Psalmenkommentar von Charles Haddon Spurgeon

PSALM 82 (Auslegung & Kommentar)


Überschrift

Ein Psalm Asaphs. Asaph, der geistliche Dichter, tritt in diesem Psalm als Prediger vor einem hohen Publikum auf: es sind die Obrigkeiten, die Verwalter des Gerichts, an die er seine Mahnung richtet. Wer eine Sache gut versteht, ist gewöhnlich auch zu einer andern tüchtig: von einem trefflichen Dichter ist es nicht unwahrscheinlich, da er sich zum Prediger eignen würde. Hätte Milton die Kanzel bestiegen oder wäre Virgil ein Apostel gewesen, was für Predigten hätten sie gehalten!
  Was Asaph damals den Richtern predigte, liegt uns nun zur Erwägung vor. Asaph spricht sich in dem Psalm sehr frei und offen aus, und sein Lied zeichnet sich mehr durch Kraft als durch Lieblichkeit aus. Wir haben an dem vorliegenden Beispiel den deutlichen Beweis, dass nicht alle Psalmen und geistlichen Gesänge unmittelbare Lobpreisungen Gottes zu sein brauchen; wir dürfen einander in unseren Liedern auch vermahnen (Kol. 3,16). Asaph nahm um sich her ohne Zweifel viel Bestechlichkeit und Verderbnis in der Rechtspflege wahr, und da er sah, dass David mit dem strafenden Schwert gegen diese Frevel vorging, fasste er den Entschluss, sie mit einem prophetischen Psalm zu geißeln. Indem er das tat, vergaß der Sänger nicht seinen Beruf, dem HERRN zu singen, sondern kam dem nur in einer etwas andern Weise nach. Er pries Gott, indem er die Sünde schalt, welche den Höchsten so verunehrt; und wenn seine Musik diesmal dem Thema entsprechend auch manche Dissonanzen enthielt, so war er doch bemüht, diese zu beschwichtigen und in Wohlklänge aufzulösen, indem er die Regenten und Richter bat, das Recht mit Unparteilichkeit zu handhaben.
  Der Psalm ist ein Ganzes und bedarf daher keiner äußerlichen Einteilung.


Auslegung

1. Gott stehet in der Gemeinde Gottes
und ist Richter unter den Göttern.
2. Wie lange wollt ihr unrecht richten
und die Person der Gottlosen vorziehen? Sela.
3. Schaffet Recht dem Armen und dem Waisen
und helfet dem Elenden und Dürftigen zum Recht.
4. Errettet den Geringen und Armen
und erlöset ihn aus der Gottlosen Gewalt.
5. Aber sie lassen sich nicht sagen und achten’s nicht;
sie gehen immer hin im Finstern; darum müssen alle Grundfesten des Landes wanken.
6. Ich habe wohl gesagt: Ihr seid Götter
und allzumal Kinder des Höchsten;
7. aber ihr werdet sterben wie Menschen
und wie ein Tyrann zugrunde gehen.
8. Gott, mache dich auf und richte den Erdboden;
denn Du bist Erbherr über alle Heiden!


