Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 6 (Auslegung & Kommentar)


Inhalt

Dieser Psalm ist allgemein als der erste der sieben Bußpsalmen (Ps. 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143;) bekannt, und seine Sprache ziemt sich in der Tat sehr wohl für einen Bußfertigen, finden wir darin doch den Ausdruck des Bußschmerzes V. 4.7.8 der tiefen Demut V. 3.5, und des Abscheues vor der Sünde V. 9, und eben dies sind die untrüglichen Kennzeichen eines zerbrochenen Geistes, der sich gläubig zu Gott wendet. Heiliger Geist, wirke du in uns solch echte Reue, welche niemand gereut! - Eine ganze Reihe von Bußliedern der evangelischen Kirche sind aus diesem Psalm erwachsen.
  Die alte Überschrift lautet wörtlich: Vorzusingen (oder: dem Sangmeister), auf Saitenspiel, nach der achten, ein Psalm Davids. Nach dem Targum (d. i. nach der alten Übersetzung und Umschreibung des hebräischen Textes in die spätere aramäische Umgangssprache der Juden) übersetzte Luther: auf (der Zither von) acht Saiten. Die Stelle 1. Chr. 15,21 führte Gesenius und Delitzsch auf die Deutung: in der Oktave, nämlich der ottava bassa, also in der Männerstimme zu spielen, da den Gegensatz dort V. 20 ein Ausdruck bildet, den sie "nach Mädchenweise", also "in der höheren Stimme zu spielen" übersetzten. Der Bass-Schlüssel ist in der Tat sehr geeignet für dies wehmütige Lied. Die Deutung ist jedoch nichts weniger als gesichert; man müsste dabei ja annehmen, dass die Hebräer unsere achtstufige Tonleiter gekannt hätten, was wohl ausgeschlossen zu sein scheint. (Vergl. ferner zu Ps. 46.) Am meisten Wahrscheinlichkeit hat die Deutung: "nach der achten Tonart zu singen und zu spielen". Der Ausdruck kann sich auch auf das Instrument selbst beziehen: die Saiteninstrumente der Hebräer waren, wie Tholuck bemerkt, wahrscheinlich wie die der Griechen nach gewissen Klanggeschlechtern und Tonarten bezogen und gespannt; denn die alten Tonkünstler waren nicht imstande, auf demselben Instrumente verschiedene Tonarten zu spielen, sondern bedienten sich dazu verschiedener Instrumente.

Einteilung. Der Psalm lässt sich ohne Mühe in zwei Teile zerlegen. Erst fleht der Psalmist V. 2-8 in großer Seelennot. Von V. 9 bis zum Schluss dagegen finden wir eine ganz andere Stimmung. Der Sänger verlässt die Molltonart und greift höhere, hellere Akkorde. Die Töne seines Liedes atmen nun heiliges Vertrauen. Er bezeugt, dass Gott sein Gebet erhört und ihn aus all seinen Nöten befreit.


Auslegung

2. Ach, Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn,
und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
3. Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach;
heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken,
4. und meine Seele ist sehr erschrocken.
Ach du, Herr, wie lange!
5. Wende dich, Herr, und errette meine Seele;
hilf mir um deinem Güte willen!
6. Denn im Tode gedenkt man dein nicht;
wer will dir in der Hölle danken?
7. Ich bin so müde von Seufzen;
ich schwemme mein Bette die ganze Nacht,
und netze mit meinen Tränen mein Lager.
8. Meine Gestalt ist verfallen vor Tauern,
und ist alt worden; denn ich allenthalben geängstet werde.


2. Nachdem wir den ersten Teil durchgelesen haben, um einen Gesamteindruck zu gewinnen, wollen wir nun Vers für Vers betrachten. Im 2. Vers liegt der Nachdruck auf Zorn und Grimm, wie das im Grundtext deutlich in der Wortstellung zum Ausdruck kommt: Herr, nicht in deinem Zorn strafe mich, und nicht in deinem Grimm züchtige mich! Der Psalmist ist sich wohl bewusst, dass er Züchtigung verdient, ja er fühlt, dass die Strafe in der einen oder andern Weise über ihn kommen müsse, wenn auch nicht zur Verdammnis, so doch zur Vertiefung seiner Sündenerkenntnis und zur Förderung in der Heiligung. Wie das Getreide durch den Wind gereinigt wird, so die Seele durch Züchtigungen. Es wäre eine Torheit, zu bitten, von der goldenen Hand verschont zu werden, die doch mit jedem ihrer Schläge uns bereichert. David bittet nicht, dass die Strafe ihm gänzlich erspart bleiben möge, denn er könnte so eines darin verborgenen Segens verlustig gehen; sondern er fleht: Ach, Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn. Musst du mir meine Sünde unter Augen stellen, wohlan, es sei, ich will dir stillhalten; aber tue es nicht als einer, der wider mich zornentbrannt ist, damit deines Knechtes Herz nicht in Verzweiflung sinke. So sagt auch Jeremia (10,24): "Züchtige mich, Herr, doch mit Maßen, und nicht in deinem Grimm, auf dass du mich nicht aufreibest." Ich weiß, dass ich gezüchtigt werden muss, und wiewohl ich vor der Rute bebe, fühle ich doch, dass sie zu meinem Besten dienen wird; aber, o Gott, züchtige mich nicht in deinem Grimm, in deiner Zornesglut, es möchte sonst die Rute zum Schwerte werden, das mich tötet. So dürfen wir beten, dass die göttlichen Züchtigungen, wenn sie uns nicht erspart bleiben können, doch wenigstens gemildert werden durch die Gewissheit, dass Gott sie nicht im Zorn, sondern in seiner treuen Bundesgnade über uns verhängt.

