Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 42 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Der Psalm wird eine Unterweisung genannt (vergl. dazu die 1. Anm. zu Ps. 32), und wegen der Fülle tiefer Erfahrung, die er zum Ausdruck bringt, ist er in der Tat in hervorragender Weise zur Unterweisung solcher geeignet, die ebenso wie der Dichter dieses Psalms auf steilem, dornenvollem Pfade zum Himmel wandern müssen. Es dient uns stets zur Erbauung, auf die Erfahrungen eines wahrhaft begnadigten und durch viel Trübsal geführten Gottesknechtes zu lauschen.
  Die Kinder Korah waren erhalten worden, als ihr Vater und seine ganze Rotte und alle Kinder seiner Verbündeten lebendig von der Erde verschlungen wurden (4. Mose 16; 26,11). Gottes frei waltende Gnade hatte sie verschont; - warum, wissen wir nicht. Aber der Annahme geben wir gerne Raum, dass sie nach dieser einzigartigen Errettung so von Dankbarkeit erfüllt wurden, dass sie sich dazu weihten, fortan durch heilige Musik den Gott der Gnade zu preisen, damit ihr wunderbar erhaltenes Leben in besonderer Weise zur Verherrlichung Gottes diene. Jedenfalls können wir, die wir gleichwie sie rein durch den freien Liebeswillen Jehovas vom Hinabfahren in die Hölle errettet worden sind, von ganzem Herzen in diesen Psalm einstimmen, wie in jeden Gesang, der unseren Gott erhöht und das Sehnen unseres Herzens nach inniger Gemeinschaft mit ihm zum Ausdruck bringt. - Will die Überschrift ein Glied der Familie Korah als Verfasser des Psalms bezeichnen, oder weist sie das Lied den Korahiten zur Aufführung im Gottesdienste zu? Wir halten es mit der letzteren Ansicht. Der Psalm trägt so stark davidisches Gepräge, dass wir eher den zweiten Teil der Pilgerreise Bunyan absprechen als die Urheberschaft Davids bei dem vorliegenden Psalm bezweifeln würden.1

Inhalt
Der Psalm ist der Herzenserguss eines Mannes, der aus weiter Ferne nach dem teuren Hause seines Gottes und den schönen Gottesdiensten des HERRN seufzt; zugleich hören wir in ihm die Stimme eines vom Geist Gottes erleuchteten Gläubigen, der sich bei tiefer Niedergeschlagenheit nach neuer Empfindung der Nähe Gottes sehnt, mit Zweifeln und Befürchtungen ringt, dennoch aber in der Kraft des Glaubens an den lebendigen Gott das Feld behauptet. Nicht wenige von Gottes Kindern haben jene tiefen Wasser durchschifft, die in diesem Lied so anschaulich geschildert werden. Es ist uns wahrscheinlich, dass Davids Flucht vor Absalom der Anlass zur Abfassung des Psalms gewesen ist.

Einteilung. Der Psalm zerfällt nach seiner Bauart naturgemäß in zwei Teile, V. 2-6 und V. 7-12, die mit dem gleichen oder doch ganz ähnlichem Kehrvers endigen.


Auslegung

2. Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
3. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?
4. Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht,
weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
5. Wenn ich denn des inne werde, so schütte ich mein Herz
heraus bei mir selbst;
denn ich wollte gerne hingehen mit dem Haufen und mit
ihnen wallen zum Hause Gottes,
mit Frohlocken und Danken unter dem Haufen, die da feiern.
6. Was betrübst du dich, meine Seele
und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,
dass er mir hilft mit seinem Angesicht.


2. Wie eine Hindin, die (laut) nach Wasserbächen lechzt, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. (Wörtl.) Wie bei langer Dürre die verschmachtende Hindin nach der labenden Quelle lechzt, so sehnlich verlangt meine zum Tode ermattete, verdurstende Seele nach dir, mein Gott. Der Psalmdichter war von den schönen Gottesdiensten des HERRN im Tempel abgeschnitten; das war’s, was ihm solch tiefe Seelenpein verursachte. Er suchte nicht Gemächlichkeit, ebensowenig war er nach Ehre begierig; Gemeinschaft mit Gott zu genießen, das war ihm das erste, dringendste Bedürfnis seines Herzens. Der traute Umgang mit Gott war für ihn nicht nur der köstlichste Genuss, sondern eine unbedingte Notwendigkeit, wie Wasser für den Hirsch. Wie ein im Sonnenbrand verschmachtender Wüstenwanderer, der keinen Tropfen mehr in seinem Wasserschlauch hat und die Quellen versiegt findet, nur eins mehr weiß: Ich muss trinken oder sterben, - so muss der Psalmist seinen Gott haben, oder er kommt um. Seine Seele war von unersättlichem Verlangen nach der Nähe Gottes erfüllt. Gib ihm seinen Gott, so ist er tief befriedigt, wie der Hirsch, der nach langem Schmachten seinen Durst an klarer Quelle löscht und nun alles hat, was er begehrt; aber weigere ihm dies eine Verlangen, so pocht sein Herz, seine Brust keucht, der ganze Körper zittert wie bei einem Menschen, der nach Luft schnappt oder von langem Laufen aufs äußerste erschöpft ist. Lieber Leser, kennst du aus eigener Erfahrung das, wovon der Psalmdichter hier redet? Hast du dies bittere Weh empfunden? Es ist eine süße Bitterkeit. Das Beste ist, im Licht der Liebe Gottes zu leben; das Nächstbeste, unglücklich zu sein, bis uns diese Gnade gegeben ist, und stündlich danach zu verlangen. Stündlich, sage ich? Nein, der Durst setzt nie aus und lässt sich nicht vergessen, und ebenso beständig hält das Verlangen nach Gott an. Ist es uns so natürlich, nach Gott zu verlangen, wie dem Hirsch nach Wasser, dann steht es gut um unsre Seele, so peinvoll dies Gefühl des Schmachtens sein mag Wir können aus dem vorliegenden Vers lernen, die Inbrunst unseres Begehrens vor Gott geltend zu machen, und dies umso mehr, als denen, die Gott von ganzem Herzen suchen, besondere Verheißungen gegeben sind.

3. Meine Seele: mein ganzes Wesen, mein innerstes Ich. Dürstet. Das ist mehr als hungern. Den Hunger mag man verwinden, aber Durst leiden ist schrecklich; er lässt sich mit nichts beschwichtigen und führt unfehlbar zum baldigen Tode. Ach, dass wir alle solch unersättliches Verlangen nach dem höchsten Gut hätten; denn das ist ein unzweifelhaftes Zeichen des Gnadenstandes. Nach Gott. Er begehrt nicht nur nach Tempel und Altar, sondern nach Gemeinschaft mit Gott selbst. Nur geistlich gesinnte Menschen können dem Psalmisten diesen Durst nachfühlen. Nach dem lebendigen Gott. Weil Gott der Lebendige ist und uns lebendiges Wasser darreicht, darum begehren wir nach ihm. Ein toter Gott ist ein Hohn, ein Ungeheuer, das wir verabscheuen; aber der Ewiglebendige, die unversiegbare Quelle von Leben und Licht, er ist unserer Seele Begehr. Was sind Gold, Ehre und irdische Lust anderes als tote Götzen? O dass wir nie nach solchem schmachteten! Wann werde ich dahin kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht? (Grundtext nach der Masora) Wer den HERRN liebt, hat auch Lust zu den Versammlungen, da sein Name angebetet wird. Nichtig ist aller Anspruch auf Frömmigkeit, wenn die äußeren Gnadenmittel für uns keine Anziehungskraft haben. David fühlte sich nirgends so daheim wie im Hause Gottes; er begnügte sich nicht mit stiller Andacht in Haus und Kämmerlein, er verließ nicht, wie etliche pflegen, die Versammlungen der Heiligen. Sieh, wie er so lebhaft die Frage erwägt, ob er wohl Aussicht habe, bald wieder mit der feiernden Menge im Hause Gottes vereinigt zu ein, und wie er diesem seinem Verlangen immer aufs neue Ausdruck gibt! Nach seinem Gott, seinem Bundesgott, dem Preiswürdigen, schmachtet er, wie die welken Blümlein nach dem Tau, wie die einsame Turteltaube nach ihrem Gefährten. Es wäre gut, wenn wir alle unsere gottesdienstlichen Zusammenkünfte als ein Erscheinen vor Gottes Angesicht ansähen; denn dann wäre es ein sicheres Zeichen, dass wir in der Gnade stehen, wenn wir an ihnen unsere Lust haben. Aber wie viele kommen nur, um vor dem Prediger oder vor ihren Mitmenschen zu erscheinen, und halten das für ganz genügend! Luther hat übersetzt2: dass ich Gottes Angesicht schaue -: der Psalmdichter wollte in der Tat beides, seinen Gott sehen und von ihm gesehen werden, und beides ist heißen Begehrens wert.

4. Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht. Das ist salzige Speise, aber sie ist der Seele gesund. Bei wem es zu Tränen, zu unaufhörlich in Strömen fließenden Tränen kommt, dass diese Becher und Teller füllen, dem ist’s wirklich ernst. Wie dem Hirsch in seiner Not große Tränen in den Augen stehen, so glitzerte das salzige Nass in Davids Augen. Alle Esslust war ihm vergangen; er aß nicht nur sein Brot mit Tränen, sondern Tränen waren seine einzige Speise, er begehrte keine Nahrung. Vielleicht war es gut für ihn, dass sein Herz die Sicherheitsventile öffnen konnte; es gibt einen tränenlosen Kummer, der weit schrecklicher ist, als wenn man sich in Tränenströmen badet. Da der Psalmist aus dem Grunde so heftig bewegt war, weil sein Gott gelästert wurde, waren seine Tränen geweihtes Wasser, heilige Tröpflein, die Jehova in seinen Tränenkrug fasst (Ps. 56,9). Weil man täglich (Grundtext: den ganzen Tag, d. i. immerfort) zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott? Grausame Sticheleien sind die Waffen feiger Gemüter. Sie hätten wahrlich den Tiefbetrübten mit seinem Leid allein lassen dürfen; mehr weinen, als er schon tat, konnte er doch nicht. Es war ein opus supererogationis (ein überschüssiges Werk) der Bosheit, zu versuchen, noch mehr Tränen aus einem Herzen herauszupressen, das schon davon in Strömen floss. Man beachte, wie unaufhörlich sie ihn verhöhnten und wie fein sie es verstanden, ihn an der empfindlichsten Stelle zu treffen. Es verwundete ihn bis ins Mark, so die Treue seines Gottes angegriffen zu sehen. Lieber noch hätten sie ihm Nadeln in die Augen bohren sollen, als Beleidigungen gegen seinen Gott schleudern. So hat Simei den David gehöhnt, als dieser vor Absalom fliehen musste. Er erklärte frischweg, David sei ein Bluthund und Gott züchtige ihn dafür, dass er Saul und sein Haus unterdrückt habe; der Wunsch war der Vater des Gedankens. Die Gottlosen wissen, dass es für uns nichts Schlimmeres geben könnte, als Gottes Huld zu verlieren; da verleitet sie ihre teuflische Bosheit, zu erklären, dass dies wirklich der Fall sei. Gott sei Dank, es ist eine Lüge; denn unser Gott ist im Himmel, und er ist auch im Feuerofen bei seinen Kindern (Dan. 3).