1. Gott stehet da in der Gottesversammlung. (Wörtl.) Während etliche Ausleger, wie z. B. Delitzsch, mit Luther unter der "Gottesversammlung" die Gemeinde Israels verstehen, deuten andre den Ausdruck, indem sie die zweite Vershälfte als dessen Erklärung ansehen, von der von Gott berufenen und geleiteten, ja göttlichen Charakter an sich tragenden, weil mit göttlicher Autorität bekleideten Versammlung der irdischen Gewalthaber, die das obrigkeitliche und besonders das richterliche Amt zu verwalten haben und in dieser Eigenschaft Stellvertreter Gottes auf Erden sind, weshalb sie in der folgenden Zeile Götter genannt werden. Zu dieser Deutung stimmt auch, dass es nicht heißt: Jehovas Versammlung oder Gemeinde, sondern: Versammlung Els, des Allgewaltigen. Er steht mitten unter und über den Königen, Gewaltigen und Richtern der Erde: er überragt sie alle und sieht von seinem nur ihm eigenen erhabenen Standpunkte aus alles, was die Großen der Welt vornehmen. Wenn sie mit den Abzeichen ihrer Würde auf dem Richterstuhl sitzen, so steht er über ihnen, bereit, sie zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie das Recht verkehren. Auch die Richter müssen vor Gericht, und den Rechtsverwaltern gegenüber wird das Recht verwaltet werden. Unsre Richter und Amtleute in Stadt und Land täten gut, sich des bewusst zu bleiben. Ihrer etliche hätten es sehr nötig, bei Asaph in die Schule zu gehen, bis sie sich den vorliegenden Psalm innerlich angeeignet hätten. Die harten Urteile und befremdlichen Rechtssprüche, welche sie fällen, ergehen in der Gegenwart dessen, der sie sicher für jede unziemliche Amtshandlung heimsuchen wird; denn er kennt kein Ansehen der Person und ist der Anwalt der Armen und Unterdrückten. Sogar die Urteilssprüche unsrer unparteiischsten Richter werden von dem höchsten Gerichtshof, dem himmlischen, nachgeprüft werden. Und ist Richter unter den Göttern. Sie, die Richter, sind Götter für andre Menschen, aber er ist GOTT für sie. Er leiht ihnen seinen Namen, und darauf beruht ihre Vollmacht, als Richter aufzutreten; aber sie haben sich wohl zu hüten, dass sie die ihnen anvertraute Gewalt nicht missbrauchen, denn der Richter aller Richter waltet über ihnen seines Amtes. Über all den Gerichten und Rechtsformen der Erde steht das Gericht des Himmels mit seinem allein vollkommenen und unabänderlichen Rechte. Diese erhabene Wahrheit ist im Großen und Ganzen in unseren Tagen bei uns anerkannt; aber nicht immer ist das in den früheren Zeiten der Geschichte unsers (britischen) Vaterlandes der Fall gewesen. Wir brauchen nur an die Tage zu denken, da Jeffreys1 und andre seinesgleichen ein Hohn auf den Namen der Gerechtigkeit waren. Die morgenländischen Richter sind sogar jetzt noch häufig, wenn nicht gar allgemein, für Bestechung empfänglich, und in alten Zeiten wäre es schwierig gewesen, einen Richter zu finden, der einen Begriff von Gerechtigkeit gehabt hätte, abgesehen von seinem eigenen unumschränkten, den Launen unterworfenen Willen. Solch freie Sprache, wie dieser Psalm sie redet, war in der Tat notwendig, und das muss ein kühner und wahrhaft edler Mann gewesen sein, der seinem Herzen in solchen ganz und gar nicht höfischen Worten Luft machte.

2. Wie lange wollt ihr unrecht richten und die Person der Gottlosen vorziehen? Damit wird mittelbar festgestellt, dass die Machthaber ungerecht und bestechlich gewesen waren. Sie hatten nicht nur die Frevler entschuldigt, sondern sogar zu deren Gunsten gegen die Rechtschaffenen entschieden. Auch nur ein wenig davon ist schon zu viel und eine kurze Zeit solchen Regiments schon zu lang. Während gewisse Leute ihre Prozesse ohne Verzug und stets zu ihren Gunsten entschieden bekamen, konnten andre womöglich ihr Leben lang darauf warten, für ihre Klagen Gehör zu bekommen, oder wurden gar mit Hilfe des Gesetzes ausgeplündert, und beides eben, weil ihre Widersacher die Gunst des Richters besaßen. Wie lange sollten solche Frevel noch fort und fort verübt werden? Würden diese Rechtsverdreher denn nie des allerhabenen Richters gedenken, der auch sie zur Rechenschaft ziehen wird, und ihrer Schlechtigkeit entsagen? Dieser Vers ist so gewaltig ernst, dass man versucht ist, auszurufen: Wahrlich, hier ist ein Elia! - Sela. Ihr Missetäter, macht euch dieses Sela zunutze als eine Frist zum Nachdenken und zum Bekennen eurer Sünde!