3-4. Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach. Ich verdiene es, von deiner Hand zermalmt zu werden; aber lass dich doch in deiner Barmherzigkeit meines kläglichen Zustandes jammern. Das ist die rechte Weise, Gott mit den Waffen des Gebets zu besiegen. Steife dich nicht auf deine Vortrefflichkeit oder deine Größe, sondern gründe deine Bitten auf deine sündliche Schwachheit und Erbärmlichkeit. Rufe: Ich bin schwach, darum stärke du mich, Herr, und zerbrich mich nicht gar. Lass nicht die Wut des Unwetters deines Zornes über ein so gebrechliches Fahrzeug losbrechen. Lass den rauen Wind nicht zu hart herfahren über das arme, seiner Wolle beraubte Lamm. Habe Mitleid mit dem schwachen, dahinwelkenden Blümlein und brich es nicht vom Stamm. So würde gewiss ein Schwerkranker versuchen, das Mitleid seines Mitmenschen zu erregen, wenn dieser mit ihm hadern wollte: Gehe sanft mit mir um, denn ich bin schwach. Ein starkes Gefühl der Sünde hatte den Psalmisten so gründlich gebeugt, so sehr alle Stärke, deren er sich hätte rühmen können, von ihm genommen, dass er sich ohnmächtig fühlte, das Gesetz zu erfüllen, und er unter den Schmerzen der Reue, die sein Inneres durchwühlten, war wie ein Verschmachtender, zu schwach wohl auch, um sich an die Verheißungen anzuklammern. Der buchstäbliche Sinn des Grundtextes ist: Ich bin hingewelkt, bin siech und traurig, äußerlich und innerlich am Verschmachten und Vergehen, wie eine Pflanze, die der Mehltau befallen hat. Wir wissen aus Erfahrung, was das heißt; denn auch wir haben es erlebt, dass unsere Herrlichkeit voller Flecken ward und alle unsere Schöne einer verwelkenden Blume gleich erbleichte.
  Heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken. Nun bittet er um Heilung, also nicht nur um Milderung der Strafen, die er leiden musste, sondern um ihre völlige Hinwegnahme, und um Heilung der Wunden, die sie ihm geschlagen. Seine Gemütsbewegung war so heftig geworden, dass sogar seine Gebeine von Schauder ergriffen waren. Nicht nur sein Fleisch zitterte, sondern auch die Gebeine, die festen Säulen des Hauses, waren ins Wanken gekommen. Ja, wenn die Seele vom Gefühl ihrer Sündhaftigkeit ergriffen wird, mögen wohl die Gebeine zittern; es kann einem alle Haare zu Berge stehen machen, wenn man die Höllenflammen unter sich, einen zürnenden Gott über sich und nichts als Schrecken und Verderben rings um sich her sieht. Da konnte er wohl sagen: Meine Gebeine sind erschrocken. Damit wir aber nicht etwa meinen, es handle sich bei ihm bloß um leibliche Krankheit - wiewohl diese das äußere Zeichen der heftigen Erschütterung seiner Seele sein mochte - fährt der Psalmist fort: Und meine Seele ist sehr erschrocken. Seelenpein ist die höchste Pein. Was macht’s, ob auch die Gebeine zittern, wenn die Seele fest ist? Aber wenn die Seele selber sehr erschrocken ist, dann ist fürwahr große Not. Ach du, Herr, wie (so) lange! Der Satz bricht jählings ab, die Worte gehen dem Psalmisten aus; der Kummer hat auch den Schimmer von Trost, der ihm aufgedämmert war, wieder mit Nacht bedeckt. Dennoch hat der Psalmist nicht alle Hoffnung verloren; aber diese Hoffnung ruht einzig auf seinem Gott. Darum ruft er: Ach du, Herr, wie lange? Wann kommst du, treuer Bundesgott? Wann wirst du dich nach deiner Verheißung wieder zu mir kehren? Dass Christus doch noch im hohepriesterlichen Kleid der Gnade in das Herz einziehen werde, ist die große Hoffnung bußfertiger Seelen. Und wie Christi Erscheinung heute das Ziel der Sehnsucht aller Gotteskinder ist, so ist sie tatsächlich in der einen oder andern Weise stets die Hoffnung aller Frommen gewesen.
  Calvins Leibspruch war: Domine, usquequo? Ach, Herr, wie lange? Auch die heftigsten Schmerzen konnten ihm in seinem mit Not aller Art gesättigten Leben kein anderes Wort abpressen als dieses: Domine, usquequo? Das ist auch der Ruf der heiligen Seelen unter dem Altare: Herr, wie lange? (Off. 6,10). Und das sollte der Ruf aller derer sein, die auf die Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches warten: Warum verzieht sein feuriger Wagen? O Herr, wie lange? Diejenigen unter uns, die unter dem Druck mächtiger Überzeugung von ihrer Sündhaftigkeit geseufzt haben, wissen noch gar wohl, was es war, als uns unter dem Harren auf Gnade die Minuten zu Stunden und die Stunden zu Jahren wurden. Wir warteten auf die ersten Strahlen der Gnade "mehr als Nachtwachende auf den Morgen." (Ps. 130,6 Grundtext) Mit heißem Begehren fragte unser bekümmertes Gemüt: Ach du, Herr, wie lange?

5. Wende dich, Herr, und errette meine Seele! Wie Gottes Fernsein die vornehmste Ursache seines Elends war, so wird, das weiß der Psalmist, Gottes Rückkehr genügen, ihn von seinem Kummer zu befreien. Hilf mir um deiner Güte (oder Gnade) willen! Er weiß, wohin er blicken, woran er sich klammern muss. Er fasst nicht Gottes linke Hand seiner Gerechtigkeit, sondern die rechte Hand seiner Gnade. Er ist von seiner Sündhaftigkeit zu sehr überzeugt, als dass er an irgendein Verdienst denken oder an etwas anderes als die freie Gnade sich wenden könnte. "Um deiner Gnade willen": Flehen, das sich auf diesen Grund stützt, trägt bei Gott den Sieg davon. Wenn wir uns an Gottes Gerechtigkeit wenden, was werden wir dann zu unseren Gunsten vorbringen können? Aber wenn wir zu seiner Güte Zuflucht nehmen, dann dürfen wir, mag unsere Schuld noch so groß sein, dennoch flehen: Hilf mir!
  Beachten wir, wie häufig David hier den Namen Jahwe in seinem Gebet braucht. Wo wir in unserer deutschen Bibel das Wort Herr1 als Gottesnamen haben, steht ja im Hebräischen der Name Jahwe. Fünfmal begegnen wir ihm hier in diesen vier ersten Versen. Ist das nicht ein Beweis, dass dieser erhabene Name voll Trostes ist für den angefochtenen Gläubigen? Gottes völlige Freiheit, seine Ewigkeit und Unendlichkeit, seine Unveränderlichkeit und Treue, all dies und mehr liegt in dem Jahwe - Namen, und jede dieser Eigenschaften birgt eine Fülle glaubenstärkenden Trostes in sich; denn Jahwe nennt Gott sich als der Bundesgott seines Volkes.

6. David war in großer Furcht des Todes, - des leiblichen und vielleicht auch des ewigen. Fasse die Stelle wie du willst, der Vers ist von erschütternder Gewalt. Denn im Tode gedenkt man dein nicht; wer will dir in der Hölle2 danken. Kirchhöfe sind schweigsame Orte. Grabgewölbe hallen nicht von Lobgesängen wider. Moder bedeckt den Mund. "O Herr", sagt David, "wenn du mir das Leben erhältst, werde ich dich preisen. Sterbe ich, so müssen meine irdischen Lieder wenigstens schweigen; und wenn ich in der Hölle umkomme, wirst du nie wieder einen Dankpsalm von mir hören. Jubellieder können aus dem flammenden Abgrund der Hölle nicht aufsteigen. Wohl wirst du ohne Zweifel verherrlicht werden, sogar wenn ich ewig verdammt werde; aber dann, Herr, kann ich dich nicht freiwillig verherrlichen, und unter den Menschenkindern wird ein Herz weniger sein, dich zu preisen." O du armer, zitternder Sünder, möge der Herr dir helfen, dies mächtige Mittel der Überredung zu brauchen. Um der Verherrlichung Gottes willen soll der Sünder gerettet werden. Wenn wir Vergebung suchen, bitten wir Gott nicht, etwas zu tun, was sein Panier besteckt oder auf sein Wappen einen Makel wirft. Barmherzigkeit üben ist seine Lust, Gnade sein innerstes Wesen. Huldreich sich zum Sünder neigende Liebe ehrt Gott. Sagen wir nicht selbst: Güte ehrt den Geber und den Empfänger? Das ist sicherlich, in noch höherem Sinne, wahr von Gott, der sich selbst verherrlicht, indem er uns Gnade angedeihen lässt.