5. Wenn ich denn des inne werde (besser: gedenke), so schütte ich mein Herz heraus bei mir selbst. Da er über sein Herzeleid nachdachte, zerschmolz sein Herz zu Wasser und schüttete sich aus in seinem Innern. Sein Gott war ihm verborgen, und die Feinde wüteten; - solch zwiefache Not war wohl geeignet, auch das tapferste Herz zum Verzagen zu bringen. Aber warum sich so düstern Erwägungen hingeben, da sie doch von keinerlei Nutzen sind? Es ist ganz wertlos, die Seele lediglich auf sich selber zu richten, sie zu entleeren von sich selbst in sich selbst; wieviel besser, das Herz vor dem HERRN auszuschütten! Eher noch könnte ein Gefangener sich in seiner Tretmühle in den Himmel hineinarbeiten, als wir uns dadurch dem Troste näher bringen, dass wir unserm Schmerz nachgrübeln. Nach richtiger Übersetzung war es aber die Rückerinnerung an vergangene Freuden, der sich der Psalmdichter hingab, ob sie ihm auch tiefen Schmerz verursachte. Daran will ich gedenken, sagt er3, und mein Herz bei mir selbst ausschütten, wie ich hinzog mit dem Haufen, sie zum Hause Gottes leitete mit Frohlocken und Danken, eine feiernde Menge. (Grundtext) O wie köstlich war das gewesen, da er so an der Spitze der festlichen Scharen hatte hinwallen dürfen zum Hause Gottes! Die große Zahl der Anbeter Jehovas hatte seine Freude mächtig erhöht, und die Gesellschaft der Frommen war ihm eine Lust gewesen. In feierlicher Prozession, gemessenen Schrittes und wiederum hüpfend und tanzend vor heiliger Freude, mit Musik und Gesang, so war er mit dem auserwählten Volk des HERRN gen Zion gezogen zu dem heiligen Zelt, der Wohnstätte des Friedens und der Heiligkeit. Jetzt, da er vom Heiligtum fern ist und alle gottselige Gemeinschaft entbehren muss, ruft der Gottesmann sich die geweihten Stunden in Erinnerung und weidet sich mit bittersüßer Lust an den Einzelheiten jener gesegneten Wallfahrten. Das festliche Getöse der Menge, die frohlockenden Töne der Posaunen und der Sängerchöre klingen ihm in den Ohren, er sieht den heiligen Reigen vor seinen Augen. Solch ein froher Tag war z. B. der gewesen, da David die Bundeslade in das neuerbaute Zelt auf Zion gebracht und die Stämme Israels sich, als zu einem großen Nationalfest, zuhauf versammelt hatten. Wie ganz anders ist jetzt alles! Statt auf Zion ist er in einer Wildnis; statt der Priester in weißem Linnen umgeben ihn Krieger in eiserner Rüstung; statt der Lobgesänge tönen Lästerungen in sein Ohr; statt Halleluja zu singen muss er wehklagen, statt sich in seinem Gott zu freuen, darüber trauern, dass der HERR ihm so fern ist! In fremden, finstern Landen, umgeben von abergläubischem Gottesdienst, haben wir ganz dasselbe Heimweh nach dem Hause des HERRN empfunden, das hier beschrieben ist, und haben ausgerufen: O Zion, du Gemeinde des lebendigen Gottes, meine Mutter, meine Heimat, wann werde ich dich wiedersehen, wann deine heiligen Psalmen und Gebete wieder hören und den HERRN inmitten seines Volkes schauen! In ganz besonders lieblicher Erinnerung scheinen dem Psalmdichter die Gesänge der Festpilger gewesen zu sein, und ohne Zweifel ist der Gesang der erhebendste Teil der Gottesdienste und der, welcher der Anbetung im Himmel am nächsten kommt. Welche Herabwürdigung ist es, den geistbelebten Gesang der ganzen Gemeinde durch die theatralische Effekthascherei eines ums Geld singenden Quartetts, die überfeinen Kunstproduktionen eines Chors oder das bloße Windmachen unbeseelter Blasebälge und Pfeifen zu verdrängen! Wir könnten ebenso gut mit Maschinen beten wie mit ihnen Gott preisen.

6. Was betrübst du dich (wörtl.: bist du so niedergebeugt), meine Seele? Der Psalmdichter redet sich selber an, als wäre er eine Doppelpersönlichkeit. Sein Glaube sucht seine Furcht zu beschwichtigen, seine Hoffnung, seine Sorgen durch Beweisgründe zu bereden. Diese gegenwärtigen Nöte, werden sie denn für immer dauern? Ist das Frohlocken der Feinde denn mehr als eitles Geschwätz? Oder ist meine Abwesenheit von den heiligen Festen eine lebenslängliche Verbannung? Warum diese tiefe Niedergeschlagenheit, diese feige Verzagtheit, diese glaubenslose Schwermut? Wie der alte John Trapp (1669) sagt: David rüttelt den David scheltend aus seinem düstern Grämen auf, und darin ist er ein Vorbild für alle, die dem Verzagen nahe sind. Die Ursache unseres Kummers zu erforschen, das ist oft das beste Heilmittel wider ihn. Sich selber nicht kennen und verstehen ist kein geringes Elend. Der Nebel der Unwissenheit vergrößert die Ursache unseres Schreckens; bei klarerem Blick schrumpft das Ungeheuerliche in eine unbedeutende Kleinigkeit zusammen. Und bist so unruhig in mir. Warum ist meine Ruhe dahin? Wenn ich auch nicht mit der großen Gemeinde Sabbat feiern kann, warum sollte es denn nicht in meiner Seele Sabbat sein? Warum bin ich aufgeregt wie ein vom Sturm durchwühltes Meer, und warum toben meine Gedanken in mir wie ein aufrührerischer Volkshaufe? So traurig meine Lage ist, rechtfertigt sie doch nicht, dass ich mich so widerstandslos der Verzweiflung hingebe. Auf, mein Herz! Was soll das Trauern helfen? Zeige dich als Mann, so wirst du aus deiner tiefen Niedergeschlagenheit aufgerichtet werden und aus der quälenden Unruhe zu stillem Frieden kommen. Harre auf Gott! Ob sich auch aus Pandoras Gefäß ein Übel nach dem andern ergießt, bleibt doch die Hoffnung auf dem Boden desselben zurück. Wohl wird das Harren uns ungeduldigen Menschen schwer, aber es bringt köstlichen Gewinn. Gott ist unwandelbar, darum ist seine Gnade der Grund unbeweglicher Hoffnung. Ist es hienieden auch ganz finster, so wird der Tag doch wieder dämmern, und inzwischen blinken am nächtlichen Himmel die Sterne. Die Lampe der Hoffnung ist nicht davon abhängig, dass ihr von außen Öl zugeführt wird; ihr Licht wird durch innerliche Gnadenheimsuchungen Gottes gespeist, die den Mut stets neu beleben. Denn ich werde ihm noch danken. Noch werden meine Seufzer fröhlichen Gesängen weichen, noch meine Klagelieder sich in Triumphgesänge wandeln. Muss ich auch die süße Empfindung der Liebe Gottes gegenwärtig entbehren, so habe ich damit doch die Liebe Gottes selbst nicht verloren; das köstliche Geschmeide ist vorhanden und ist mein, ob es auch nicht auf meiner Brust erglänzt. Die Hoffnung weiß, was ihr als Besitz verbrieft ist, ob sie auch die Urkunde nicht deutlich lesen kann. Sie wartet still und fest auf das verheißene Gut, ob die Vorsehung auch im Augenblick mit leeren Händen vor ihr steht. Dass er mir hilft mit seinem Angesicht.4 Alle Hilfe, alles Heil kommt von dem in Gnaden uns zugewandten göttlichen Angesicht; darum richtet sich des Psalmsängers Hoffnung und Begehren vor allem hierauf. Und im Glauben wird er des gewiss, dass der HERR ihm sein Angesicht noch werde leuchten lassen. Und damit wird alle Not ein Ende haben; das wird, wie nichts anderes, seinen gesunkenen Mut neu beleben, seine hohnlachenden Feinde zuschanden machen und ihm all die Freuden jener heiligen und seligen Tage wiedergeben, die so unauslöschlich in sein Gedächtnis geprägt sind. Gleich dem Lobgesang des Paulus und Silas (Apg. 16,25) zerbricht dieser Vers eiserne Ketten und sprengt eherne Kerkertüren. Wer in mitternächtigen Trübsalsstunden solch heroische Sprache führen kann, dem ist der Sieg gewiss. In dem Garten der Hoffnung wachsen die Lorbeeren künftiger Siege, die Rosen anbrechender Freuden, die Lilien nahenden Friedens.


7. Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir;
darum gedenke ich an dich im Lande am Jordan und Hermonim,
auf dem kleinen Berg.
8. Deine Fluten rauschen daher, dass hie eine Tiefe und da eine
Tiefe brausen;
alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.
9. Der HERR hat des Tages verheißen seine Güte,
und des Nachts singe ich ihm
und bete zu dem Gott meines Lebens.
10. Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mein vergessen?
Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?
11. Es ist als ein Mord in meinen Gebeinen,
dass mich meine Feinde schmähen,
wenn sie täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?
12. Was betrübst du dich, meine Seele
und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,
dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.


7. Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir. Das Lied hebt aufs neue im tiefen Ton an. Ein so liebliches Finale ist es wohl wert, dass der Psalmist um seinetwillen wieder von vorn beginne. Noch dauerte des Sängers Niedergeschlagenheit an, und die Anfälle des Verzagens kehrten wieder; wohlan, so will er nochmals in die Harfe greifen und ihre Macht an sich selber erproben, wie er einst in seinen jungen Tagen ihren Einfluss an Saul beobachtet hatte, als über diesen finstere Schwermut gekommen war. Noch bestimmter beginnt der Gesang beim zweiten Abschnitt mit Gott; auch bemerken wir beim Sänger etwas mehr Ruhe. Sein Sehnen gibt sich nicht mehr, wie V. 2, hörbar und sichtbar kund; sein Kummer hat sich in die Stille des Herzens zurückgezogen. Seine Seele ist niedergebeugt in ihm - und wahrlich, das ist nicht zum Verwundern, solange sich noch immer seine Gedanken mehr einwärts als aufwärts kehren. Wären wir darauf angewiesen, aus uns selber Trost zu schöpfen, wir bekämen wenig genug! Die schwankenden Gedankengebilde unseres Herzens geben keinen gediegenen Grund ab, auf dem wir uns aufrichten könnten. Es ist aber gut, wenn wir dem HERRN sagen, wie es uns ums Herz ist, und je einfältiger dies Bekenntnis ist, desto besser. David spricht wie ein krankes Kind zur Mutter, und wir sollen ihm darin nachahmen lernen. Darum gedenke ich an dich. Wohl uns, wenn wir zu unserm Gott fliehen. Da ist terra firma. Das ist gesegnete Trübsal, die uns antreibt, auf einem so sichern Felsen, wie du, HERR, es bist, Zuflucht zu suchen! In der Auffassung der folgenden Worte gehen die Ausleger weit auseinander. Haben wir (mit Bäthgen) zu übersetzen: Darum gedenke ich an dich fern von dem Land des Jordans und der Hermone, fern von dem kleinen Berge, so dass der Dichter damit das Land Kanaan bezeichnen will, aus dem er vertrieben ist? Ruft er sich so die seligen Zeiten in Erinnerung, da er mit Gott köstliche Gemeinschaft pflegte an dem Strome und auf den Bergen des heiligen Landes, und ganz besonders auf dem "kleinen Berge", dem Zion, wo sich ihm Gottes Liebe in der herrlichsten Weise geoffenbart hatte? Wir tun wohl daran, die auserwählten Gelegenheiten in unserem Gedächtnis zu bewahren, da wir vom HERRN trauter Gemeinschaft gewürdigt worden sind; wir mögen solche Erinnerung bald nötig haben, in Zeiten, wo der HERR uns in die Wüste führt und unser Herz vor Kummer krank ist. Gottes Huld, in vergangenen Tagen erfahren, ist schon manchem Verschmachtenden ein erquickendes Labsal gewesen; gleich einem sanften Lufthauch hat die Erinnerung daran schon manchmal den glimmenden Docht zu heller Flamme entzündet und das zerknickte Rohr aufgerichtet und verbunden. O du Tal Achor (Tal der Trübsal), wie könnt ich dein vergessen? Du bist mir zu einer Pforte der Hoffnung geworden! (Hos. 2,17) Ihr köstlichen Zeiten, ihr seid dahingeschwunden, aber ihr habt ein Licht hinter euch zurückgelassen, das mein gegenwärtiges Dunkel erhellt! Oder müssen wir übersetzen: Darum gedenke ich dein aus dem Lande des Jordans und der Hermonkuppen, vom Berge Mizar (dem kleinen Berge) her, so dass der Dichter damit das Ostjordanland, das Land seiner Verbannung, bezeichnete und sagen wollte, dass er auch von da aus des HERRN gedenke?5 Erklärt er wohl gar hiermit, dass er, Zeit und Ort vergessend, den Jordan so geweiht achte wie die Quelle Siloah, den Hermon so heilig wie den Zion, und selbst jenen unbedeutenden Hügel Mizar so herrlich wie die Berge, welche rings um Jerusalem her sind? Wohl dem, der also singen kann: Wo ich Ihn nur habe, ist mein Vaterland!

8. Eine Flut ruft der andern beim Rauschen deiner Wassergüsse. (Grundtext) Es ist, als reize dein strenges Verhalten gegen mich die ganze Schöpfung auf, mich anzugreifen. Die Fluten des Himmels und der Erde und der unterirdischen Örter6 rufen einander und reizen einander auf in schrecklicher Verschwörung, mir meine Ruhe zu nehmen. Wie sich bei einer Wasserhose die oberen und unteren Fluten die Hand reichen, so schienen sich dem Dichter Himmel und Erde zu vereinigen, um ein Unwetter über ihn zu entladen. Seine Leiden waren ein ununterbrochener überwältigender Schmerz. Woge folgte auf Woge, eine Sturzsee nahm das Getöse der vorhergegangenen auf. Die leiblichen Schmerzen erzeugten seelische Furcht, in sein Herz schlichen sich fanatische Einflüsterungen ein, die mit seinen argwöhnischen Vorahnungen übereinstimmten, und die Donnerschläge der äußeren Trübsale bildeten die erschütternde Begleitung der Klageseufzer seiner inneren Angst. Es war, als sollte seine Seele untergehen in dieser Sintflut von Trübsal, über deren Wogen die göttliche Vorsehung wie eine Wassersäule dahinschritt, deren erschreckende Majestät ihn mit Angst und Entsetzen erfüllte. Der so schwer Heimgesuchte kam sich vor wie eine einsame Barke auf weiter See, um welche ringsum die Wut des Sturmes losbricht, oder wie ein Schiffbrüchiger, der auf zersplittertem Mast dahintreibt und. jeden Augenblick von der wilden Flut verschlungen zu werden erwartet. Alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich. Der Psalmdichter meinte, alle Trübsale, die es nur geben könne, seien mitsamt über ihn hereingebrochen. Aber das war eine Übertreibung seiner aufs höchste erregten Einbildungskraft; denn alle Wasserwogen und Wellen Jehovas sind nie über einen Menschen, außer über unseren Heiland, gegangen. Es gibt Tiefen des Leides, die der HERR in seiner Liebe seinen Kindern unbekannt bleiben lässt. Es ist einem kummervollen Herzen natürlich, sein Leid so grell wie möglich darzustellen; gut, dass sich hintennach herausstellt, dass der HERR in Gnaden nicht, wie wir gefürchtet hatten, gehandelt hat. Aber traurig war die Lage des Psalmisten. Er ist allein auf weiter Flur; atlantische Wogen wälzen sich in ununterbrochener Reihenfolge über sein Haupt, Wasserhosen kommen näher und näher, das ganze Weltmeer ist in Aufruhr wider ihn, der nur noch mühsam mit den sich brechenden und brausenden Wellen kämpft. Nicht wenige von denen, die ein Anrecht auf den Himmel haben, können sich das, was der Psalmsänger hier schildert, lebhaft vergegenwärtigen, weil sie Ähnliches durchgemacht haben. Von derartigen tiefen Erfahrungen wissen allerdings solche nichts, die im geistlichen Leben noch Kindlein sind; desto bekannter sind jene den gereiften Christen, welche mit den tiefen Wassern der Trübsal vertraut geworden sind. Solchen mag es ein Trost sein, daran erinnert zu werden, dass der HERR der Gebieter der Wasserwogen und Wellen ist: deine Wasserwogen, deine. Wellen, sagt David. Von Gott ist jede einzelne derselben gesandt, er leitet sie alle, und sie müssen seine Absichten ausführen. Damit magst auch du dein Herz stillen, liebes Gotteskind.

9. Des Tages entbietet der HERR seine Gnade. (Grundtext) Es ist nie fruchtlos, des HERRN zu gedenken, wie der Psalmdichter es nach V. 7 tat; das ersehen wir aus der getrosten Glaubenssprache dieses Verses. Mag kommen, was will, es wird doch immer ein gewisses geheimes Etwas sein, das alles Bittere versüßt. Gottes Gnade ist ein sicherer Rettungsgurt, der uns in stürmischer See über Wasser hält. Das Tageslicht kann sich in unzeitiges, unheimliches Mitternachtsdunkel verkehren; aber die Liebe Gottes, die von alters her zum ewigen Teil der Auserwählten bestimmt ist, soll diesen nach unverbrüchlichem Recht auch nicht eine Stunde fehlen. Nie wird einem Erben der Gnade ein Tag anbrechen, wo er gänzlich von Gott verlassen wäre. Der HERR herrscht, und als Gebieter entbietet er mit Machtvollkommenheit seine Gnade zum Frommen der Seinen. Und des Nachts. Die beiden Hälften des Tages werden von Gottes sonderlicher Liebe erleuchtet, und kein Unwetter der Trübsal kann dies Licht verdunkeln. Unser Gott ist der Gott unserer Nächte sowohl als unserer Tage; niemand wird je den Israel Gottes unbewacht finden, welche Stunde es immer sein mag. Singe ich ihm. Lieder des Dankes für empfangene Gnaden machen die Düsternis der Nacht heiter. Die Trübsal mag unsre Kerze ausblasen; aber wenn sie unseren Gesang nicht zum Verstummen bringen kann, so wird das Licht bald wieder brennen. Und bete zu dem Gott meines Lebens. Bitte und Dank gehen Hand in Hand. Der lebendige Gott ist der Gott unseres Lebens; von ihm haben wir das Leben erhalten, in seiner Gemeinschaft verbringen wir es in Gebet und Lobpreis, ihm weihen wir es, und in ihm wird es einst seine Vollendung finden. Des gewiss sein, dass beides, unsere Bittseufzer und unsere Loblieder, zu unserm großen Gott dringen, das heißt in der allertraurigsten Lage guten Grund zum Hoffen haben.

10. Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mein vergessen? Es ist dem Glauben unverwehrt, von seinem Gott über die Ursachen seiner Ungnade Aufklärung zu erbitten; ja es ist ihm sogar gestattet, in gewissem Sinne mit Gott zu rechten, nämlich ihn. an seine Verheißungen zu erinnern und zu fragen, warum er diese, dem Anschein nach, nicht erfülle. Suchen wir wirklich beim HERRN Zuflucht und finden wir keine, so ist es an der Zeit, die Frage aufzuwerfen: Warum das? Doch dürfen wir darum unseren Halt nicht fahren lassen; der HERR soll dennoch unser Fels bleiben: mein Fels. An ihn als unsere alleinige Zuversicht müssen wir uns klammern und uns nie unseres Anteils an ihm begeben. Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt? Er, der sich’s gefallen ließ, von seinem Freunde Abraham zur Rede gestellt zu werden (1. Mose 18,23 ff.), erlaubt auch uns, dass wir ihm die Fragen unseres geängsteten Herzens vorlegen, um den Grund seiner Strenge gegen uns zu erfahren. Er kann doch wahrlich kein Vergnügen daran finden, das Angesicht seiner Knechte von Tränen benetzt und verunstaltet zu sehen; ihm kann die Härte, mit der die Feinde sie anfahren, kein Ergötzen gewähren. Es ist unmöglich, dass ihm die Tyrannei, mit der Satan sie quält, eine Lust sein sollte. Warum gibt er sie denn so dem Hohn ihrer Widersacher, die doch auch die seinen sind, preis? Wie kann der starke Gott, der so fest und unveränderlich ist wie ein Fels, auch so hart und unbeweglich sein wie ein Fels gegen die, welche auf ihn trauen? Solch eindringende Fragen, in Demut dem HERRN vorgelegt, erleichtern oft die Seele. Wissen wir die Ursache dessen, was uns solchen Kummer macht, so sind wir auf dem besten Wege, zu erkennen, wie wir dem Leid entfliehen, oder doch wenigstens, wie wir es ertragen mögen. Gerade der Mangel an aufmerksamer Erwägung lässt uns das Unglück oft grauenvoller und hoffnungsloser erscheinen, als es in Wirklichkeit ist. Es erregt unser tiefes Mitleid, wenn einem Menschen ein Glied abgenommen werden muss; doch wenn wir wissen, dass die Operation nötig war, um das Leben zu retten, so freuen wir uns bei der Kunde, dass sie glücklich ausgeführt worden ist. Ebenso wird die Trübsal in dem Maße leichter zu tragen, als sich der Zweck enthüllt, um dessentwillen Gott sie gesandt hat.

11. Es ist als ein Mord7 in meinen Gebeinen, dass mich meine Feinde schmähen. Grausame Spötteleien dringen tiefer als ins Fleisch; es ist dem Psalmdichter, als zerschmetterten ihm seine Feinde durch ihre Hohnreden wie mit Keulenschlägen die Gebeine. Wenn schmähende Vorwürfe nicht töten, so sind sie doch als ein Mord; der Schmerz, den sie verursachen, ist eine wahre Folterpein, und nur schwer heilen solche Wunden. Wenn sie täglich (wörtl.: den ganzen Tag) zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott? Das ist der unbarmherzigste Hieb, den man einem Gotteskind versetzen kann, da er sowohl die Treue des HERRN als den Charakter seines angefeindeten Knechtes angreift. So boshaft waren die Feinde Davids, dass sie diese grausame Frage, sobald sie ihnen eingefallen war, aussprachen, und das nicht einmal, sondern wiederholt, immer und immer wieder Tag um Tag, und zwar gegen David selbst. Wahrlich, das unaufhörliche Gekläff der Hunde, die ihm stets auf den Fersen waren, wäre genug gewesen, ihn wahnsinnig zu machen, und es wäre vielleicht wirklich so weit gekommen, wenn er nicht zum Gebet seine Zuflucht genommen und die Verfolgungen seiner Widersacher als Beweggrund zur Hilfe vor Gott geltend gemacht hätte.

12. Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Der Psalmist hat sich seinen ganzen Kummer wieder vorgeführt, findet aber bei alledem keinen hinreichenden Grund, so unruhig zu sein. Er hat seinen Befürchtungen ins Angesicht geschaut und findet sie nicht so überwältigend, wie sie geschienen hatten, da sie noch im Dunkel verborgen gewesen waren. Harre auf Gott. Lass deinen Anker in diesem sichern Grunde eingesenkt bleiben. Gott ist treu, er ist die Liebe, darum bleibt noch Raum und vernünftiger Grund zum Hoffen. Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. Das ist der gleiche hoffnungsfreudige Ausspruch wie Vers 6, nur dass hier (im überlieferten Text) statt seines Angesichts Hilfe meines Angesichts Hilfe, d. i. die mein Angesicht erheiternde Hilfe, steht und überdies hinzugefügt ist: und mein Gott. Das letztere zeigt, dass der Dichter in seiner Glaubenszuversicht erstarkt ist und nun imstande ist, die hämische Frage: "Wo ist nun dein Gott? " mit kühnem Freimut zu beantworten. Mein Gott ist hier, ja, er ist hier, mich zu erretten. Ich schäme mich nicht, ihn all euren Sticheleien und Schmähreden zum Trotz als meinen Gott zu bekennen, denn er wird mich aus euren Händen erlösen. So führt der Glaube den Kampf zum Sieg. Das betrübteste Angesicht muss noch heiter werden, wo man Gott beim Wort nimmt und seiner Hilfe harrt.


Erläuterungen und Kernworte

Zur Überschrift. Jener Korah, dessen Söhne oder Nachkommen hier genannt sind, ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Levit, welcher den Aufruhr gegen Mose und Aaron in der Wüste ins Werk setzte. (4. Mose 16) Wir finden seine Nachkommen zur Zeit Davids als eine einflussreiche levitische Familie, vorausgesetzt, dass wir in ihnen mit Recht dieselben Leute wie die in 1. Chr. 12,6 erwähnten Korahiter sehen, die es, darin an unsere kriegerischen Bischöfe früherer Zeiten erinnernd, verstanden zu haben scheinen, unter Umständen den priesterlichen Leibrock mit dem Harnisch zu vertauschen, und deren Hand ebensogut das Schwert zu führen wie die Harfe zu spielen geübt war. Zu diesen Korahitern gehörten etliche der Helden, welche sich zu Ziklag um David als ihren Führer scharten. Nach 1. Chr. 9,19 hüteten die Korahiter zur Zeit Davids die Schwellen des heiligen Zeltes, wie schon zu Moses Zeiten ihre Väter im Lager des HERRN des Eingangs gewartet hatten. In 1. Chr. 26,1-19 finden wir zwei Zweige dieser Familie mit den Kindern Merari als Torhüter am Heiligtum, und in Ps. 84, 11 haben wir wahrscheinlich eine Anspielung auf dies ihr Amt. Aber die Söhne Korahs waren auch berühmte Musiker und Sänger; man schlage 1. Chr. 6,16-32 nach, wo Heman, einer der drei großen Sangmeister jener Zeit, als dem Geschlechte Korahs angehörig bezeichnet wird (vergl. 1. Chr. 25). Und noch zu Josaphats Zeiten (2. Chr. 20,19) stand dieselbe Familie im Rufe musikalischer Tüchtigkeit. J. J. Stewart Perowne 1864.
  Ausleger des Mittelalters machen darauf aufmerksam, dass es im Fall der Söhne Korahs, wie sonst oft, der Wille Gottes gewesen sei, gerade da Exempel der Gottseligkeit auszustellen, wo man sie am wenigsten suchen würde. Wer hätte wohl gedacht, dass aus den Nachkommen des Mannes, der sich so freventlich wider Mose und Aaron empört hatte, jene frommen Sänger erstehen würden, deren liebliche Psalmen ein Erbteil der Gemeinde Gottes bis zum Ende der Zeiten sein werden? John Mason Neale 1860.
  Zum ganzen Psalm. Psalm 42 mit seinem Refrain: "Was betrübst du dich, meine Seele?" hat Zwinglis Nachfolger, Antistes Heinrich Bullinger († 17. Sept. 1575), in seinen letzten Schmerzen gebetet; ebenso der alte fromme Pfarrer Aloys Henhöfer und der heldenhafte Admiral Michael de Ruyter (1676), dem eine Kanonenkugel beide Beine zerschmettert hatte. A. von Salis 1902.


V. 2. Ich habe um die Wasserbäche in den großen Wüsten Zentral-Syriens sich ganze Rudel solcher lechzenden Hirsche sammeln sehen, die so vom Durst überwältigt waren, dass man ganz nahe an sie herankommen konnte, ehe sie flohen. W. M. Thomson 1859.
  Unsere Zecher, die ein so großes Vergnügen daran finden, das Wirtshaus zu besuchen, lassen sich’s nicht träumen, dass die Gottseligen noch viel größere Freude am Besuchen des Gotteshauses haben. Aber von solcher heiligen Freude hat Gott schon vor langem durch den Propheten weissagen lassen: "Dieselbigen (die sich zum HERRN getan haben) will ich zu meinem heiligen Berge bringen und will sie erfreuen in meinem Bethause." (Jes. 56,7) Wie weideten sich die Frommen des alten Bundes an den schönen Gottesdiensten des HERRN! Wenn sie sie nur eine kleine Weile entbehren mussten, so verschmachtete ihr Herz vor Sehnsucht. Den armen nach Babel Verbannten kam die Stadt Gottes nie aus dem Sinn. "Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen." Ja sie schätzten die Freuden des Heiligtums über alles: "Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich dein nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein." (Ps. 137,5 f.) In Ps. 84,11 sagt der Psalmdichter: "Tag in deinen Vorhöfen ist besser denn sonst tausend. Ich will lieber der Tür hüten in meines Gottes Hause, denn wohnen in der Gottlosen Hütten." Und der eine große Wunsch Davids war, dass er im Hause des HERRN möge bleiben dürfen sein Leben lang. Zachary Bogan † 1659.
  Sieh, wie der Psalmist, ein bedauernswerter, aus seinem Vaterlande verbannter Mann, sich in diesem großen Leid benimmt - wie verschieden von Themistokles oder Camillus oder andern ähnlichen berühmten Männern, die wie er in der Verbannung leben mussten. Er beklagt sich nicht über die Undankbarkeit seines Landes, über die Bosheit seiner Widersacher oder über das Unglück, das ihn getroffen hat. Nein, nicht Murren, sondern Sehnsucht erfüllt eine Seele, und zwar Sehnsucht nach Gott allein. Nathanael Culverwell 1650.