3. Schaffet Recht dem Armen und dem Waisen. Lasst ab Böses zu tun und lernet Gutes tun! Handelt nicht mehr zugunsten des Reichen, dessen Hand euch Bestechung anbietet, sondern schützet das Recht des Dürftigen und unterstützt besonders die Ansprüche der Vaterlosen, deren Gut so oft eine Beute gewissenloser Habsucht wird! Bedrücket nicht den armen Hüttenbewohner, weil er ein paar Reiser aufgelesen hat, und lasst den vornehmen Betrüger nicht durch die Maschen des Gesetzes schlüpfen! Und helfet dem Elenden und Dürftigen zum Recht! Auch sie können von euch als Richtern nur Gerechtigkeit verlangen, und das Mitleid mit ihrer Lage darf euch nicht verleiten, ungerechtes Maß anzulegen; aber wenn ihr ihnen nicht mehr als ihr Recht widerfahren lasst, so vergewissert euch, dass ihr ihnen das auch ganz und voll gebet. Lasst den Elenden nicht noch tiefer ins Elend kommen dadurch, dass er Unrecht leiden muss, und lasst den Armen, der schon so vieles entbehren muss, nicht auch das vermissen, dass er bei euch für seine Klagen unparteiisches Gehör findet!

4. Errettet den Geringen und Armen und erlöset ihn aus der Gottlosen Gewalt! Zerreißt die Netze der Wucherer und andrer Menschenfänger, die Gesetzesfallen, die Bande und Bürgschaften, mit welchen verschmitzte Menschen solche fangen und in der Gefangenschaft festhalten, die sich in Not und Verlegenheiten befinden! Wie schön ist es, wenn der Richter ein Opfer befreien kann, das wie eine Fliege in einem Spinngewebe gefangen ist, und welch ein schrecklich Ding ist es anderseits, wenn Richter und Räuber miteinander im Bunde sind! Wie oft sind schon die Gesetze in der Hand gewissenloser Leute Waffen der Rache und Raubgier gewesen, Waffen, so lebensgefährlich wie Gift und Dolch! Des Richters Aufgabe ist es, solchen Schurkereien vorzubeugen.

5. Aber sie lassen sich nicht sagen und achten nicht, wörtl.: Sie sind ohne Einsicht und ohne Verstand. Das ist eine schlimme Lage für ein Volk, wenn seine Richter keine Gerechtigkeit kennen und diejenigen, welche urteilen sollen, ohne Urteil sind. Seine Pflicht nicht kennen und nicht kennen wollen, das ist eher das Kennzeichen eines unverbesserlichen Missetäters als eines Vertreters der Obrigkeit, und doch ward dieses Brandmal den Obersten Israels damals mit Fug und Recht aufgedrückt. Sie gehen immer hin im Finstern. Sie sind ebenso sorglos wie unwissend. Obwohl sie aller Einsicht und Gottesfurcht bar sind, wagen sie es, eine Laufbahn zu verfolgen, zu welcher es vor allem der Erkenntnis und der Rechtschaffenheit bedarf. Sie gehen ohne Zögern auf diesem ihrem Wege fort und lassen ganz außer Acht, in welche Verantwortlichkeit sie sich damit verwickeln und welche Strafe sie sich durch ihr Gebaren zuziehen. Darum müssen alle Grundfesten des Landes wanken. Wenn diejenigen, welche berufen sind, das Gesetz zu vollstrecken, der Gerechtigkeit den Abschied gegeben haben, dann löst sich alle Ordnung auf, die menschliche Gesellschaft kommt aus den Angeln, und das ganze Volksgebäude wird in seinen Grundfesten erschüttert. Wenn Ungerechtigkeit auf Grund des Gesetzes gehandhabt wird, dann gerät in der Tat die Welt aus ihrer Bahn. Wenn die Gerechtigkeit der Richter zum höhnenden Sprichwort geworden ist, dann wird es Zeit, dass die Gerechtigkeit mit den Richtern abfahre. Wenn arme Landarbeiter von ihren Gutsherren oder deren Verwaltern noch ungestraft mit der Reitpeitsche bearbeitet werden dürfen und ein schöner Vogel mehr gilt als ein Armer, so müssen in der Tat die Grundfesten des Landes zusammenbrechen wie morsche Säulen, die unfähig sind, das auf ihnen errichtete Gebäude zu tragen. Wir haben, Gott sei Dank, als fast ausnahmslose Regel unbestechliche Richter; möge es stets so bleiben. Selbst unsre untern Behörden bestehen im Allgemeinen aus ehrenwerten Männern, wofür wir Gott wirklich dankbar sein sollten.