7-8. Nun gibt der Psalmist eine ergreifende Schilderung von seinem langen Seelenkampf. Ich bin so müde von Seufzen. Er hatte gestöhnt, bis sein Hals heiser war; er hatte um Gnade geschrien, bis ihm das Beten schwere Arbeit wurde. Gottes Kinder dürfen wohl seufzen und stöhnen, aber nicht hadern und murren. Ja, die Last ihrer Sünden soll sie zum Seufzen bringen, sonst würden sie auch nicht jauchzen über die Errettung. Ich schwemme mein Bette die ganze Nacht, oder: jede Nacht. Trotz der Erschöpfung aller Leibes- und Seelenkräfte bringt mir die Nacht keine Ruhe. Wenn andere in erquickendem Schlummer der Sorgen des Tages vergessen, erfasst mich meine Seelenpein nur noch stärker. In der Einsamkeit der Nacht fühlt meine Seele noch schrecklicher ihre Verlassenheit, und ob mein Mund vor Erschöpfung stumm wird, schreien meine Tränen desto heftiger. Ach du, Herr, wie lange? Was wird’s noch werden, wenn Gott nicht bald mit seiner Hilfe kommt? Schon ist mein Bett ein Tränensee, und noch immer netze ich (der Grundtext hat ein stärkeres Wort: zerflößen, zerfließen machen; Luther 1524: weiche ich) mit meinen Tränen mein Lager. Mein Auge (Grundtext) ist verfallen vor Trauern, und ist alt worden; denn ich allenthalben geängstet werde. Wie eines alten Mannes Auge einfällt und matt und dunkel wird vor der Menge der Jahre, so, sagt David, ist mein Auge vor Weinen rot und schwach geworden und verfallen vor Kummer. Tiefe Seelennot infolge der Erkenntnis der Sünde hat oft einen solchen Einfluss auf den Körper, dass sogar die Sinneswerkzeuge darunter leiden. Sollte das nicht auch manche von den auffallenden Erscheinungen erklären, die man in Zeiten gewaltiger Erweckungen, besonders bei sehr erregbaren Völkern, wie den Irländern oder Negern, beobachtet hat? Ist es so verwunderlich, wenn etliche zu Boden geworfen wurden und laut um Gnade zu schreien anfingen, da wir hier doch sehen, wie David sein Bett zu einer Tränenflut machte und alt wurde, als er unter der gewaltigen Hand Gottes schmachtetet? O meine Brüder, es ist fürwahr nichts Geringes, zu fühlen, dass man ein Sünder ist, verdammt vor Gottes Richterstuhl. Die Sprache dieses Psalms ist nicht übertrieben und erkünstelt, sondern ganz natürlich für ein Menschenkind in solcher Betrübnis. Auch Calvin sagt: Diejenigen, welche auch nur in geringerem Maße erfahren haben, was es heißt, mit der Furcht des ewigen Todes zu kämpfen, werden in diesen Worten keine Übertreibung finden.


9. Weichet von mir, alle Übeltäter;
denn der Herr höret mein Weinen,
10. der Herr höret mein Flehen;
mein Gebet nimmt der Herr an.
11. Es müssen alle meine Feinde zuschanden werden, und
sehr erschrecken,
sich zurückkehren, und zuschanden werden plötzlich.

9. Bis hierher ist alles in dem Psalm traurig und trostlos gewesen; jetzt aber dürfet ihr, gebeugte Sünder, die ihr David diesen Bußpsalm bis dahin nachgebetet habt, mit David eure Harfen von den Weiden nehmen und sie zu einem Loblied stimmen. Ihr müsst eure Zeit des Weinens haben; aber lasst sie kurz sein. Auf, auf, erhebet euch aus dem Staube, schüttelt Sack und Asche von euch! Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude (Psalm 30,6).
  David hat Frieden gefunden, und nun steht er von den Knien auf und fängt alsbald an, sein Haus von den Gottlosen zu säubern. Weichet von mir, alle Übeltäter. Das beste Schutzmittel wider einen bösen Menschen ist, einen weiten Raum zwischen ihm und uns zu schaffen. "Fort mit euch! Ich kann mit euch keine Gemeinschaft haben." Die Buße ist eine durchaus praktische Sache. Es genügt nicht, die Entweihung des Tempels unseres Herzens zu beklagen; wir müssen die Käufer und Verkäufer hinaustreiben und die Tische der Wechsler umstoßen. Ein Sünder, der Vergebung erlangt hat, hasst die Sünde, die den Heiland sein Blut gekostet hat. Gnade und Sünde sind unverträgliche Nachbarn; einer von beiden muss weichen.
  Denn der Herr hat die Stimme meines Weinens gehöret. (Wörtl., so auch Luther 1524.) Welch feine Poesie! Hat das Weinen eine Stimme? In welcher Sprache spricht es? In der Universalsprache, die auf dem ganzen Erdenrund gekannt ist und selbst auch im Himmel droben verstanden wird. Mag der Weinende ein Jude oder Grieche, Ungrieche oder Szythe, ein Knecht oder ein Freier sein, überall reden die Tränen dieselbe Sprache. Das Weinen ist die Beredsamkeit des Kummers. Es ist ein Redner ohne Worte, dem doch nie die Sprache abgeht und der keinen Übersetzer braucht, sondern von jedermann verstanden wird. Lasst uns Tränen als flüssige Gebete ansehen lernen und das Weinen als ein beständiges Tröpfeln von dringendem Flehen, das sich einen Weg mitten ins Herz der Gnade bahnen wird, trotz den Felsen, die den Weg versperren. Mein Gott, wenn ich nicht beten kann, so will ich weinen, denn du hörst die Stimme meines Weinens. 3

10. Der Herr hat mein Flehen gehöret. (Wörtl., Luther 1524.) Der Heilige Geist hatte in des Psalmisten Herzen diese Zuversicht gewirkt, dass sein Gebet erhört sei. Das ist häufig das Vorrecht der Gläubigen. Indem sie das Gebet des Glaubens beten, bekommen sie oft eine unfehlbare Gewissheit, dass sie bei Gott siegreich waren. Wir lesen von Luther, dass er einst, nachdem er bei einer Gelegenheit hart mit Gott gerungen hatte, vor Freude hüpfend aus seiner Kammer gekommen sei, ausrufend: Vicimus, vicimus, d. i.: Wir haben gesiegt, wir haben gesiegt! Solch gewisse Zuversicht ist kein eitler Traum; wenn der Heilige Geist sie in uns wirkt, so ist uns ihre innere Wahrheit so gewiss, dass wir sie nicht in Zweifel ziehen könnten, ob auch alle Menschen unser freimütiges Vertrauen belachten. Mein Gebet nimmt der Herr an, oder nach anderer Auffassung: wird der Herr annehmen. Hier wendet der Beter die eben gemachte Erfahrung zu seiner Ermutigung für die Zukunft an. "Er hat, er wird" - merke dir das, mein Bruder, und ahme Davids Beweisführung nach.

11. Es müssen alle meine Feinde zuschanden werden und sehr erschrecken. Das ist eher eine Weissagung als eine Verwünschung. Wir können es als einfache Aussage über die Zukunft lesen: Es werden usw.; und ebenso das Folgende: Sie werden sich zurückkehren und zuschanden werden plötzlich. Plötzlich, in einem Augenblick: ihr Schicksal wird sie unversehens ergreifen. Der Tag des Todes ist solch ein Tag, der das Schicksal besiegelt; er kommt sicher, und er kann plötzlich kommen. Die Römer pflegten zu sagen, die Göttin der Rache gehe in Socken einher. Mit lautlosen Tritten naht die Rache ihrem Opfer und schmettert es plötzlich nieder. Sollten die Worte als Verwünschung zu fassen sein, so müssen wir bedenken, dass die Sprache des alten Bundes nicht die des neuen ist. Wir beten für unsere Feinde, nicht wider sie. Gott sei ihnen gnädig und bringe sie auf den rechten Weg.
  So zeigt der Psalm, wie die vorhergehenden, den weiten Unterschied zwischen dem Gottseligen und dem Gottlosen. O Herr, lass uns unter dein Volk gezählt sein, sowohl jetzt als in der Ewigkeit!


