vergebung allen, die da glauben, gesichert (Röm. 3,25; 1. Joh. 2,1.2). III. Die Wirkung ihrer Aneignung: Dass man dich fürchte, nämlich mit der Furcht ehrerbietiger Verehrung und mit Anbetung im Geiste. 1) Die Möglichkeit, der Vergebung teilhaftig zu werden, erzeugt in der von der Sünde überführten Seele echte Reue im Gegensatz zu bloßem Schrecken und Verzweiflung. 2) Die Hoffnung, die Vergebung zu erlangen, führt zu ernstem Suchen des HERRN und herzlichem Flehen um Gnade. 3) Der Empfang der Vergebung durch den Glauben erfüllt mit Frieden und seliger Ruhe und führt, indem sie im Herzen dankbare Liebe erweckt, zu Anbetung Gottes im Geist und zu Dienst in kindlicher Liebe. John Field 1885.
  1) Wir brauchen Vergebung. 2) Gott allein kann sie gewähren. 3) Sie ist zu haben. 4) Wir können zu der Gewissheit kommen, dass wir sie haben.
  I. Eine höchst ermutigende Ankündigung: Bei dir ist die Vergebung. 1) Eine ganz sichere Tatsache. 2) Eine Tatsache, die als eine gegenwärtige verkündigt wird. 3) Eine Tatsache, die aus Gottes Wesen selbst hervorgeht. 4) Eine Tatsache, die mit ganz allgemeinem Ausdruck, ohne Einschränkung irgendwelcher Art, ausgesagt wird. 5) Eine Tatsache, die wir mit Wonne beschauen und uns aneignen dürfen. II. Ein höchst bewundernswerter Zweck: Dass man dich fürchte. 1) Dieser Zweck der Vergebung steht im schärfsten Gegensatz zu dem Missbrauch, welchen solche mit Gottes Güte treiben, die in der Sünde, die ja Empörung wider Gott ist, beharren, mit der Gnade leichtfertig spielen oder ihre Bekehrung immer hinausschieben. 2) Diese göttliche Absicht bei der Vergebung ist ferner sehr verschieden von den Befürchtungen, welche diejenigen, die das Heil des Menschen auf die Werke gründen wollen, gegen das Evangelium von der freien Gnade vorwenden. 3) Ohne Vergebung keine echte Gottesfurcht - Beweis: die Teufel und die Verstockten. 4) Gäbe es keine Vergebung, so würde niemand überbleiben, der Gott in heiliger Furcht dienen könnte. 5) Aber die Ankündigung der Vergebung ermutigt zu Glauben, Buße und Flehen um Gnade, und der Empfang der Vergebung erzeugt Liebe, flößt Gehorsam ein und entflammt den Eifer für den HERRN.
  Sanftes Himmelslicht. 1) Der lichte Engel am Thron des Höchsten (die Vergebung). 2) Der Schatten, der die Majestät seiner Herrlichkeit steigert (So du willst, HERR, Sünden zurechnen - Aber vielmehr ist bei dir die Vergebung). 3) Die Huldigung gegenüber dem Höchsten, die durch den Dienst dieses Engels zustande kommt (dass man usw.); diese Huldigung bringen alle dar, vom Größten bis zum Geringsten.
V. 5.6. Harren - hoffen - (wachend) warten.
  Ich harre des Herrn usw. Betrachten wir diese Worte als Sprache 1) des den HERRN suchenden Sünders, 2) des leidenden Christen, 3) des in herzlicher Liebe um das Heil anderer Flehenden, 4) des Arbeiters im Reiche Gottes, 5) des sterbenden Gläubigen. William Jackson 1885.
  Wir sollen des HERRN harren: 1) Im Glauben: Ich hoffe auf sein Wort. 2) Mit Gebet. Das Gebet kann ausharren, wenn es eine Verheißung hat, auf die es sich stützen kann. 3) In Geduld, weil Gott seine besondere Zeit hat zum Geben und weil, was er gibt, des Harrens wert ist. George Rogers 1885.
V. 6. Mehr als Wächter auf den Morgen. (Grundtext) 1) Weil das Vermissen der Gegenwart des HERRN für die Seele eine dunklere Nacht ist. 2) Weil sein Kommen einen herrlicheren Tag bringen muss. 3) Weil die im Herzen wohnende Liebe eine größere Macht ist.
  1) Eine lange, finstere Nacht: die Abwesenheit des HERRN. 2) Ein eifriger, hoffnungsvoll wartender Wächter: er erwartet die Rückkehr seines Herrn. 3) Ein klarer, segensreicher Morgen: die Zeit, da der HERR erscheint. W. H. Page 1885.
V. 7. Die erlösende Gnade des HERRN ist die einzige Hoffnung auch der Besten, Gefördertsten. William Bickle Haynes 1885.
  1) Eine göttliche Mahnung: Israel hoffe auf den HERRN. 2) Eine herrliche geistliche Begründung: denn bei dem HERRN ist die Gnade. 3) Eine gnadenreiche Verheißung: und viel Erlösung bei ihm, vergl. V. 8. J. C. Philpot † 1869.
V. 7.8. Es ist unsere höchste Weisheit, auf den HERRN unsere Hoffnung zu setzen. 1) Unser Glaube muss sich von Anfang an, schon in seinen ersten Betätigungen, auf den HERRN selbst richten. Das ist die natürliche Ordnung, die notwendige Ordnung, die leichteste, klügste und nützlichste Ordnung. Beginne dort, wo alles seinen Ursprung hat. 2) Auf was für Dinge immer unser Glaube sich richte, er muss doch immer sich auf den HERRN selber beziehen: Die Gnade - ist bei dem HERRN, viel Erlösung - bei ihm. 3) Unser Glaube muss, was immer der Gegenstand seines Begehrens sei, doch stets in Gott endigen, in ihm sein letztes Ziel haben: Und er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden.
V. 8. 1) Die Erlösung: von allen Sünden. 2) Der Erlöser: der HERR, siehe Tit. 2,14. 3) Die Erlösten: Israel. W. H. Page 1885.