6. Ich habe wohl gesagt: Ihr seid Götter. Die größte Ehre ward ihnen damit beigelegt; sie genossen als Bevollmächtigte Gottes für eine kleine Weile etwas von der Machtvollkommenheit, in welcher der HERR unter den Menschenkindern richtet. Und allzumal Kinder (wörtl.: Söhne) des Höchsten. Sie waren das ex officio, kraft der Würde ihres Amtes, nicht ihrer sittlichen oder geistlichen Beschaffenheit nach. Es muss unter den Menschen eine obrigkeitliche Gewalt geben, und da es nicht angeht, dass Engel mit der ständigen Ausübung derselben betraut werden, so lässt Gott Menschen über Ihresgleichen regieren und bestätigt ihr Amt, wenigstens so weit, dass die Schändung desselben eine Schmähung seiner eigenen Hoheitsrechte wird. Die Obrigkeiten hätten kein Recht, Schuldige zu verurteilen, wenn Gott nicht die Einrichtung einer Regierung, die Verwaltung des Gesetzes und die Vollstreckung gesetzmäßiger Urteile gebilligt hätte. Der Heilige Geist spricht an unsrer Stelle sehr ehrenvoll von diesen Ämtern, auch wo er deren Verwalter rügt, und lehrt uns damit, Ehre zu geben, wem Ehre gebührt, Ehre dem Amt, auch wenn wir über den Amtsträger abfällig urteilen müssen.

7. Aber ihr werdet sterben wie Menschen. Welch bitterer Spott! So hoch das Amt jene Leute hob, sie blieben doch Menschen und mussten sterben. Für jeden Richter ist dieser Vers ein Memento mori. Er muss seinen Richterstuhl verlassen, um selber vor die Schranken zu treten, und muss zu diesem Gange den Amtstalar ausziehen und das Sterbekleid anlegen. Und wie der Fürsten einer fallen. (Grundtext) Die sterben gewöhnlich am frühesten; denn Krieg, Aufruhr und Üppigkeit machen unter den Großen mehr Beute als unter den gewöhnlichen Menschen. Gerade wie Fürsten oft durch einen plötzlichen, gewaltsamen Tod hinweggerafft werden, so soll es den Richtern ergehen, die Gerechtigkeit zu üben vergessen. Gewöhnlich achten die Menschen das Amt der Richter hoch und verschwören sich nicht sie zu töten, wie sie Fürsten und Könige morden; aber ungerechte Handhabung der Rechtspflege nimmt dem Richter diesen Schutz und bringt ihn in persönliche Gefahr. Wie furchtbar rasch entkleidet der Tod die Großen ihrer Würde! Wie unerbittlich macht er alle gleich! Er ist zwar kein Lobredner der Freiheit; aber was die Förderung von Gleichheit und Brüderlichkeit betrifft, so ist er ein Demokrat vom reinsten Wasser. Große Männer sterben wie ganz gewöhnliche Leute. Wie dasselbe Blut in ihren Adern rinnt, so bringt auch der Schlag, der ihr Leben ausfließen lässt, dieselben Wehen und Ängste. Kein Stand ist zu hoch für die Pfeile des Todes; er schießt seine Vögel von den höchsten Wipfeln herunter. Es ist Zeit, dass alle sich des bewusst werden.