Erläuterungen und Kernworte

Zu den sieben Bußpsalmen. Von deren Absicht und Gebrauch merke man sich, dass es damit nicht gemeint ist, als ob man aus diesen sieben Psalmen die allgemeine Beschaffenheit jeglicher Buße zu Gott und seliger Sinnesveränderung lernen müsste, oder als ob ein jeder durch dergleichen Zornempfindungen eines solchen Angstkampfes getrieben würde. Es sind auch wirklich diese Psalmen nicht bei dem ersten bußfertigen Zugang Davids zu seinem Gott gemacht worden, sondern bei einem nach vorgängigem Lauf in den Wegen Gottes erst geschehenen leidigen Straucheln und Fallen, wodurch also schmerzliche Wunden verursacht und von Gott, neben dem Druck seiner Hand im Innern, auch schwere Umstände im Äußern mit Krankheit und Verfolgung verhängt worden sind. Dergleichen kommt ja freilich nicht bei jedem vor, dem Gott Buße zum Leben schenkt; vielmehr findet sich’s, dass Gott einem einen solchen Schritt durch manche Gnadenzüge im Innern und durch allerlei gnädige Schickungen im Äußerlichen zu erleichtern sucht; deswegen keines den Geist der Gnade in seiner Arbeit an sich und andern damit stören soll, dass er auf ein diesen Bußpsalmen gleichkommendes Maß der Traurigkeit und Todesängste dringen wollte. Aber da können hernach diese Bußpsalmen gute Dienste tun, wenn Gott einen Menschen bei gewissen Sünden oder beim Aufwachen der alten Sünden im Gewissen solcherlei Ängste und Zornempfindungen schmecken lässt, dass man daraus lerne, wie man auch in der größten Angst und Gefühl der Verderbnis seine Zuflucht zu der Barmherzigkeit und rettenden Gerechtigkeit Gottes nehmen und dieselbe besonders jetzt in Jesu Christo anrufen könne. Und da kann es freilich den Glauben nicht wenig erwecken und stärken, wenn man aus diesen Psalmen sieht, wie David wieder aus der größten Angst genesen und wie ihm der Geist der Gnaden sein Herz in der Vergebung der Sünden so unvergleichlich erweitert und getröstet habe. Karl Heinrich Rieger † 1791.
  Zum ganzen Psalm. David wurde sehr oft von Krankheit und von Anfechtung durch Feinde heimgesucht, und fast in allen Fällen solcher Trübsal, denen wir in den Psalmen begegnen, können wir beobachten, wie diese äußeren Nöte in ihm den Verdacht weckten, sie seien durch Gottes Zorn ob besonderer Verschuldung veranlasst, so dass er selten krank oder verfolgt war, ohne dass sein Gewissen beunruhigt wurde und seine Sünde ihm ins Gedächtnis kam. So hier. Alle seine anderen Kümmernisse fließen in diesem einen Kummer zusammen, wie die kleinen Bächlein sich in einem großen Strom verlieren und Namen und Art ändern. Richard Gilpin 1677.
  Eben aus diesem Psalm habe ich genommen die Sprüche, so ich im Anfang des Evangeliums Anno 1517, ließ ausgehen wider Tetzel (vergl. These 14. 15. 40). Martin Luther 1519.
  Der 6. Psalm ist in Belgien auch unter den Namen "le psaume des brûlés, der Psalm der Verbrannten" bekannt. Zu Anfang des (19.) Jahrhunderts fand nämlich in einem Kohlenschacht zu Pâturages eine Explosion schlagender Wetter statt. Drei von den Bergleuten wurden schrecklich verbrannt. Der Kaplan des Orts eilte herbei, um den Verunglückten den letzten Trost zu spenden. Jene drei waren jedoch Protestanten und sagten dem Kaplan, sie hätten etwas unendlich Besseres, als er ihnen mit seiner Absolution geben könne, nämlich die Vergebung Jesu Christi. Bald darauf knieten sie nieder und stimmten mit schon ersterbender, aber dennoch den Frieden und die Freude der lebendigen Christenhoffnung ausdrückender Stimme folgende vier Strophen des 6. Psalms an, die (in freier Übertragung) also lauten:

 

1. Herr, sieh herein
Auf meine Pein
Und höre auf zu schelten!
In deinem Grimm
Mein Schrei’n vernimm,
Lass meine Schuld nicht gelten!  

2. Mein Herz verzagt,
Die Seele klagt
Geängstigt und so bange:
Gott, du mein Heil,
Mein einzig Teil,
Ach du, Herr, wie so lange!
3. Tritt für mich ein!
Die Last sei dein,
Da ich vor Trauern weine;
Ach, meine Kraft
Ist ganz erschlafft,
Erschrocken die Gebeine.

4. Mein Gnadenlicht,
Dein Angesicht
Kann alle Angst mir stillen;
Trotz meiner Schuld
Und Ungeduld
Um deiner Güte willen!


  Kaum hatte ihre immer schwächer werdende Stimme aufgehört, vernehmlich zu sein, da nahm Gott sie in die Freude seines Himmels auf, wo sie den Lobgesang vollenden konnten, den sie auf Erden unter den Qualen eines so schmerzhaften Todes angefangen. Der Kaplan zog sich tief bewegt zurück, indem er bezeugte: "Von diesen Leuten kann man mit Gewissheit behaupten, dass sie als Christen gestorben sind. " - Nach Rudolf Kögel, Deine Rechte sind mein Lied, 1895.

 


V. 2. Ach. Ist der allerkürzeste Ausdruck alles dessen, was der Mensch in diesem Leben zu klagen hat, darein er mit Ach geboren, davon er mit Ach genommen wird. Johann David Frisch 1719.
  Obgleich es der Menschen Bosheit ist, welche über David die Geißel schwingt (vergl. V. 9-11), erhebt sich doch sofort sein Blick zu der Hand im Himmel, ohne deren Zulassung keine Hand auf Erden sich regen darf. Da sucht er den letzten Grund, warum ihn solcher Jammer treffe, und weigert sich nicht, in aller seiner Trübsal ein durch seine Sünden verdientes Gericht Gottes zu erkennen. Prof. August Tholuck 1843.
  Das sind sehr treffliche Worte, die er mit Gott redet. Es muss gestraft sein, spricht er; aber, lieber Herr Gott, dass es nur des Vaters Staupen sei, und nicht des Richters und Stockmeisters.
  So lehret uns nun dieser Psalm, wenn irgend einer mit dieser Anfechtung gequält wird, dass er nirgendhin Zuflucht haben soll, denn zu dem zornigen Herrn selbst; aber das ist fast schwer und mühsam, und ist allenthalben Glauben auf Hoffnung, da nichts zu hoffen, Röm. 4,18. Martin Luther 1530 u. 1519.
  Gott hat zwei Mittel, durch die er seine Kinder zum Gehorsam zurückführt: sein Wort, mit dem er sie von der Sünde überführt, und seine Rute, mit der er sie züchtigt. Die Ermahnung durch das Wort geht vorher, wobei sich Gott besonders seiner Knechte bedient, wovon David selbst auch Psalm 141,5 redet: Der Gerechte strafe mich. Wie ein Vater sein ungehorsames Kind erst zurechtweist, ehe er zur Rute greift, so auch Gott. Aber wenn die Menschen die Warnungen seines Wortes gering achten, dann nimmt Gott wie ein guter Vater die Rute und schlägt sie. Unser Heiland weckte die drei Jünger im Garten dreimal; aber als er sah, dass dies nichts fruchtete, sagte er ihnen, dass Judas und seine Schar kämen, um sie aus dem Schlaf aufzurütteln, aus dem sie sich durch seine Stimme nicht hatten wach machen lassen. Archibald Symson 1638.