Fußnoten

1. Diese Bemerkungen beruhen darauf, dass der Grundtext hier das perf. praes. hat, zum Ausdruck einer längst angenommenen, in der Gegenwart noch fortdauernden Eigenschaft (Gewohnheit). Im Deutschen lässt es sich nur durch das Präsens wiedergeben. Luthers Übers. ist also (gegen. alle alten Übers.) richtig. Vergl. zu Ps. 120,1, S. 11. - James Millard

2. Es macht sieh bei dieser Auslegung wieder bemerkbar, dass Spurgeon bei dem Worte Gottes fast immer ausschließlich an das geschriebene Wort denkt. So sehr jedem Gläubigen, schon des Alten und zumal des Neuen Bundes, das, was Spurgeon hier sagt, aus dem Herzen gesprochen ist, so will doch für die Exegese dieser Stelle beachtet sein, dass Gott sein großes Wort, das Wort von Golgatha, noch nicht gesprochen hatte. Spurgeon legt aus, als ob dastände: und auf sein Wort trauend hoffe ich (auf seine Hilfe, sein Heil), während der Psalmist sagt: auf sein Wort (der Heils, Ps. 119,81, der Vergebung und Erlösung, der Befreiung von der Schuld und Strafe der Sünde) hoffe ich, es harrend erwartend; denn das ist die Bedeutung des hebr. Zeitwortes: etwas harrend, hoffend erwarten. - James Millard

3. Manche der alten Übersetzer wie auch etliche neuere Ausleger haben den Satz nicht zu verstehen vermocht. Interessant ist übrigens die feine, wenn auch als Übersetzung, zu freie Deutung der LXX: um deines Namens willen, vergl. Ps. 79,9. - James Millard