8. Gott, mache dich auf und richte den Erdboden! Komm, du Richter aller Welt, fordere die schlechten Richter vor die Schranken und mache ihrer Schlechtigkeit und Niederträchtigkeit ein Ende! Darauf steht die wahre Hoffnung der Welt, noch einmal aus den Fesseln aller Tyrannei befreit zu werden. Denn du bist Erbherr über alle Heiden. Die Zeit wird kommen, wo alle Völker ihren Gott anerkennen und ihm als ihrem König huldigen werden. Es gibt einen, der ist König nicht von Gottes Gnaden, sondern kraft göttlichen Rechts, und er rüstet sich zu kommen. Die letzten Tage werden ihn auf dem Throne sehen und alle ungerechten Machthaber zerschmissen wie Töpfergerät von seinem eisernen Zepter. Die zweite Zukunft des Herrn ist die herrlichste Hoffnung der Erde. Komm bald, Amen, ja komm, Herr Jesus!


Erläuterungen und Kernworte

V. 1-4. Diese Verse, ja den ganzen Psalm sollte ein jeglicher Fürst in seine Kammer, an das Bette, über Tisch und auch an seine Kleider malen lassen. Martin Luther 1530.


V. 2. Die Person ansehen. Das ist eine ganz eigentümliche hebräische Redeweise. Wörtlich: das Gesicht jemandes aufheben, mit dem Sinn: den aufs Angesicht Gefallenen aufheben, also jemand in Audienz empfangen, seinen Besuch annehmen. (Daher solche, die das Recht haben, bei Hofe zu erscheinen, mit anderen Worten die Höflinge und Günstlinge der Fürsten, genannt werden, 2. Könige 5,1; Jes. 3,3; 9,14; Hiob 22,8.) Den schlimmen Sinn gewinnt der Ausdruck dadurch, dass ungerechte Fürsten, Richter und dergleichen nach Gunst und Laune die einen mit ihren Anliegen und Klagen vor sich kommen ließen und mit ihnen verhandelten, die andern aber nicht zu sich ließen, und dass sie das Gewähren solcher Besuche von Geschenken abhängig machten, was besonders, wiewohl nicht ausschließlich, bei orientalischen Höfen und Behörden der Fall ist. Nach J. A. Alexander 1850.


V. 3. Man erzählt von König Franz I. von Frankreich, er habe einer Frau, die vor ihm niedergekniet sei, um sich ihr Recht zu erbitten, befohlen aufzustehen und ihr gesagt: "Frau, Gerechtigkeit schulde ich dir und Gerechtigkeit sollst du haben; willst du etwas von mir erbitten, so muss es eine Gnade sein." Das muss ein glückliches Land und Volk gewesen sein, wo Gerechtigkeit (wie es danach scheint) nicht erzwungen werden musste, sondern wie Honig aus der Wabe floss; wo es kein Verkaufen von Ämtern, kein Austauschen von Geschenken, keine klug berechneten Verzögerungen, kein Feilschen um Beschleunigung der Rechtsprechung, keine kleinlichen Quälereien gab; wo die Gerechtigkeit ihre Waage in der Hand hatte, nicht um Gold, sondern um unparteiisches Recht abzuwägen; wo Richter und Amtleute der Arche Noahs gleich bereit waren, müde Täublein aufzunehmen, und den Hörnern des Altars gleich stets eine Zuflucht für die bedrängte Unschuld waren; wo die Rechtsanwälte nicht Böses gut und Gutes böse nannten, wo kein Staatsanwalt aus Bosheit, Neid oder Gewinnsucht Klage führte; wo die untergeordneten Beamten nicht einflussreichen Missetätern aus der Klemme helfen durften und ebensowenig arme Leute, die hilflos in dem Meer der Gesetze wie vom Sturm umhergetrieben werden, mit ihren Rechtssachen, den Hafen in Sicht, verschmachten lassen durften, bloß weil sie dem Zerberus keinen Bissen zur Beschwichtigung vorwarfen und der großen Diana der Gerichtsbeschleunigung kein Opfer brachten; wo man den Spürhunden, den niederträchtigen Angebern keine Gunst entgegenbrachte, sondern im Gegenteil jede falsche, ungerechte oder böswillige Angeberei streng bestrafte; kurz, wo die Behörden und Richter dem Volke Gerechtigkeit schuldig zu sein sich bewusst waren und dieser ihrer Pflicht auch nachkamen; wo die Leute sich nicht ihr Recht erbitten und erhandeln mussten, sondern nur Wohltaten erbaten und auch solche gern erhielten. William Price 1642.