  Lass Frieden, Herr, mein Herz erfüllen,
  So oft mich züchtigt deine Hand.
  Zerbrich nicht mich, nur meinen Willen,
  Dass ich dich preis’ im sel’gen Land.

  Nur wen’ge Schritte mich noch trennen
  Von dort, wo du erhöhest mich.
  Lass bis ans Ende mich bekennen
  In Not und Leid: Ich trau’ auf dich!

   Nach Richard Baxter † 1691.


V. 3. Herr, sei mir gnädig. Im Himmel und auf Erden sieht David keinen Ausweg, dem Zorne Gottes zu entrinnen, und darum flieht er zu Gott selbst, zu ihm, der ihn verwundet hat, dass er ihn auch heile. Er flieht nicht wie Adam ins Gebüsch, noch wie Saul zu einer Zauberin, noch wie Jona nach Tharsis, sondern er beruft sich von dem gerechten und zürnenden Gott auf den gnädigen Gott. Vom Urteil der Menschen magst du dich auf Gottes Gericht berufen; aber wenn du vor Gottes Richterstuhl angeklagt bist, wohin und zu wem willst du dich wenden, als zu ihm selbst und seinem Gnadenstuhl? Das ist der höchste und letzte Berufungsort.
  Denn ich bin schwach. Siehe, welch beredte Sprache er gebraucht, um Gott zum Helfen zu bewegen. Er nimmt seine Schwachheit als Argument - ein schwaches Argument, um hartherzige Menschen zur Hilfe zu bewegen, aber wenn du zu Gott kommst, ist das stärkste Argument deine Bedürftigkeit, deine Armut, deine Tränen, dein Elend, deine Unwürdigkeit. Archibald Symson 1638.
  Heile mich, Herr. Der Patient sucht hier den Arzt, dessen Werk es ist, allen Ernst anzuwenden, den Kranken zu kurieren, dazu sich Gott schon längst erboten, 2. Mose 15,26. Ihm ist es um ein Wort zu tun. Johann David Frisch 1719.


V. 3.4. Meine Gebeine, meine Seele. Genossen der Sünde sind Genossen der Pein, die die Sünde bringt. Die Seele hat das Böse ausgedacht, die Glieder haben es ausgeführt; so müssen denn beide miteinander leiden. John Donne † 1631.


V. 4. Ach du, Herr, wie lange? Das wird jeder in der Schule der Leiden Erzogene bekennen, dass weniger die Größe des Elends, als seine anhaltende Dauer es ist, welche die Geistes- und Leibeskraft untergräbt. Prof. August Tholuck 1843.
  Dreierlei mögen wir hier merken: Erstens, Gott hat eine bestimmt bemessene Zeit für all die Leiden seiner Kinder. Vor dieser Zeit werden sie nicht aus der Not geführt, und auf Gottes Stunde müssen sie geduldig warten und dürfen nicht daran denken, Gott die Zeit vorzuschreiben. Israel blieb in Ägypten, bis die Vollzahl der vierhundertdreißig Jahre erfüllt war. Joseph war drei Jahre und mehr im Gefängnis, bis die rechte Stunde für seine Befreiung schlug. Die Juden mussten siebzig Jahre in Babel ausharren. Wie der Arzt dem Kranken vorschreibt, wie lange er fasten und wann er wieder stärkende Nahrung nehmen solle, so weiß Gott die rechten Zeiten für unsere Demütigung und unsere Erhöhung. Sodann siehe, wie ungeduldig unsere Natur im Leiden ist. Noch sträubt sich das Fleisch wider den Geist und vergisst sich oft soweit, dass es mit Gott rechten und hadern will, wie wir es von Hiob, Jona und hier von David lesen. Drittens: ob Gott zögert, den Seinen zur Hilfe zu erscheinen, hat er doch stets dazu gute Ursache. Denn als wir von der Sünde entflammt waren, hat er uns oft durch den Mund seiner Propheten und andern Knechte zugerufen: Wie lange wollt ihr Unverständigen unverständig sein? (Spr. 1,22) Aber wir wollten nicht hören; darum ist es kein Wunder, wenn Gott jetzt nicht hören will, da nun die Folgen der Sünde schmerzlich brennen, und es uns nun lange dünkt, ja jeder Tag zu einem Jahr wird, bis Gott uns aus der Not herausführt. Lasst uns bedenken, wie gerecht Gott darin mit uns handelt. (Vergl. Spr. 1,24 ff.) Archibald Symson 1638.
  Wie die Heiligen im Himmel mit großer Stimme schreien: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht? (Off. 6, 10), so rufen auch die Heiligen auf Erden: Ach du, Herr, wie lange nimmst du nicht das Gericht von uns? Denn unsere Bitten um Befreiung sind nicht befehlerisch gemeint, sie schreiben Gott weder Zeit noch Weg vor, sondern ordnen sich gerade wie unsere Bitten um Gewährung von Gaben dem Willen Gottes unter. Sie sind alle mit dem Kräutlein gewürzt, das Christus Selbst unter sein Gebet gemengt hat: "Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!" (Lk. 22,42) Und dasselbe Würzkraut hat der Herr ja auch unserm Gebet beigefügt: "Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel." Im Himmel gibt es keinen Widerstand gegen Gottes Willen; dennoch ist auch im Himmel ein Drang nach Beschleunigung des göttlichen Gerichtes und ein Sehnen nach der Herrlichkeit der Auferstehung. So mögen auch wir, bei willigem Erleiden seiner Züchtigungen auf Erden, es demütig Gott vortragen, welch tiefe Empfindung wir von seinem Missfallen haben; denn gerade damit wir dieses Gefühl, dies seine Gespür für seine Züchtigungen bekommen, sendet er uns diese hauptsächlich. Beugen wir uns so unter seine Hand, sprechen wir mit dem Propheten: "Ich will des Herrn Zorn tragen, denn ich habe wider ihn gesündigt" (Micha 7,9), dann mag es ihm wohlgefallen, zu dem züchtigenden Engel zu sagen: "Es ist genug, lass nun deine Hand ab", wie er zu dem Engel sprach, der Israel verderbte (2. Samuel 24,16). John Donne † 1631.


V. 5. Erst bittet David nur um Abwendung des göttlichen Zornes. Aber wie Archimedes sagte, er wollte die Welt aus den Angeln heben, wenn man ihm einen festen Punkt gäbe, den Hebel anzusetzen, so sucht das Gebet, wenn eine Bitte einmal festen Fuß gefasst hat, immer Größeres zu bewirken, ja alles von Gott zu erlangen. So bittet David jetzt nicht mehr nur um Verschonung vor dem göttlichen Zorn, sondern um mehr, um Errettung und Hilfe. Um deiner Güte willen. Gott erlaubt dem Menschen einen Blick in die Arkana imperii, in die Geheimnisse seiner Regierung. Gott verfährt nach Präzedenzien, nach vorhergegangenen Fällen. Er tut, wie er vordem getan. Er gibt dem mehr, der bereits etwas von ihm empfangen hat. Er will es auch haben, dass wir uns in unseren Bitten auf sein voriges Tun stützen. Und seine letzten Guttaten sind immer noch größer als seine früheren. John Donne † 1631.