V. 3. Es war dem Psalmsänger bei seinem Verlangen nach dem Hause Gottes und den Festen des HERRN um Gott zu tun. Nach Gott dürstete seine Seele. Sieh zu, dass du bei deinem Beten, Singen, Predigthören usw. wirklich Gemeinschaft mit Christo genießest, und suche ihn, bis er sich dir offenbart. Bradford, der Märtyrer († 1555), sagte, er könne nicht ablassen, seine Sünden zu bekennen, bis er finde, dass sein Herz wirklich zerknirscht sei, nicht mit Flehen, bis sein Herz von der Schönheit der begehrten Segnungen hingenommen sei, nicht mit Danken, bis sein Herz sich durch das Danken neu belebt fühle, nicht mit irgendeiner gottesdienstlichen Übung, bis sein Herz dadurch in die rechte innere Verfassung gebracht und mit Christo selber in Gemeinschaft getreten sei. So sagt auch Bernhard von Clairvaux († 1153): Nunquam abs te absque te recedam Domine, d. h.: Nie will ich von dir gehen, HERR, ohne dich. Und Augustinus († 430) sagt, er finde an Ciceros feinen Reden nicht mehr (wie früher) Gefallen, weil er Christum nicht in ihnen finden könne. Ja, es ist so, blumenreiche Reden, kunstvolle, aber geistlose Gebete und Predigten sind für eine nach Gott dürstende Seele nicht nährendes Brot, sondern klingende Schellen, und sie lässt sich nicht mit windbeuteligen Phrasen oder den Ohren schmeichelnden, aber nicht von Herzen kommenden und darum nicht zu Herzen gehenden Reden und Gesängen befriedigen. Wenn Christus mit dir redet, dann wird dein Herz dir brennen. (Lk. 24,16.32.) Christopher Neß 1679.
  Nach dem lebendigen Gott. In drei Beziehungen namentlich wird in der Schrift unser Gott der lebendige Gott genannt. Erstens, weil er allein das Leben in sich selber und aus sich selber hat und er somit der Ursprung des Lebens ist. Zweitens, weil er allein aller Kreatur das Leben gibt. Das natürliche, das geistige und das ewige Leben fließt uns aus Gott zu. Drittens wird Gott der lebendige Gott genannt im Gegensatz zu den falschen Göttern. Thomas Horton † 1673.
  Der Psalm lässt uns einen tiefen Blick tun in des Königs Herz. Das erweckt mehr als alles seinen Schmerz, dass er von Gott, dessen Haus und Gemeinde geschieden ist. Vergl. 2. Samuel 15,25: Werde ich Gnade finden vor dem HERRN, so wird er mich wiederholen und wird mich sie (die Lade) sehen lassen und sein Haus. - Nach Prof. Johannes Wichelhaus 1891.
  Ein gottloser Mensch kann nie im Ernst sagen: Wann werde ich hingelangen und vor Gottes Angesicht erscheinen? (Grundtext) denn er wird ja nur zu bald vor Gott treten müssen, ehe er will und ohne dass er es will. Man vergleiche, wie die Dämonen sagten, Christus sei gekommen, sie zu quälen, ehe denn es Zeit sei. Frage einen Dieb oder andern Missetäter, ob er willig vor dem Richter erscheine. Nein, ich versichere dir, mit Willen tritt er nicht vor ihn; er möchte, dass es gar keinen Richter gäbe, vor dem er erscheinen müsste. Und so haben es auch die Weltmenschen in Bezug auf Gott; sie wünschten nichts lieber, als dass sie vor ihm verborgen bleiben könnten. Thomas Horton † 1673.
  Wenn wir in der Kirche gewesen sind, lasst uns uns selber prüfen, was wir dorthin gegangen sind zu sehen. Schöne gottesdienstliche Formen? Oder einen beredten Kanzelredner? Wahrlich, dann wäre es eben so weise (nur ein gut Teil unschuldiger) gewesen, wenn wir in die Wüste hinausgegangen wären, ein Rohr zu sehen, das vom Winde bewegt wird (Lk. 7,24). Können wir wie jene Griechen, die zum Laubhüttenfest nach Jerusalem hinaufgekommen waren, sagen: Wir wollten Jesum gerne sehen? (Joh. 12,21.) Oder wie Absalom (2. Samuel 14,32): Was nützt mich’s, dass ich nach Jerusalem gekommen bin, wenn ich das Angesicht des Königs nicht sehen soll? Es nützt uns in der Tat wenig oder nichts, dass wir zur Kirche gehen, wenn wir nicht Gott dort suchen und vor seinem Angesicht erscheinen. Isaak Watts † 1748.
  Du magst es versuchen, einen hungrigen Säugling mit allerlei Spielzeug und hübschen Sächelchen zu vertrösten; er wird nicht lange damit zufrieden sein, sondern bald wieder nach der Mutterbrust schreien. So geht’s auch, wenn ein Prediger allerlei feine lateinische und griechische Sprüchlein auf die Kanzel bringt oder seine Zuhörer mit wohlklingenden Phrasen und schönen Geschichtchen abspeist; hungrige Seelen lassen sich damit nicht stillen, sie begehren nach der lautern Milch des Worts. Oliver Heywood † 1702.


V.4. Weil man täglich zu mir sagt usw. Sie reden nicht nur über ihn, sondern zu ihm; sie sagen ihm ins Angesicht, dass Gott ihn verlassen habe, als wären sie jeden Augenblick bereit, dies als eine unbestreitbare Tatsache zu erweisen. Jemand hinter seinem Rücken verleumden beweist mehr Gemeinheit, dagegen verraten solch offene Vorwürfe ein größeres Maß von Roheit, Schamlosigkeit und Unverschämtheit; und dieser Untugenden machten sich die Feinde Davids in diesem Fall schuldig. Thomas Horton † 1673.
  Wo ist nun dein Gott? Gotteskinder sind in ihrer Eigenschaft als Menschen empfindlich gegen Verwürfe; aber als Christen finden sie es vor allem unerträglich, wenn das, was sie glauben, und namentlich der Gott, dem sie dienen, und ihr Verhältnis zu ihm die Zielscheibe der Angriffe bilden. Die Lästerer, welche den Psalmisten täglich mit ihren höhnenden Reden quälten, waren nicht so freche Atheisten, dass sie das Dasein Gottes in Zweifel gezogen hätten, wiewohl sie nicht viel besser waren; sie machten dem Knecht des HERRN vielmehr die besondere Verbindung mit Gott, deren er sich rühmte, zum Vorwurf: "Wo ist nun dein Gott? Du wolltest ja einer von Gottes Lieblingen sein; du meintest ja, niemand diene Gott so wie du; du hattest die Frömmigkeit für dich gepachtet, und Gott sollte ganz speziell dein Gott sein. Nun, wie steht’s denn jetzt mit dem, was du vorgegeben hast? Was hast du nun von all deinem Eifer und deiner übertriebenen Frömmigkeit? Was ist es nun mit deinem Gott, mit dem du so geprahlt hast, und in dem du dich so glücklich fühltest, als ob er einzig dein Gott und sonst niemandes Gott wäre?" Solche Stichelreden brauchen die Gottlosen gern gerade gegen die besten Menschen, zumal wenn diese im Elend sind, und wir mögen daraus die Bosheit der Gottlosen recht erkennen; denn es ist ein Zeichen einer ganz vergifteten und fluchwürdigen Gesinnung, wenn man einen redlichen Menschen mit seiner Frömmigkeit aufzieht. Aber was wollten sie damit? Der Zweck war noch schlechter als die Worte selbst. Der Zweck war, seinen Glauben, sein Gottvertrauen zu erschüttern, und das war es, was ihm so nahe ging. Der Teufel weiß gar wohl, dass es verlorene Mühe ist, einen Menschen zu quälen, solange dessen Gemeinschaft mit Gott ungetrübt bleibt. Darum sucht er die beiden zu entzweien, klagt Gott beim Menschen und den Menschen bei Gott an. Er weiß, dass nichts in aller Welt Gott widerstehen kann. Solange wir Gott zu unserer Zuversicht haben, sind alle eine Anläufe vergeblich. Darum sucht er uns von Gott loszubringen. "Wo ist dein Gott?" Mit solcher Frage machte er sich an den Heiland selber. "Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden." (Mt. 4,3) Er wollte ihm Zweifel an seiner Gottessohnschaft einflüstern. Der Satan hat ich einst selbst von Gott losgerissen, und seither geht sein ganzes Bestreben daran, auch andere von Gott zu scheiden, und er hat sogar versucht, zwischen Gott dem Vater und dem Sohn eine Kluft zu machen. So arbeitet er auch darauf hin, die Christen von ihrem Haupte, Christus, zu trennen. O dass uns stets bewusst sei, was er im Sinn hat! Richard Sibbes † 1635.
  In den französischen Religionskriegen verwendeten die fanatisierten Pöbelhaufen und die Henker die Psalmen in ihrer Weise. Im Massacre von Orange rissen sie Blätter aus den Psalmbüchern und steckten sie den Erschlagenen in ihre Wunden. Die Soldaten Montlucs sagten höhnisch ihren Opfern Psalmworte vor, wie: "Wo ist nun dein Gott?", ohne zu merken, unter was für ein Gericht sie sich damit stellten. Psalm 42; 50; waren den Henkern besonders ärgerlich und verhasst. A. von Salis 1902.


V. 5. Wenn ich dessen gedenke. (Grundtext) Der Segen der Gottesdienste ist so groß, dass er auch selbst in der Erinnerung noch eine angefochtene Seele vor Verzweiflung bewahren kann. General-Sup. Bernhard Moll † 1878.
  Die Erinnerung an die Freuden, welche er früher genossen hatte, lockte dem Psalmsänger nur desto heftiger die Tränen hervor. Im Elend vermehrt es unseren Jammer, dass wir einst glücklich gewesen sind. Es hat eine Zeit gegeben, klagt die arme Seele, da mich der Gedanke an Gott mächtig tröstete, weil ich ihn meinen Gott nennen konnte. Solch einen Gott verlieren, der meine Freude und Wonne war, das ist der schlimmste aller meiner Verluste und der schrecklichste aller meiner Schrecken. Einst konnte ich mit Zuversicht zu ihm flehen und mein Herz im Gebet erleichtern; aber jetzt fehlt mir aller Freimut, vor ihn zu treten, ich habe keine Hoffnung, erhört zu werden, und sehe auch keine Wirkung von meinen Gebeten. Es gab eine Zeit, wo ich mit Freuden in dem Worte Gottes lesen, die Verheißungen in meinem Herzen aufspeichern und gleichsam das Gelobte Land als mein Erbe überschauen konnte; aber jetzt wage ich kaum einen Blick in die Bibel zu werfen, aus Furcht, meine eigene Verdammung darin zu lesen. Der Sonntag war mir früher ein Vorgeschmack des Himmels, aber jetzt ist er mir, so gut wie die übrigen Tage, ein trüber, trauriger Tag. Ehemals war Jesu Name meine Wonne, ich "saß unter seinem Schatten" (Hohelied 2,3) und genoss seine Liebe; aber jetzt ist meine Seele gleich den Wüsten Arabiens, ich bin ausgedörrt von brennender Hitze. Einst grünte und blühte ich in den Vorhöfen des HERRN, doch nun ist all meine Frucht versengt und verwelkt. Hätte ich nie das Evangelium gehört, ich hätte nicht so voll Jammers sein können, wie ich es jetzt bin; hätte ich Gott nie gekannt, so wäre meine Lage, so schrecklich sie wäre, doch nicht so entsetzlich wie jetzt. O, dass ich wäre wie in den vorigen Monden, in den Tagen, da Gottes Leuchte mir über meinem Haupte schien! (Hiob 29,2.) Timothy Rogers † 1729.
  Hätte der Psalmist Vater, Mutter, Weib, Kinder, Vermögen, Freiheit, ja sein Leben verlieren müssen, es wäre ihm nicht so nahe gegangen wie diese Entbehrung der Gemeinschaft mit Gott. Henry Smith † 1591.
  Woran unser Herz hängt, das erweist sich auffällig daran, was für Dinge uns Gegenstand sehnsuchtsvollen Gedenkens sind. Henry March 1823.