V. 3.4. Der Prüfstein für die Gerechtigkeit der Richter und Amtspersonen sind die Anliegen und Klagesachen der Armen und Waisen, der Elenden und Dürftigen. David Dickson † 1662.


V. 5. Jeder Richter muss zweierlei Salz bei sich haben: das Salz des Wissens und das Salz des Gewissens. Diejenigen, welchen das Erstere gebricht, werden hier gerügt mit den Worten: "sie sind ohne Einsicht und ohne Verstand," diejenigen aber, welchen das Letztere mangelt, werden mit dem Urteil gebrandmarkt: "sie gehen immer hin in Finsternis." - Die Vernachlässigung dieser Pflichten hat zweierlei Gefahren im Gefolge, erstens Gefahren für das ganze Staatswesen: "darum müssen alle Grundfesten des Landen wanken," zweitens Gefahren für die Richter selbst, V. 7: "ihr werdet sterben wie Menschen und wie der Fürsten einer fallen," und nach dem Tode das Gericht, V. 8. - Sie kennen weder Gott, der sie zu Göttern gemacht hat, noch verstehen sie sein Gesetz, das ihres Fußes Leuchte sein sollte. Es gibt eine zwiefache Unwissenheit, eine ignorantia simplex und eine ignorantia affectata: eine Unwissenheit, die auf Flachköpfigkeit beruht, und eine andre, wenn die Menschen so tiefsinnig sind, dass sie nicht erkennen wollen, was recht und vernunftgemäß ist. John Boys 1618.