V. 6. Der im Worte Scheol (Luther: Hölle) liegende Grundbegriff ist der eines dumpfen, klaffenden, hohlen, dunklen Schlundes und Abgrunds. Die Seele des Menschen begehrt Licht und Leben, und es zieht sie aufwärts; aber sie fühlt im tiefsten Innern die Strafe des Todes und erblickt in dem sich öffnenden Grabe einen finstern Abgrund, wo statt der Fülle des Lebens Öde, Dunkelheit und Grauen wohnt, einen Schlund, der alles in sich hinabzieht, ohne selbst erfüllt zu werden, der eben so leer wie unersättlich ist. Bei den Griechen und Römern hat sich dasselbe Gefühl in den Dichtungen vom Hades, den Ausdrücken der Fauces Orci, des Schwundes der Unterwelt, und der wesenlosen Schatten des Hades ausgesprochen. Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.
  David hat in seinem Flehen zu Gott nicht eigentlich für seine Person Leben und Glück begehrt, sondern es handelt sich bei ihm um den Namen, die Ehre und Herrlichkeit Gottes. Hier auf Erden will David den Namen seines Gottes verherrlicht, die Wahrheit, dass Jahwe des Gerechten Helfer ist, von Herzen geglaubt, erfahren und gepredigt haben. (Vergl. 2. Kor. 1,10 f.; 4,10.) Oder haben nicht alle Boten Gottes ein Zeugnis von Gott und seiner Gnade abgelegt nach den Erfahrungen, die sie in diesem Leben von ihm gemacht hatten? Mit dem Tode hat beides, das Predigen und das Hören, ein Ende. Prof. Johannes Wichelhaus † 1858.


V. 7. Hier fängt David an zu erzählen, wie er in seiner Todesfurcht fast vergangen. Hier heißt’s: Davidica non intelligit, qui Davidica non sentit (Wer nichts davon durchgemacht hat, versteht es nicht). Friedrich Christoph Oetinger 1775.
  Ich bin so müde von Seufzen. Im Seufzen ist ein Suchen, Ringen, Jagen, lauter Dinge, die das Herze matt, müde und schmachtend machen. - Ich schwemme mein Bette: durch den vor Angst ausbrechenden häufigen Schweiß. Johann David Frisch 1719.
  Welch merkwürdige Wandlung ist mit David vorgegangen, dass der Mann, der sonst eine solche Seelengröße zeigt, so entmutigt und niedergeschlagen ist! Hat er nicht durch seine Tapferkeit und Seelengröße den Löwen und den Bären und selbst den Diesen Goliath überwunden? Jetzt aber seufzt er und schluchzt und jammert wie ein Kind! Die Antwort ist leicht zu finden. Es kommt darauf an, mit wem er es zu tun hat. Wenn Menschen oder wilde Tiere seine Gegner sind, dann hat er einen Heldenmut; aber wenn er es mit Gott zu tun hat, gegen den er gesündigt, empfindet er tief, wie er weniger denn nichts ist.
  Schauer sind besser als Tropfen; doch wollen wir Gott schon danken, wenn durch die Wirkungen seiner Gnade unser Herz mit Bußzähren betaut ist. Können wir nicht mit Wasserströmen von Tränen unser Bette schwemmen wie David; entfließen unserm Auge keine Tränenbäche wie der armen Sünderin (Lk. 7,38); können wir nicht dem Jeremia nachsprechen: Ach, dass meine Augen Tränenquellen wären, dass ich Tag und Nacht weinen könnte (Jer. 8,23), noch mit Petrus bitterlich weinen (Mt. 26,75); dennoch, wenn wir es beklagen, dass wir unsere Sünde nicht genug beklagen, und darüber Leid tragen, dass wir nicht genug Leid tragen, ja wenn nur die leisesten Seufzer wahrer Buße und die schwächsten Zähren ungeheuchelter Zerknirschung uns entquellen, werden diese uns vor Gott angenehm machen. Gott sieht auch bei unserer Buße und deren Äußerungen nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität, auf ihre Aufrichtigkeit.
  Mein Bette. (Nach der Ansicht des Verfassers bezieht sich der Psalm auf die Leidenszeit Davids nach seinem Ehebruch, was zwar mit nichts in dem Psalm angedeutet, aber möglich ist.) Die Stätte seiner Sünde ist die Stätte seiner Buße. Und so sollte es sein. Ja, der Anblick solcher Orte, wo wir gesündigt haben, sollte uns einen Stich ins Herz geben und uns veranlassen, eben dort aufs neue zu Gottes Erbarmen Zuflucht zu nehmen. Wie Adam im Garten sündigte, so vergoss der zweite Adam blutigen Schweiß auch im Garten. "Redet mit eurem Herzen auf eurem Lager" (Ps. 4,5). Wenn ihr auf eurem Bette bösen Gedanken und Taten nachgehangen habt, so tut eben dort Buße und macht euer Bett zu einem Heiligtum. Weihet mit euren Tränen jede Stätte, die ihr durch Sünde entweiht habt. Archibald Symson 1638.
  Wenn Weltleute ihre Ausschweifungen immer mit Davids Exempel zudecken und verkleinern wollen, so sollten sie auch an das Bußfeuer und den brennenden Ofen gedenken, darin er wieder gereinigt worden ist. Bei der Bathseba wollten sie gern im Bett liegen, aber nicht mit David die ganze Nacht das Bett mit Tränen netzen. Solche wird der König David einst aus ihrem eigenen Mund verurteilen, wie jene Boten 2. Samuel 1,13-15; 4,9-12. K. H. Rieger † 1791.