V. 6. Athanasius der Große († 373) riet einem seiner Freunde, er solle, wenn eine Trübsal über ihn komme, diesen 42. Psalm lesen; es gebe nämlich ebensowohl eine Methode, Gleiches durch Gleiches zu heilen, wie durch das Gegenteil.
  Was betrübst du dich? Man beachte die (auch im Grundtext) aktive Form des Zeitworts, wörtlich: Warum beugst du dich nieder, meine Seele? Daraus mögen wir entnehmen, dass Gottes Kinder durch eigene Schuld zu tief bekümmert sein können. Nicht Gott und nicht der Teufel drückt dich so tief nieder, sondern du selber tust es. Christopher Love † 1651.
  Wann immer dich Kummer niederdrückt, so lege deiner Seele die Frage vor, die der Psalmsänger hier dreimal an sich richtet: Warum betrübst du dich, meine Seele, und warum bist du so unruhig in mir? Ohne Zweifel wird die Seele dir antworten: Meine Schwermut und Unruhe kommt vom Unglauben her. Du magst die Krankheit an dem Heilmittel erkennen, das in den nächstfolgenden Worten angegeben ist: Harre auf Gott. Aller Herzenskummer hat seinen eigentlichen Grund in unserm Unglauben und nicht in der Größe des Unglücks, das uns getroffen hat. Ich rede von solcher Traurigkeit, die die Seele verwüstet; denn die göttliche Traurigkeit hat göttliche Freude zur Gefährtin. Es ist nicht so sehr das Gewicht der Bürde wie der wunde Rücken, was das bedauernswerte Lasttier so quält; so ist es auch wohl nicht der Druck der äußeren Übel, was uns arme Geschöpfe so peinigt und beunruhigt, als vielmehr dies, dass unser Gewissen verwundet und nicht gereinigt und geheilt ist. Matthew Lawrence 1657.
  Bedenke doch nur, meine Seele, in wie vielen Beziehungen du Gottes Walten in deiner Trübsal erkennen kannst. 1) Ist sie etwa über dich gekommen, ohne dass Gott es wusste? Warum bist du denn dann so beunruhigt? Dein Vater weiß um dein Unglück, und er hätte gewiss dessen Lauf gehemmt, wenn das für dich gut gewesen wäre. 2) Ist deine Trübsal ohne Gottes Befehl gekommen? Wenn nicht, warum bist du so unruhig? Es ist der Kelch, den dein Vater dir gibt; willst du ihn nicht trinken? 3) Ist es deines Vaters Wille, dass du leiden sollst, und solltest du dich wider ihn auflehnen wollen? 4) Hat Gott dir etwa mehr Leid auferlegt, als er hätte tun dürfen? Was murrst du denn, als ob er dir unrecht getan hätte? 5) Ist nicht auch diese Führung eine seiner weisen Taten? Wie kannst du deinen törichten Willen über seine unendliche Weisheit stellen? 6) Ist nicht sein Weg ein Weg der Gnade? Wie kommt es denn, dass du darauf stolperst, als ob er voller Steine läge? 7) Ist, was dir begegnet ist, gut? Was haderst du denn mit Gott, als wäre es etwas Böses? 8) Leidest du nicht immer noch weniger als andere Menschen, andere Gotteskinder, ja Gottes eingeborener Sohn selbst gelitten hat? Hast du dann Ursache zur Klage? 9) Leidest du nur nach Verdienst, und sogar weniger, als du verdient hast? Und sollte ein Mensch, dem Gott noch das Leben geschenkt hat, sich darüber beklagen, dass er für seine Sünden gezüchtigt wird? 10) Züchtigt dich der HERR mit Maßen und ist der bittere Trank dir mit Sorgfalt angeordnet von des Arztes Hand, in kleinen Portionen, im genauen Verhältnis zu dem, was du vertragen kannst und zu der Kraft, die er selber dir darreichen will? Warum bist du denn so aufgeregt? Hat deine Züchtigung nur den Zweck, dich von alten Sünden zu reinigen und vor neuen zu bewahren? Und merkst du schon jetzt etwas von ihrer guten Wirkung? Wohlan, dann beruhige dich, sei getrost, Gott wird’s zum rechten Ende führen! John Collinge 1652.
  Und bist du so unruhig in mir, wörtlich: tobst du in mir? Das Wort wird sehr häufig vom Tosen und Wogen der See gebraucht, z. B. Jes. 17,12; Jer. 5,22; 6,23; 51,55; Henry March 1823.
  Harre auf Gott. Macht dich deine Ungeduld in der Trübsal missmutig und quält dich der Geist der Unzufriedenheit, so denke nicht, es sei genug, wenn du dein Herz soweit beschwichtigt hast, dass es nicht mehr mit Gott hadert, sondern ruhe nicht, bis du dein Herz dazu gebracht hast, mit stiller Zuversicht auf Gott zu trauen. Auch der Dichter dieses Psalms tadelte seine Seele nicht nur wegen ihrer Unruhe, sondern forderte sie auch auf, glaubensvoll auf Gottes gewisse Hilfe zu harren. William Gurnall † 1679.
  Eine gewisse Alice Benden saß mit andern um des Glaubens willen in dem Schloss zu Canterbury gefangen, wurde aber nach einiger Zeit auf Befehl des Bischofs in einen tiefen Kerker geworfen, wo keiner ihrer Gesinnungsgenossen zu ihr kommen konnte. Dort saß sie auf ein wenig Stroh, an einer Mauer, die Füße in den Stock geschlossen. Die ihr gereichte Nahrung - ein wenig Brot und Bier - schützte sie nur vor dem Hungertode, und es durfte ihr auch für ihr Geld nicht mehr gereicht werden. Diese traurige Lage drückte sie so nieder, dass sie ihr Elend bitter beweinte und bejammerte und darüber brütete, warum der HERR, ihr Gott, sie doch so schwer heimsuche, und warum er es zugelassen habe, dass man sie der tröstlichen Gemeinschaft ihrer liebevollen Mitgefangenen beraubt habe. In diesem Zustand tiefer Schwermut blieb sie, bis ihr in einer Nacht die Worte des Psalmisten: "Was betrübst du dich usw.; harre auf Gott " und die andern: "Aber doch sprach ich: Ich muss dies alles leiden; die rechte Hand des Höchsten kann alles ändern" in den Sinn kamen, wodurch sie mächtig getröstet wurde mitten in ihrem Elend. Und fortan blieb sie fröhlich, bis die Stunde ihrer Befreiung schlug. Samuel Clarke † 1682.
  Das törichte Vöglein, das in einem Zimmer gefangen ist, dessen Türen und Fenster verschlossen sind, stößt gegen Wände und Scheiben, bricht sich die Federn aus und verletzt sich schwer, während es doch, wenn es nur in Geduld harren wollte, bis man ihm den Ausweg geöffnet hat, unverwundet davonkommen könnte. Gerade so geht es uns; denn wenn der HERR uns einschließt und uns für eine Weile die Freiheit nimmt, wollen wir uns selber den Ausweg bahnen, machen viele Pläne und möchten wohl gar durch die Wände seiner Vorsehung brechen; während wir, wenn wir nur Gottes Zeit abwarten, auf sein Wort bauen und uns seiner Hand überlassen wollten, die Gefangenschaft viel leichter ertragen und mit viel weniger Schaden zu guter Zeit zur Freiheit kommen könnten. Denn Gott ist unwandelbar; was er uns zugesagt hat, das hält er gewiss. John Barlow 1618.
  Denn ich werde ihm noch danken usw. Wenn man sagen kann: "Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank", dann kann man auch sagen: "Die Krankheit ist nicht zum Tode". (Joh. 11,3 f.) Wer hätte, als Jona im Meer war, denken können, dass er noch in Ninive predigen werde? Oder wer hätte von Nebukadnezar, als er in eisernen und ehernen Ketten mit den Tieren auf dem Felde weidete, meinen können, dass er wieder in Babel auf dem Thron sitzen werde? Wer hätte gedacht, als Joseph von seinen Brüdern verkauft wurde, dass diese seine Brüder noch einmal sein Antlitz suchen würden, als ob sie seine Sklaven wären? Wer hätte sich’s träumen lassen, als Hiob auf dem Aschenhaufen saß und sich die Schwären schabte, seine Häuser verbrannt, sein Vieh geraubt, seine Kinder dahingerafft waren, dass er noch einmal reicher werden würde, als er je gewesen? Ja, das sind Wunder der göttlichen Barmherzigkeit, ob denen die Gerechten fröhlich rühmen. Henry Smith † 1591.