V. 6. Götter, Söhne des Höchsten. Diese Weise, die bürgerliche Obrigkeit zu benennen, brauchte einem Israeliten nicht allzu kühn zu erscheinen, denn sie war in wohlbekannten Stellen des mosaischen Gesetzes zu finden. Siehe 2. Mose 21,6; 22,8.9.28. Es ist schwer zu entscheiden, ob in diesen eben genannten Stellen das Wort Elohim in unsrer Sprache mit der Einzahl (Gott) oder der Mehrzahl (Götter) wiederzugeben ist, ob z. B. 2. Mose 21,6 zu übersetzen ist: "so bringe ihn sein Herr vor die Götter," oder, wie die Septuaginta umschreibt: "vor den Richterstuhl Gottes." Der Sinn ist aber der gleiche; denn der Ausdruck bezeichnet jedenfalls, dass die Majestät Gottes dem Richteramt innewohnt. Der Höchste hat einen Teil seines Herrscherrechts und seiner Autorität auf die Richter und Obrigkeiten gelegt. Es ist freilich kaum nötig zu sagen, dass diese alte Wahrheit je und je schmählich missbraucht worden ist. Kriecherische Theologen haben daraus oft eine schmeichlerische Salbe für das Ohr der Fürsten bereitet, indem sie sie lehrten, dass sie den Gesetzen keinen Gehorsam schuldig seien, dass sie niemandem außer Gott dafür verantwortlich seien, wie sie ihr Amt führten, und dass jeder Versuch des Volkes, ihre Tyrannei zu zügeln oder sie, wenn alle milderen Mittel fehlschlugen, zu entthronen, Empörung wider Gott sei, dessen Statthalter sie seien. Auch in unsrer Zeit lassen sich gelegentlich solche Lehren auf der Kanzel oder in der Presse vernehmen, und auf diese Weise versuchen Leute es, die Gewissen der Menschen den Launen von Tyrannen zu unterwerfen. Möge es aber wohl beachtet werden, dass Asaphs Harfe diesem "göttlichen Recht der Könige, schlecht zu regieren"2, in keiner Weise Bekräftigung verleiht. Wenn dieser Prophet bezeugt, dass Fürsten Götter sind, so schließt er in diese Ehre den untergeordnetsten Vertreter der Behörde ein. Die Ältesten, die in den Toren des kleinen Bethlehem das Richteramt verwalteten, saßen ebenso wahrheitsgemäß auf Gottes Stuhl wie der König Salomo, der auf elfenbeinernem Thron in der Gerichtshalle zu Jerusalem seine Urteile fällte. Das Sprichwort, dass das göttliche Recht der Könige das göttliche Recht des Polizisten sei, ist eine etwas grobe Art des Ausdrucks für eine biblische Wahrheit. Wenn man dies festhält, wird man die Schrift nicht herbeiziehen, um die Ansprüche von Königen auf eine unumstößliche und verantwortungslose Autorität zu verteidigen. Aber während wir Sorge tragen wollen, das göttliche Recht der bürgerlichen Obrigkeit vor Missbrauch zu schützen, dürfen wir doch dieses Recht an sich nicht vergessen. Die Leute, welche sich an die irdische Obrigkeit um Rechtsschutz wenden, begeben sich damit zu dem Richterstuhle Gottes. Wenn die Obrigkeit keinen Auftrag von Gott bekommen hätte, könnte sie nicht rechtmäßig das Schwert tragen. William Binnie 1870.
  In seiner Schrift über das Königsrecht legt Samuel Rutherford († 1661) an der Hand dieses Psalms dar, dass die Richter nicht die Geschöpfe der Könige sind, dass sie ihre Autorität nicht aus der Macht des Herrschers herleiten und darum auch nicht dessen Willen in sklavischer Unterwürfigkeit zu vollführen haben, sondern dass sie ebenso wie die Könige ihre Vollmacht von Gott unmittelbar haben und darum verpflichtet sind, Gerechtigkeit auszuüben, ob es der König will oder nicht.
  Sohnschaft ist hier eng verbunden mit Königtum und Richteramt. Diese Würden, von ihren Trägern so viel missbraucht, werden in ihrer höchsten idealen Vollkommenheit in dem kommenden König, Richter und Sohn des Höchsten vereinigt sein. Ps. 2,6.7.10-12. A. R. Fausset 1866.
  Das Zerrbild dieses Gottesspruchs ist es, wenn Schmarotzer in niederträchtiger Schmeichelei und Willfährigkeit gegen die Eitelkeit ihrer Herren die Herrscher Götter genannt haben und gewisse Fürsten frevlerisch und gotteslästerlich so genannt zu werden begehrt haben. Joseph Caryl † 1673.


V. 7. Ja auch ihr, die ihr glänzet wie Engel, ihr, die alle Welt bewundert und fußfällig angeht, die gnädige Herren und Exzellenz und Durchlaucht genannt werden, ich will euch zeigen, wie eure Ehre und Herrlichkeit enden wird. Erst werdet ihr alt werden wie andre und krank werden wie andre, dann werdet ihr sterben wie andre und begraben werden wie andre, dann der Verwesung Raub werden wie andre, dann gerichtet werden wie andre, ja wie der Bettler, der an eurer Tür steht und fleht. Der eine wird siech, der andre wird siech, der eine stirbt, der andre stirbt, der eine vermodert, der andre vermodert - schaut ins Grab und sagt mir, welcher der reiche Mann und welcher Lazarus gewesen ist. Henry Smith † 1591.
  Sie sind wirklich Elohim (Götter) von Gottes Gnaden; aber ist ihre Praxis kein Amen zu diesem Namen, so werden sie entkleidet der Majestät, die sie verwirkt, entkleidet der Prärogative (Vorrechte) Israels, dessen Beruf und Bestimmung sie verleugnen: sie sterben hin wie gemeine, durch nichts über die Masse hinausragende Menschen; sie fallen wie irgendeiner der im Lauf der Geschichte durch Gottes Gericht gestürzten Fürsten. Ihr göttliches Amt schützt sie nicht. Denn obwohl justicia civilis (die bürgerliche Gerechtigkeit) noch nicht die Gerechtigkeit ist, die vor Gott gilt, so ist doch injusticia civilis (bürgerliche Ungerechtigkeit) vor ihm der allerschändlichste Gräuel. Prof. Franz Delitzsch † 1890.
  Tyrannen fahren selten im Frieden zu Grabe. Die meisten der Cäsaren fielen durch die Hand des Volkes. Thomas Hall 1659.