V. 8. Seelennot ist gewöhnlich von körperlichen Leiden begleitet, so dass sich der ganze Mensch nach Leib und Seele in Schmerzen windet. Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe vor deinem Drohen, sagt David (Ps. 38,4). Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, deren Gift muss mein Geist trinken, sagt Hiob (Kap. 6,4). Herzenskummer zehrt an allen Kräften des Gemütes und des Körpers; darum klagt Heman (Ps. 88,4): Meine Seele ist voll Jammers, und mein Leben ist nahe bei der Hölle, d. h. dem Tode nahe. In dieser inneren Not welkt unsere Kraft dahin, sie schmilzt wie Wachs am Feuer; denn das Grämen umdüstert den Geist, verdunkelt die Urteilskraft, macht das Gedächtnis blind gegen alles Angenehme und umwölkt den heiteren Sinn, so dass die Lampe der Lebensgeister nur trübe brennt. In solch betrübter Lage kann es nicht anders sein, als dass auch das Antlitz blass und bleich wird und verfällt, wie bei großem Schrecken und Bestürzung. Ein fröhliches Herz macht das Leben lustig; aber ein betrübter Mut vertrocknet das Gebein (Spr. 17,22). Daher die häufigen Klagen in der Schrift: Mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird (Ps. 32,4). Ich bin wie ein Schlauch im Rauche. Meine Seele liegt im Staube (Ps. 119,83.25). Mein Antlitz ist geschwollen vom Weinen, und meine Augenlider sind verdunkelt (Hiob 16,16). Des Nachts wird mein Gebein durchbohret allenthalben, und die mich nagen, legen sich nicht schlafen (Hiob 30,17). Oft aber nimmt die Seelennot auch ihren Ausgang von Schwäche und Krankheit des Leibes. Langwieriges Leiden ohne Hoffnung auf Genesung greift mit der Zeit die Seele selbst an. Fast immer können wir beobachten, wie die äußere Not David zu der Besorgnis treibt, Gott zürne mit ihm wegen seiner Sünde. Timothy Rogers † 1729.
  Mein Auge (Grundtext) ist verfallen. Viele gebrauchen die Augen, welche Gott ihnen gegeben, als wären es zwei Lichter, die ihnen auf dem Weg zur Hölle leuchten sollten. Darum vergilt ihnen Gott gerechterweise, da er sieht, dass ihre Sinne verblendet sind durch der Augen Lust, des Fleisches Lust und hoffärtiges Leben, und sendet ihnen Krankheit, welche die Augen schwächt, die in des Teufels Dienst so scharfsichtig waren, und sie müssen ihre Lust büßen, indem ihnen nun das notwendige Licht der Augen mangelt. Archibald Symson † 1638.
  Das Auge, das nach seines Nächsten Weib geschaut und sich nach ihr hatte gelüsten lassen, ist nun trübe und dunkel vor Kummer und Leid. Er hatte sich fast blind geweint. John Trapp † 1669.
  Denn ich allenthalben geängstet werde (wörtl.: ob aller meiner Dränger). Wenn die Seeräuber ein leeres Schiff sehen, segeln sie vorüber; ist das Schiff aber mit kostbaren Waren beladen, dann greifen sie es an. So lässt auch der Satan solche Menschen unbeachtet, die ohne Gnade dahinleben; sie sind kein guter Fang für ihn, er hat sie ohnehin. Aber solche, die mit Gnaden beladen sind, mit Liebe und Furcht Gottes und andern ähnlichen Tugenden, mögen überzeugt sein, dass Satan, sobald er weiß, was in ihnen ist, es nicht fehlen lassen wird, sie dessen zu berauben, wenn er es irgend vermag. Archibald Symson † 1638.


V. 9. Es muss unter währendem Klagegebet dem David Gottes Licht und Trost schnell ins Herz gefallen sein; darum bietet er hier allen denen Trotz, die ihm und seinem Gott bisher so viel Übels getan. Er will mit ihnen weiter nichts zu schaffen haben, wie Paulus Gal. 6,17. Johann David Frisch 1719.
  Weichet von mir! Ihr möget nun eurer Wege gehen; denn das, wonach ihr ausschaut, mein Tod, wird euch jetzt nicht gewährt werden, denn der Herr hat mir in Gnaden das geschenkt, worum ich ihn mit Tränen gebeten. Thomas Wilcocks 1586.
  Übeltäter werden die Gottlosen genannt, weil sie voll Eifers und stets bereit sind, zu sündigen. Sie haben einen unwiderstehlichen Hang, Böses zu tun, und tun es nicht halb, sondern ganz. Sie beißen nicht nur ein wenig am Köder an (wie das auch bei guten Menschen vorkommt), sondern schlucken ihn gierig hinunter, Haken und alles. Sie sind ganz bei der Sache und rasten nicht, bis sie alles ausgeführt haben. Sie machen aus der Sünde ein Handwerk und verdienen darum den Namen Übeltäter oder Wirker des Bösen. Joseph Caryl 1647.
  Die Stimme meines Weinens (Grundtext). Das Weinen hat eine Stimme; und wie Musik auf dem Wasser weiter schallt und harmonischer klingt als auf dem Lande, so klingen tränenvolle Gebete lauter und lieblicher in Gottes Ohren als solche ohne Tränen. Als Antipater an Alexander einen langen Brief gegen dessen Mutter geschrieben hatte, antwortete ihm der König: "Eine Träne meiner Mutter wäscht alle ihre Fehler weg." So ist es bei Gott. Bußzähren sind Gesandte, die er nicht anders als gnädig aufnehmen kann. Nie kommen sie unbefriedigt vom Thron der Gnade zurück. John Spencer † 1654.
  Etliche mögen sagen: Ich kann nicht weinen; ich könnte gerade so gut aus einem Felsen Wasser pressen, als aus meinem Auge Tränen. Aber wenn du auch nicht weinen kannst über deine Sünde, bist du betrübt über sie? Betrübnis des Geistes ist besser als Erschütterung der Nerven. Wahres Leidtragen mag da sein, wo die Tränen fehlen; das Schiff mag voll beladen sein, wiewohl der Wind nicht die Segel schwellt. Gott sieht nicht sowohl auf das Weinen, als auf das zerbrochene Herz. Doch sei es ferne von mir, den Tränen derer, die weinen können, Einhalt zu gebieten. Gott sah auf Hiskias Tränen (Jes. 38,6): Ich habe deine Tränen gesehen. Davids Tränen waren Musik in Gottes Ohr, denn der Psalmist sagt: Der Herr hat die Stimme meines Weinens gehöret. Es ist ein Anblick, wohl wert, dass Engel sich darüber freuen (Lk. 15,10), wenn Tränen in eines bußfertigen Sünders Auge perlen. Thomas Watson 1660.
  Gott hört die Sprache unserer Blicke und unserer Tränen manchmal besser als die Sprache unserer Worte; denn der Geist selbst vertritt uns aufs Beste mit unaussprechlichem Seufzen (Röm. 8,26). Tränen ohne Worte, die die Einfalt weint, führen eine beredte Sprache vor Gott; ja sogar ungeweinte Tränen. Wie Gott die Wasserquellen in den verborgenen Adern der Erde sieht, ehe sie an der Oberfläche hervorsprudeln, so sieht Gott auch die Tränen in unserem Herzen, ehe sie uns die Backen herabrinnen. Gott hört die Tränen der bekümmerten Seele, die vor Kummer keine Träne vergießen kann. Erst mag nur das Auge sich eben himmelwärts aufschlagen und der Herzenskummer aus den Augen quellen oder wenigstens ein Fenster öffnen, durch das Gott das weinende Herz sieht, ob auch das Auge trocken ist; aber von diesen ersten Anklängen der Buße, den stammelnden Lauten der Kinder vergleichbar, die der Eltern Herz mit Wonne füllen, kommt es bei dem bußfertigen Sünder zu klareren, in deutliche Worte gefassten Gebeten. So war es auch bei David. Beiden Arten des Gebets aber hatte Gott sein Ohr geliehen. John Donne † 1631.
  Welch merkwürdiger Wechsel ohne jede Vermittlung! Mit Recht mochte Luther sagen: Das Gebet ist für die Seele wie ein Blutegel, der das Gift aussaugt. Das Gebet, sagt ein anderer, beschwört die Geister der Sünde und des Kummers. Bernhard v. Clairvaux sagt: Wie oft habe ich mich fast in völliger Verzweiflung zum Gebet niedergeworfen und habe mich triumphierend erheben können, der Vergebung völlig versichert! Dasselbe finden wir hier bei David, wenn er sagt: Weichet von mir, alle Übeltäter, denn der Herr hat die Stimme meines Weinens gehört. Welche Sprache gegen seine Dränger: Packt euch! hinaus mit euch! Geht mir aus den Augen! Das sind Worte, für Teufel und Hunde üblich, aber völlig passend für einen Doeg oder Simei. Und der Davidssohn wird dasselbe zu seinen Feinden sagen, wenn er zum Gericht kommt. John Trapp † 1669.