V. 7. Mein Gott. Wer wagt es, den Schöpfer der Welt, die erhabene himmlische Majestät, also anzureden? Ein Verbannter, der ruhe- und heimatlos umherirrt, ein Ausgestoßener; ein Mensch, den alle im Stich gelassen haben, alle verachten und schmähen; ein Elender, dessen Seele aufs tiefste niedergedrückt und beunruhigt ist; der wagt es. Und auf Grund welches Rechts? Auf Grund des Bundes. Henry March 1823.
  Darum. Gerade weil meine Seele so bekümmert und verzagt ist, darum will ich deiner gedenken. Ich will dessen gedenken, wie herablassend du dich stets zu den Deinen neigst, wenn sie in Elend und Drangsal sind; wie bereit du stets bist, sie an dein Herz zu drücken, wenn sie von den Menschen im Stich gelassen oder verstoßen sind; wie leutselig und geduldig du ihre Klagen anhörst, wenn sie ihre Seele vor dir ausschütten. Ich will dessen gedenken, wie gütig du gegen mich in vergangenen Zeiten gewesen bist, wie du mein Elend angesehen, auf die Stimme meines Flehens gehört und mich aus der Trübsal errettet oder aber mir Kraft gegeben hast sie zu ertragen. Ich will dessen gedenken, wie oft ich deine Gnadennähe empfunden habe, wenn ich in deinem Heiligtum vor dich trat und dich dort mit deinen Heiligen pries. Ich will gedenken, wer du bist, wie würdig du dessen bist, dass ein Verlassener und Betrübter wie ich auf dich traue. Denn ob ich arm bin, du bist reich; ob ich schwach bin, du bist mächtig; ob ich tief unglücklich bin, du bist der Selige. Und ich will dessen gedenken, dass du mein Gott bist, dass du dich meiner Seele geoffenbart hast, dass du mir Gnade gegeben hast, dich als mein Teil zu erwählen, und dass ich in meinem Vertrauen noch nie zuschanden geworden bin. Ich will gedenken des Wortes der Verheißung, auf welches du mich lässt hoffen und dem du bisher treu gewesen bist und in alle Zukunft gewisslich treu sein wirst. - O glücklich sind mitten in ihrer Unglückseligkeit die Seelen, die in der Anfechtung also zu ihrem Gott Zuflucht nehmen können. Henry March 823.


V. 8. Auch das Schöne, ja Schönste bietet dem Tiefbetrübten Analogien und Bilder für seine trüben Erfahrungen, die seine Betrübnis noch steigern. Prof. Fr. W. Schultz 1888.
  Eine Flut ruft der andern beim Rauschen deiner Wasserfälle. Die wasserreiche Gegend, in der sich der Dichter befand, legte es ihm nahe, dies anschauliche Bild seiner inneren Verfassung zu gebrauchen. Er sah die Wasserfälle sich von den Felsen stürzen, er hörte ihren Widerhall, und es war ihm, als riefen sie einander zur Hilfe auf wider ihn; so, sagt er, gehen auch alle deine Wasserwogen und Wellen, das ist, die Trübsale und Anfechtungen, über mich. John Morison 1829.


V. 9. Einem gottseligen Menschen sind Tag und Nacht gleich. Denn was für eine Nacht kann es für den geben, der Gott allezeit bei sich hat, welcher ihm Sonne und Schild, Licht und Schutz ist und ihm sein Gnadenantlitz leuchten lässt? Er kann sagen: So ich im Finstern sitze, so ist doch der HERR mein Licht (Micha 7,8), und: Der HERR, mein Gott, macht meine Finsternis licht (Ps. 18,29). Ja, die stillen nächtlichen Stunden sind dem Gotteskinde oft besonders lieb, weil es da am ungestörtesten die Gemeinschaft mit seinem Gott genießen kann. Des Nachts ist sein Lied bei mir, sagt der Psalmist hier; sein Lied, nämlich das er mir eingibt8, der Lobgesänge gibt in der Nacht (Hiob 35,10). Fleischlich gesinnte Menschen mögen denken, wir träumten und die Musik und die Gesänge, davon wir reden, seien nichts als Einbildungen eines kranken Hirns; aber wie Petrus am Pfingsttage von denen, auf die der Heilige Geist gekommen war, bezeugte: "Diese sind nicht trunken, wie ihr wähnet," so antworten auch wir: Nein, die Gottseligen sind nicht irre, wie ihr wähnet, und ihre nächtlichen Gesänge sind nicht Ausgeburten einer kranken Fantasie, sondern ein Gnadengeschenk ihres Gottes. Zachary Bogan † 1659.


V. 10. Gott, mein Fels. David war ein Flüchtling, fast ohne Verteidigungsmittel und beständig verfolgt von zahlreichen, mächtigen Feinden. Die Gegend, wo er umherirrte, war gebirgig, und er suchte und fand oft Zuflucht auf den Spitzen jäher Felsen oder in den von der Natur gebildeten Höhlen und Klüften. Da sich ihm so der Begriff der Bergung und der Sicherung gegen Angriffe mit dem des Felsen und der Felsenkluft verbunden hatte, wie natürlich war es da für ihn, Gott als seinen Beschützer seinen Fels (oder hier eigentlich: seinen Hort) zu nennen. - Warum hast du mein vergessen? Der Psalmist meinte nicht, er sei buchstäblich von Gott vergessen und aufgegeben; hatte er doch noch Vertrauen genug zu Gottes Treue, dass er bei ihm Zuflucht suchte und auf seine Gnade hoffte. Die Worte sind zu betrachten als Ausdruck dessen, was er fühlte, nicht als Urteil des Verstandes. Dem Anschein nach und seinem Gefühl nach war er von Gott vergessen. Die fühlbaren und sichtbaren Erweisungen der göttlichen Huld, die sein Herz in früheren Zeiten eben als Beweise dafür, dass Gott seiner gedenke, so erquickt hatten, waren ihm jetzt vorenthalten, gerade jetzt, wo sie ihm wegen seiner bedrängten und verlassenen Lage so besonders notwendig und begehrenswert erschienen; daher kam es, dass es ihm war, als sei er von Gott vergessen und im Stich gelassen. Henry March 1823.


V. 11. Meine Feinde. Der Teufel hat sich noch nicht bekehrt, und er wird sich auch nie zum Guten wenden; denn er ist in unlösbaren Fesseln der Sünde, er kann nicht mehr anders. Er ist, seinem innern Zustand nach, schon in der Hölle, wiewohl er noch eine gewisse Freiheit hat, auf Erden Unheil anzurichten. Solange aber der Teufel nicht gut geworden ist, wird es Gottes Kindern nie an Feinden fehlen. Er wird nie gut werden; darum müssen die Gottseligen dessen gewärtig sein, allezeit Feinde zu haben, solange der Teufel für seine Bosheit in der Welt noch Spielraum hat. Und zwar haben wir uns solcher Feinde zu versehen, die ihre Bosheit nicht verbergen. Das wäre schon etwas, wenn sie ihre Schlechtigkeit nur im Innern ihres Herzens wollten kochen und schäumen lassen; aber wes das Herz voll ist, des wird auch stets der Mund übergehen. Richard Sibbes 1635.
  Täglich, wörtlich: den ganzen Tag. Sieh, wie beharrlich sie sind in ihrer Bosheit. Jeden Tag und den ganzen Tag schmähen und lästern und sticheln sie. Sie beginnen früh am Morgen und halten sich dran, bis es Nacht ist, wie es die echten Schwätzer zu tun pflegen; und sie fangen die Woche damit an und fahren fort, bis mit der neuen Woche die alte Bosheit ihr Werk neu beginnt. Der Psalmist konnte nie mit ihnen in Berührung kommen, ohne dass er solche Reden aus ihrem Munde hören musste. Thomas Horton † 1673.
  So klein die Bremsen sind, jagen sie doch das edle Ross zur Verzweiflung. So litt auch David unter den Sticheleien seiner Feinde. Frederick W. Robertson † 1853.
  Wo ist dein Gott? David hätte eher zu ihnen sagen können: Wo habt ihr eure Augen? Denn wiewohl er vom irdischen Heiligtum verbannt war, hatte Gott doch ein Heiligtum in seiner Seele. (Vergl. Jes. 57,15) Aber diese fleischlich gesinnten Menschen hatten für das Göttliche in David kein Auge, und ebensowenig verstanden sie etwas von den geheimnisvollen Wegen, welche Gott seine Kinder führt. Darum ist ihre unvernünftige Frage ein Zeichen ihrer gottentfremdeten Gesinnung. Richard Sibbes 1635.
  Gott leistet seinen Kindern Gesellschaft, nicht nur, wenn sie in einem wonnigen Paradiese sind, sondern auch in der Wüste. Als einst eine Schar Christen in die Verbannung ging, sagte einer von denen, die dem traurigen Zuge zusahen, die Armen seien doch sehr zu bedauern, dass sie so aus der Gesellschaft der Menschen ausgestoßen und zu Gefährten der Tiere des Feldes gemacht würden. Darauf sagte ein anderer: Allerdings wäre ihre Lage traurig, wenn sie an einen Ort verbannt würden, wo sie ihren Gott nicht finden könnten; aber sie mögen guten Muts sein, denn Gott gehe mit ihnen, und er werde sie seine trostreiche Gegenwart erfahren lassen, wo immer sie seien. Thomas Brooks † 1680.


V. 12. Ahme das Beispiel des Psalmdichters nach, statt dich unnützem Grämen und Grübeln hinzugeben. Fordere deine Seele vor den Richterstuhl deines Geistes und nimm sie über die Ursache ihres Kummers ins Verhör. Sei unparteiisch; es folgt ein anderes, noch ernsteres Gericht. Dringe beharrlich durch, gleich dem Psalmisten, komm immer von neuem auf die Untersuchung zurück. Tu es mit Gebet, es möchten dich sonst die Eigenliebe oder die Täuschungen deines Herzens betrügen. Darum bete zum HERRN: Erforsche du mich, Gott, und erfahre mein Herz. Thomas Brooks † 1680.
  Meines Angesichts Hilfe. Der Plural Hilfen (Grundtext) bezeichnet nicht bloß die vielfachen Hilfserweisungen, sondern auch den Inbegriff der Hilfe. - Das Antlitz ist zwar weder einfache noch dichterische Umschreibung, wohl aber charakteristische Bezeichnung der Person nach ihren sittlichen und vernünftigen Beziehungen, und zwar nicht bloß für Gott gebräuchlich (2. Mose 33,14 u. a.), sondern auch für Menschen (Jes. 3,15). General-Sup. Bernhard Moll † 1878.
  Das Heil des Antlitzes ist das das Antlitz erheiternde. Prof. Fr. W. Schultz 1888.
  Du sahst an einem Februartag die Sonne freundlich scheinen, der Himmel war blau, in den Hecken begannen die Knospen zu schwellen, Schneeglöckchen lachten dich an, die Vöglein sangen im Gebüsch, und du dachtest, der Lenz sei gekommen mit seiner Pracht und seinem Duft. Aber wenige Tage später, da kamen die Wolken wieder, die Luft war frostig kalt, die Vögel schwiegen und Schnee lag auf der Erde - da meintest du, der Frühling werde nimmer kommen. Gerade so ist es auch dem eben bekehrten Christen wonnig zu Mute; all seine Furcht ist dahin, der Trost des Evangeliums erfüllt sein Herz, und Preis und Dank strömen von seinen Lippen. Und da meint er unbedachtsamerweise, dass alle Trübsal und Traurigkeit für immer verschwunden sei. Aber nach einer Weile wird er wieder von Zweifeln angefochten, die Freude weicht, das Licht scheint nicht mehr hell, sein Herz wird von Traurigkeit überwältigt, und er schließt nun eben so voreilig, die Erlösung mit all ihren Segnungen sei nicht für ihn. Aber der Frühling bricht dennoch siegreich durch, ob er auch eine Weile mit dein Winter kämpfen muss. H. G. Salter 1840.