V. 7.8. Euer Tag kommt! Die Heiligen erheben laut den Ruf V. 8, sie laden den Messias, den wahren Gott, den Sohn des Höchsten, den allgewaltigen Richter und Herrscher ein, sich aufzumachen und sein Erbe einzunehmen; denn er ist der Erbe aller Dinge, und er wird die schlecht verwaltete Erde richten. Wir lassen dieses Zionslied zu seinen heiligen Ohren aufsteigen und dringen in ihn, eilend zu kommen; und wir singen es einander zu voll froher Hoffnung, während die Grundfesten der Erde wanken, weil es uns hinweist auf den Messias als den wahren Richter der übel regierten Welt Andrew Alexander Bonar 1859.
  Mache dich auf! Das Bild ist daher entlehnt, dass der Richter gewöhnlich sitzt, während er eine Rechtssache untersucht und Verhöre vornimmt, dann aber sich erhebt, wenn er sich anschickt, das Urteil zu fällen. Th. Gataker † 1654.


Homiletische Winke

V. 1. Die Oberherrlichkeit Gottes über die Mächtigsten und Höchsten der Erde. Wie sie sich zeigt und was wir von ihr erwarten dürfen.
  Gottes Gegenwart im Kabinettsrat der Könige und im Senat der Richter.
V. 2. Eine sehr allgemein verbreitete Sünde. Ansehen der Person beeinflusst oft unser Urteil über die Ansichten, Tugenden und Fehler, überhaupt über das ganze Verhalten der Leute. Das bedeutet aber sowohl Ungerechtigkeit gegen andre als auch schwere Schädigung derer, welche wir vorziehen.
V. 3. Ein Wort zugunsten der Waisen und Hilfsbedürftigen.
V. 5.7. 1) Die Eigenschaften gottloser Regenten und Richter: a) Unwissenheit, b) vorsätzliche Blindheit, c) zügellose Schlechtigkeit. 2) Die Folgen für andre: Die Grundfesten a) der persönlichen Sicherheit, b) des gemeinen Wohles, c) des Gedeihens von Handel und Gewerbe, d) der Ruhe des Staates, e) der religiösen Freiheit kommen alle ins Wanken. 3) Die Folgen für sie selbst: V. 7. George Rogers 1874.
V. 5b. Sie gehen immer hin in Finsternis. Eine Beschreibung des Wandels vermessener Sünder.
V. 6. Die Stellen des Alten Testaments, welche die Lehre von der Gottheit Christi im Kern enthalten.
V. 8. 1) Der Aufruf. 2) Die Vorhersagung.

Fußnoten

1. Sir (später Lord) George Jeffreys, oberster Richter des königlichen Gerichtshofs. ein Richter nach dem Herzen seines Herrn, des Königs Jakob II. von England. Die Schlechtigkeit dieses gewaltigen Mannes ist sprichwörtlich geworden. Unzählige Unschuldige fielen seinem Wüten zum Opfer. Für seine Grausamkeit ist bezeichnend der Name einer seiner Sitzungen, der "blutigen Assisen"; für seine Habgier und Blutgier zugleich, dass ein von ihm mit erpresstem Gelde gekauftes Gut im Volksmunde den Namen Hakeldama (Blutacker. Apg. 1,19) führte. - James Millard

2. A. Pope, in dem komisch-satirischen Gedicht The Dunciade (Die Dummheit) 1729.