V. 11. Das ist weniger eine Verwünschung als eine heftige prophetische Rede. Wollen sie nicht zu Herzen nehmen, dass Gott sich selbst als Beschützer seiner Knechte erklärt; wollen sie nicht bedenken, dass Gott seine Kinder erhört und ferner erhören wird, sie rettet und ferner retten wird; wollen sie in ihrem Widerstand gegen ihn fortfahren, so werden gewisslich schwere Gerichte über sie hereinbrechen. Ihre Bestrafung ist sicher, aber die Wirkung auf ihre Herzen unsicher; Gott allem weiß, ob seine Züchtigungen ihnen zur Erweichung oder Verhärtung dienen werden. - In dem Wort: Sie müssen sehr erschrecken, wünscht David seinen Feinden, was er selbst erlebt hatte; er hatte ja dasselbe Wort vorher von sich gebraucht, V. 3.4. Wenn wir erwägen, dass eben dieses Erschrecken für David der Weg zu Gott gewesen war, können wir darin keine boshafte Verwünschung sehen, wenn er seinen Feinden, die an demselben Übel der Sünde noch kränker waren als er selbst, dasselbe Heilmittel wünscht. Davids Seele gleicht jetzt einer nach dem Sturme noch bewegten See. Die Gefahr ist vorüber, aber noch gehen die Wogen hoch. Eine Seele aber, die so vor Gott erschrocken ist, ist auf dem besten Wege zu völliger Stille. John Donne † 1631.
  Sich zurückkehren und zuschanden werden. Beachte den ins Deutsche nicht übertragbaren melodischen Gleichklang jaschubu jeboschu. Lic. Hans Keßler 1899.
  Und zuschanden werden plötzlich. Das ist die andere und ärgste Beschämung, welche diejenigen vor Gottes Gericht im Angesicht aller Engel und Menschen zu erwarten haben, welche nicht auf die erste Beschämung hier in der Zeit gehen wollen, und das kann ihnen widerfahren, ehe sie sich’s vermuten. Johann David Frisch 1719.


V. 9-11. Viele der Klagepsalmen enden in ähnlicher Weise. Das ist ein Hinweis für den Gläubigen, dass er beständig vorwärts blicken und sich des Tages trösten soll, da sein Kampf vollendet ist. Dann wird weder Sünde noch Leid mehr sein und plötzliche ewige Bestürzung alle Feinde der Gerechtigkeit bedecken. Dann wird der Bußfertige seinen Sack mit dem Kleid der Herrlichkeit vertauschen; jede seiner Tränen wird als Perle in seiner Krone glänzen; sein Seufzen und Stöhnen wird ausklingen in himmlischen Lobgesang, den die Engel mit ihren Harfen begleiten, und der Glaube wird sich ins Schauen des Allmächtigen verwandeln. Bischof George Horne † 1792.


Homiletische Winke

V. 2. Eine Predigt für angefochtene Seelen. I. Gottes zwiefaches Strafen. 1) Innerliche Bestrafung durch eine ergreifende Predigt, durch ein Gericht über andere, durch eine leichtere Heimsuchung, die uns selbst widerfährt, oder durch eine ernste Mahnung des Heiligen Geistes in unserm Gewissen. 2) Äußerliche Züchtigung. Diese erfolgt, wenn die innerliche Bestrafung unbeachtet bleibt; und zwar durch Schmerzen, Verlust irdischen Gutes oder eines unserer Lieben, Schwermut und andere Heimsuchungen. II. Was ist am meisten bei Gottes Strafen zu befürchten? Gottes Zorn und Ungnade. III. Wie können wir solches Übel abwenden? Durch Beugung, Bekenntnis der Sünde, ernste Besserung, Glauben an den Herrn usw.
  Des Gläubigen größter Schrecken: der Zorn Gottes. Was offenbart diese Tatsache in unserm Herzen? Warum ist es so? Was ist im Stande, diese Furcht auszutreiben?
V. 3. Das argumentum ad misericordiam, die Berufung auf Gottes Erbarmen.
  Die göttliche Heilung. 1) Was ihr vorhergeht: Meine Gebeine sind sehr erschrocken. 2) Wie sie sich vollzieht. 3) Was auf sie folgt.
V. 4. Die Ungeduld der bekümmerten Seele. 1) Wie viele Sünden sie erzeugt. 2) Wie viel Unheil sie bringt. 3) Wie sie geheilt wird.
  Eine fruchtbare Betrachtung könnte die Erwägung der Frage sein: Wie lange wird Gott den Gerechten in Trübsal lassen?
V. 5. Wende dich, Herr. Diese Bitte ist eingegeben durch die Empfindung, dass Gott sich von seinem Knecht abgewandt habe; sie wird ermutigt durch das Wirken der Gnade im Herzen; sie ist verbunden mit Durchforschen des eigenen Herzens und ernster Buße; der Drang der Not unterstützt sie; der Antwort harrt sie nicht vergeblich; und endlich ist in dieser kurzen Bitte alles eingeschlossen, was wir an Gnade bedürfen.
  Das Gebet eines Gläubigen, der sich von Gott verlassen fühlt. 1) In welcher Lage befindet sich der Beter unseres Psalms? Seine Seele ist gebunden und in großer Not. 2) Woraus hofft er? Dass der Herr sich wieder zu ihm wende. 3) Worauf beruft er sich? Allein auf Gottes Gnade.
V. 6. Man betrachte von verschiedenen praktischen Gesichtspunkten aus, dass all unser irdischer Gottesdienst einmal aufhört.
  Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,
  Will ich lobsingen meinem Gott.
V. 7. Die Tränen der Gläubigen. Welcher Art sie sind; wie reichlich sie fließen; was sie bewirken; wie sie gestillt werden und endlich auf immer vom Angesicht abgewischt sein werden.
V. 9. Die Stimme des Weinens (Grundtext).
  Wie der begnadigte Sünder sich von den Gottlosen scheidet.
V. 11. Die Schande, die der Gottlosen wartet.

Fußnoten

1. Zum Unterschied von Herr = Adonai, Allherr, in den besseren Bibelausgaben mit zwei großen Buchstaben (HERR) gedruckt.

2. Hölle hier gleich Scheol, griech. Hades, das unterirdische Land der Toten, ähnlich wie das Wort Hölle im Altdeutschen. Die Psalmendichter (nicht so die späteren Juden) wissen nur von einem einigen Sammelort der Toten in der Tiefe der Erde, wo sie zwar leben, aber doch nur schattenhaft, weil abgeschieden vom Licht des Diesseits und, was das Kläglichste, vom Lichte der Gegenwart Gottes. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben ist nur im Keim vorhanden, weil noch nicht deutlich geoffenbart. "Deshalb kann der Christ V. 6 dieses Psalms und ähnliche Stellen (Ps. 30,10; 88,11-13; 115,17; Jes. 38,18 f.) nur insofern mitbeten, als sich ihm der Begriff des Hades in den der Gehenna (des Ortes der Qual, Mt. 5,22 u. a. St.) umsetzt. In der Hölle ist ja wirklich kein Lobgedächtnis, kein Lobpreis Gottes. Die Furcht Davids vor dem Tode als etwas an sich Unseligem ist auch ihrem letzten Grunde nach nichts anderes als die Furcht vor einem unseligen Tode." (Delitzsch)

3. Meist übersetzt man übrigens diesen und ähnliche, in den Psalmen oft wiederkehrende Ausdrücke, einfach: mein lautes Weinen.