Homiletische Winke

V. 2. Wer die Gnadengegenwart Gottes im öffentlichen Gottesdienst erfahren hat, verlangt, wenn er die Gottesdienste entbehren muss, sehnlich danach, dies Vorrecht wieder zu genießen. Solche Entbehrung kann uns aber sehr segensreich sein, 1) dadurch dass sie uns wieder rechten Hunger nach den Gütern des Hauses Gottes gibt, der so leicht nachlässt; 2) indem sie uns die Gnadenmittel höher schätzen lehrt, denn wir sind nach unserer verderbten Natur so leicht geneigt, die Dinge, so vortrefflich sie an sich sein mögen, weniger zu schätzen, welche uns tagtäglich oder reichlich zuteilwerden oder mit wenig Mühe zu erlangen sind; und 3) indem sie uns unmittelbarer zu Gott treibt. Henry March 1823.
V. 3. Was dürstet? Meine Seele. Wonach dürstet sie? Nach Gott. Wann und wie wird dieser Durst völlig gestillt werden?
  Das Dürsten der Seele nach Gott. Worin ist es begründet? Darin, dass wir zu Gott geschaffen sind. Wodurch wird dieser Durst gemehrt? Durch Entbehrung der Nähe Gottes. Wie herrlich und segensreich dies Dürsten ist.
V. 3b. Die rechte Anschauung vom öffentlichen Gottesdienst.
  Das Erscheinen vor Gottes Angesicht in dieser Zeit und hernach.
V. 4. Des Gläubigen Fastenzeit und Fastenspeise.
  1) Was verursacht dem Psalmdichter solchen Kummer? 2) Was kann diesen Kummer heben? 3) Welchen Nutzen kann er bringen ?
V. 4.11. Das Benehmen der Feinde Davids. Sie schmähten ihn 1) ins Angesicht 2) unaufhörlich 3) in seinem Unglück 4) wegen seiner Frömmigkeit 5) um ihn im Glauben wankend zu machen.
V. 5. Daran will ich gedenken, wie ich dahinzog usw. 1) Es ist natürlich und angemessen, in Zeiten der Trübsal in der Erinnerung an Freuden vergangener Tage Linderung für die Leiden der Gegenwart zu suchen. 2) Unter den Erinnerungen früherer Freuden werden einem Knecht des HERRN diejenigen, welche sich auf die gemeinsame Anbetung Gottes beziehen, stets besonders köstlich sein. Denn 3) der Mensch ist zur Gemeinschaft veranlagt, darum ist ihm die gemeinsame Gottesverehrung zur Stärkung der eigenen Andacht förderlich. Henry March 1823.
  Gute Gesellschaft ist erquickend und segensreich. 1) Sie weckt und übt des Menschen Fähigkeiten. 2) Sie schützt gegen manche Gefahren und beugt der Traurigkeit und vielen Versuchungen vor. 3) Sie bietet Gelegenheit, mehr Gutes zu tun. D. Thomas Horton † 1673.
  Liebliche Erinnerungen und was sie uns zu lehren haben: danken und hoffen.
  Die Wallfahrten der Zionspilger verglichen mit den römischen Wallfahrten alter und neuer Zeit.
  Mit Frohlocken und Danken. Der Gemeindegesang. Man verteidige sein gutes Recht, rühme seine Herrlichkeit, zeige, wie er beschaffen sein soll, und dringe darauf, dass die ganze Gemeinde sich von Herzen daran beteilige.
V. 6. Der Kummer im Verhör.
  1) Auch ein gottseliger Mensch kann in seinem Gemüt ungebührlich bedrückt und beunruhigt sein. 2) In solcher Niedergeschlagenheit und Unruhe ist das richtige Heilmittel dies, dass man sich selbst zur Rede stellt und sich auf die einzige wahre Quelle der Hilfe hinweist. 3) Dies Heilmittel hat dann recht gewirkt, wenn es uns dazu bringt, dass wir uns unmittelbar zu Gott wenden. Henry March 1823.
  Wie schwer und doch köstlich und wie wohlberechtigt und erfolgreich es ist, auf Gott zu harren.
  Zukunftsmusik: Ich werde ihm noch danken.
  Der hilfreiche Beistand des in Gnaden uns zugewandten göttlichen Angesichts.
V. 6.12. Seines Angesichts Hilfe, meines Angesichts Hilfe.
V. 7. Der mannigfaltige Trost, den wir daraus schöpfen können, dass wir Gottes gedenken.
V. 8. Eine Flut ruft der andern. Trübsal um Trübsal. 1) Die Mannigfaltigkeit der Trübsale. 2) Ihre äußere Verbindung: eine kommt mit der andern. 3) Ihr innerer Zusammenhang: eine hat die andere zur Folge. Thomas Horton † 1673.
  Hie eine Tiefe und da eine Tiefe. Die Tiefen, in welche Gottes Kinder hienieden sinken können. 1) Die Tiefe der Versuchung. 2) Die Tiefe der (zeitweiligen und scheinbaren) Gottverlassenheit. 3) Die Tiefe der Trübsal und Verleumdung. Thomas Horton † 1673.
V. 8.9. Die Knechte Gottes unterscheiden sich in Zeiten der Heimsuchung von andern namentlich auch darin, dass sie in ihren Trübsalen die - züchtigende und erhaltende - Hand Gottes wahrnehmen und anerkennen.
V. 9. Gnade bei Tag und Gesang bei Nacht. Gesegneter Wechsel zwischen Lobsingen und Beten.
  Der Gott meines Lebens: Er ist Quelle, Kraft, Schutz, Trost, Ziel und Krone meines Lebens.
  Christen haben ein dreifaches Leben, das natürliche Leben, das neue Leben der Gnade und das zukünftige Leben in der Herrlichkeit; in jeder dieser Beziehungen ist Gott der Gott unsers Lebens. Thomas Horton † 1673.
V. 10. Gott, mein Fels. Die Namen, welche die Beter in der Schrift Gott beilegen, stehen oft in innerer Beziehung zu den besonderen Umständen und Erfahrungen der Betreffenden.
  Des Menschen viele Warum in der Trübsal.
V. 11. Die kränkendste aller Stichelreden.
V. 12. "Das Geheimnis der Gesundheit", Pred. von C. H. Spurgeon, siehe Botschaft des Heils, 1. Band, S. 449. Baptist. Verlag, Kassel.
  Mein Gott. 1) Ein Ausdruck des Glaubens: Mein Gott bist du kraft des Bundes, den du mit mir geschlossen hast. 2) Ein Wort der Huldigung: Du bist mein Gott, dem ich mich völlig unterwerfe. 3) Ein Wort der Liebe: Du bist mein höchstes Gut, mein alles. Thomas Horton † 1673.

Fußnoten

1. Die Überschrift weist wohl ohne Zweifel den Korahiten die Autorschaft zu, wenn sie nicht etwa besagen will, dass der Psalm einem nach den Korahiten benannten Liederbüchlein entnommen sei, ähnlich wie wir Lieder als aus dem Schatz der Brüdergemeinde stammend bezeichnen. Das davidische Gepräge des Psalms erklärt sich Delitzsch aus dem Einfluss des davidischen Geistes auf den Dichter, der des Königs Flucht vor Absalom geteilt habe.

2. Luther bevorzugte, wohl wegen des folg. Akkusativs, die sich in einigen Handschriften findende Lesart h)er:)e. Aber das Schauen Gottes ist im A. T. Hoffnungsgut (Ps. 11,7; 17,15); für die Gegenwart galt 2. Mose 33,20. Es empfiehlt sich daher, bei dem masoretischen Text zu bleiben. Der Akkus. ist dann lokal und der Ausdruck dichterische Abkürzung des gewöhnlich für das festliche Erscheinen im Heiligtum gebrauchten. Diesen siehe z. B. 2. Mose 23,17; 34,23.

3. hlIe)" weist vorwärts auf das Folgende; die beiden Zeitwörter sind einander beigeordnet und optativisch.

4. Wörtlicher: Denn ich werde ihn noch preisen, die Hilfeerweisungen (Mehrzahl) seines (gnadenreichen) Angesichts, d. h. die von demselben ausgehenden. So der überlieferte Text. Wiewohl es die Psalmdichter aber lieben, bei solchen Kehrversen kleine Versänderungen eintreten zu lassen, liegt doch die Annahme nahe, dass hier vor dem den V. 7. beginnenden yhl) am Schluss von V. 6 yhl) ausgefallen sei, wozu dann das w von wynp zu ziehen wäre; dann lauten die drei Kehrverse am Schluss ganz gleich.

5. Dies halten wir für die richtige Übersetzung und Auffassung. Der nun folgende Satz Spurgeons übersieht hingegen, dass der Dichter hier, wie im ganzen Psalm, sein Fernsein von Zion beklagt, sein Gedenken des HERRN also das der Sehnsucht ist.

6. Diese Auslegung beruht auf dem Targum, welches das zweimalige MOhtI: auf die über dem Himmelsgewölbe und unter der Erde befindliche Flut bezieht, so dass das Bild auf eine zweite Sintflut ginge.

7. Buchstäblich: unter Zermalmung in meinen Gebeinen schmähen mich meine Feinde, d. h., es ist dem Psalmisten bei ihrem Hohn, als zermalmten sie damit seine Gebeine.

8. Auch Hengstenberg, Hupfeld und Moll fassen den Ausdruck so, während andere wie Luther Gott als den Gegenstand des Liedes nehmen.